Die entscheidende Schlacht
Der angekündigte Großangriff der US-Streitkräfte auf Falludscha und Ramadi birgt große Risiken
Seit Wochen wird es ausposaunt: Die nächste "entscheidende Schlacht" im Irak steht an. Eine Großoffensive auf Falludscha und Ramadi, den beiden "Rebellenhochburgen" im sunnitischen Kernland. Neueste Meldungen aus den Marines-Kommandoständen außerhalb von Falludscha sprechen davon, dass der major assault "wahrscheinlich unvermeidlich" ist und der "größte und potenziell der risikoreichste" Angriff seit dem Ende der "Hauptkampfhandlungen" im Mai des letzten Jahres sein wird.
Als politisches Ziel und zur Rechtfertigung für den bevorstehenden Angriff, der militärisch seit Monaten mit beinahe täglichen Bombenabwürfen auf immer neue "Unterschlüpfe" der Sarqawi-Gang in Falludscha vorbereitet wird, erklärt man, dass man Falludscha und das strategisch mindestens ebenso wichtige Ramadi rechtzeitig für die anstehenden Wahlen unter Regierungskontrolle bringen wolle. Doch um welchen Preis?
Ungefähr 100.000 zivile Opfer hat der Irak seit der militärischen Invasion der USA und ihrer Verbündeten zu beklagen. Zu dieser Schätzung kommt eine in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte Studie der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore. Die Hälfte der Opfer sind Frauen und Kinder. Das haben irakische Interviewer, die unter größten Gefahren über 900 Haushalte in 33 repräsentativen Siedlungen/Stadtviertel ("Neighborhoods") im Land befragt haben, ermittelt. Die meisten seien an den Folgen von Bombenangriffen der Koalitionstruppen gestorben. Das Risiko eines gewaltsamen Todes, so die Studie, sei nun im Irak um das 58fache höher als vor dem Einmarsch der Koalitionstruppen.
The risk of death was estimated to be 2·5-fold (95% CI 1·6-4·2) higher after the invasion when compared with the preinvasion period. Two-thirds of all violent deaths were reported in one cluster in the city of Falluja. If we exclude the Falluja data, the risk of death is 1·5-fold (1·1-2·3) higher after the invasion. We estimate that 98000 more deaths than expected (8000-194000) happened after the invasion outside of Falluja and far more if the outlier Falluja cluster is included. The major causes of death before the invasion were myocardial infarction, cerebrovascular accidents, and other chronic disorders whereas after the invasion violence was the primary cause of death. Violent deaths were widespread, reported in 15 of 33 clusters, and were mainly attributed to coalition forces. Most individuals reportedly killed by coalition forces were women and children. The risk of death from violence in the period after the invasion was 58 times higher (95% CI 8·1-419) than in the period before the war.
Am stärksten betroffen ist nach der Studie, die vom Fachmagazin Lancet Medical Journal wegen der Vorabveröffentlichungen der Ergebnisse in den Medien jetzt eiligst ins Netz gestellt wurde, erwartungsgemäß Falludscha, wo die "größte Anzahl der gewaltsamen Todesfälle registriert wurde". Stellt man dieses Ergebnis den Standardsätzen gegenüber, welche den offiziellen Meldungen über Bombenangriffe auf Quartiere der Sarqawi-Terroristen stets notwendigerweise beigefügt werden, wonach die Angriffe mit chirurgischer Präzision geführt worden seien und keine Kenntnis von zivilen Opfern vorliege, öffnet sich eine große Kluft zwischen den Aussagen der derzeitigen amerikanischen Führung und der irakischen Realität. Man führt schließlich nach eigenem Anspruch einen Kampf, um Hearts and Minds der Bevölkerung zu gewinnen und nicht, um die Situation im Land noch zu verschlimmern und annähernd ähnlich hohe Opferzahlen zu erreichen wie der "Massenmörder" Saddam Hussein.
Andere Abgründe offenbaren sich in der politischen Zielsetzung des Angriffs, der Strategie und der eingesetzten militärischen Mittel. Das Dauerbombardement, dem Falludscha seit einigen Monaten ausgesetzt ist, dient augenscheinlich einer Taktik, welche die so genannten "Aufständischen" zermürben soll. Dass dabei auch die Bevölkerung einbezogen wird, ist Teil des brutalen Kalküls. Man will einen Spalt treiben zwischen den Einwohnern und den kämpferischen Banden, von denen mutmaßlich viele aus den Nachbarländern stammen. Wie hoch deren Zahl tatsächlich ist, weiß allerdings niemand ganz genau. Kleriker aus Falludscha, die bei Verhandlungen mit der irakischen Interimsregierung als Verhandlungspartner agieren, wussten letzte Woche noch nicht einmal, ob sich Sarqawi und seine Truppe überhaupt in der Stadt aufhalten. Seine Auslieferung war conditio sine qua non für eine "friedliche Regelung" nach den Bedingungen des irakischen Premiers Allawi.
Das weitere Vorgehen folgt wahrscheinlich dem "bewährten" taktischen Muster: Das Bombardement aus der Luft wird fortgesetzt, der Riegel der Marines, die jetzt schon teilweise in den Vororten der Stadt positioniert sind, wird immer enger geschnürt, einzelne Vorstöße durchgeführt, liliy pad (Seerosenblätter)-Zellen errichtet, von denen weitere Operationen ausgehen, bis die Stadt unter Kontrolle ist, welche dann den irakischen Sicherheitskräften übergeben wird. Die sollten dann die Kontrolle auch über einen längeren Zeitraum halten - anders als die Falludscha-Brigade, die im April als Lösung eingesetzt und bald von den Aufständischen "übernommen" wurde.
Eine ähnliche militärische Eroberungsstrategie haben die Marines bereits im April diesen Jahres in Falludscha versucht und sind an "politischen Interferenzen" gescheitert, weil sich die Öffentlichkeit samt UN-Beobachter über das brutale militärische Vorgehen entrüstet hat. Das Weiße Haus reagierte mit einem Rückzug der Marines. Auch der Showdown im "Tal des Friedens" in Nadschaf im August diesen Jahres, ebenfalls als entscheidende Schlacht ausgerufen, entwickelte sich zu keinem militärischen Sieg der Allianz zwischen Allawis Sicherheitskräften und den amerikanischen Truppen: Es gab durch die Intervention des starken Mannes, Ali Sistani, eine politische Lösung (vgl. Verdeckte Ziele), in deren Folge das aufrührerische Böse, das man endgültig besiegen wollte, nahezu unbeschadet weiter agieren konnte.
Auch der jetzige Versuch der militärischen Eroberung Falludschas birgt für die USA wie für die irakische Interimsregierung ein hohes politisches Risiko. Zum einen könnte die weltweite Entrüstung über die Opfer, welche die Operation wahrscheinlich fordern wird - nicht alle Einwohner haben den Ort verlassen - , erneut dazu führen, dass der militärische Vormarsch aus politischen Gründen gestoppt werden muss, ehe die vollständige Kontrolle über die Stadt gewonnen wird - mit der bekannten Folge, dass die "Aufständischen" eher bestärkt als besiegt worden sind. Zum anderen - und das ist für die große Zielvorgabe entscheidend - kann der militärische Angriff auf die mehrheitlich sunnitische Stadt dafür sorgen, dass der drohende Wahlboykott der Sunniten, bislang nur von der einflussreichen Organisation Association of Muslim Scholars ausgesprochen, politische Wirklichkeit wird. Man würde, was die Wahl im Januar angeht, folglich vom Regen in die Traufe kommen.