Showdown im "Tal des Friedens"

Irak: Gibt es nach dem sunnitischen Dreieck künftig auch ein schiitisches?

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Keiner, der diesem Showdown das alles Entscheidende abspricht. Seit mehr als einer Woche kämpfen amerikanische und irakische Verbände gegen die schiitische Miliz von Muqtada as-Sadr (vgl. Der Punk unter den irakischen Schiitenführern). Hauptschauplatz sind heilige Stätten der Schiiten in Nadschaf; längst sind jedoch auch andere Orte im Süden des Landes, vor allem Basra und Kut, und schiitische Stadtviertel in Bagdad (vgl. Die Stadt im Krieg) in eine Auseinandersetzung miteinbezogen, die das beträchtliche Risiko in sich trägt, zu einem Massenaufstand auszuwachsen. Die Allianz aus amerikanischen und irakischen Verbänden hat einen schnellen Sieg nötig, doch das endgame scheint sich in einer katastrophalen Belagerungssituation vor dem Imam-Ali-Schrein festzuzurren.

Ob die Nachricht, dass Muqtada as-Sadr mehrfach verwundet sei, wenn auch nicht lebensgefährlich, als Erfolgsmeldung für die Belagerer verbucht werden kann, ist mehr als zweifelhaft.

"Handelt weise, lasst euch von keinen Emotionen unterkriegen", soll er seinen Anhängern geraten haben. Mehrfach hat as-Sadr betont, dass er den Märtyrertod nicht scheut und dies seine Anhänger nicht davon abhalten soll, bis zum "letzten Blutstropfen" weiterzukämpfen. Muqtada und seine Armee sehen sich – zusammen mit den "Aufständischen" in Falludscha und anderen quasiautonomen sunnitischen Enklaven - als einzig aufrechtes und integres Gegenüber der "terroristischen" Besatzungsmacht und ihrer "korrupten" Kollaborateure in der "nichtirakischen" Regierung.

as-Sadr - Symbolfigur für den Widerstand gegen die Besatzer

Aus seiner Abneigung gegen die Amerikaner hat as-Sadr nie ein Hehl gemacht. Dass er sich anders als die geistlichen Köpfe der Schiiten, etwa Baqir al-Hakim (vgl. Der Ayatollah, der von einem freien Irak träumte) von SCIRI, der im letzten Sommer bei einem Anschlag ums Leben kam oder al-Khoei, an dessen Ermordung im April 2002 Muqtada beteiligt gewesen sein soll (der Haftbefehl aus dieser Angelegenheit war die offizielle Legitimation für das Vorgehen gegen Muqtada im April dieses Jahres und ist es jetzt auch) oder gar Ali Sistani (vgl. Bremer und der Ayatollah) immer gegen jede Mitarbeit und Verständigung mit der verhassten Besatzungsmacht ausgesprochen hat, darauf beruht seine immense Popularität (im letzten Jahr bei über 68% laut einer Umfrage von Bremers CPA) nicht nur unter den irakischen Schiiten.

Dazu kommt, dass seine al-Mahdi-Truppe - ähnlich wie die Hamas in den palästinensischen Gebieten – in Sadr-City und anderen von ihm kontrollierten Zonen - nicht nur Polizeiaufgaben (und mit harten Mitteln für die Durchsetzung einer islamisch korrekten Lebensweise sorgt), sondern auch soziale Dienste übernommen hat. Auch ein toter oder kampfunfähiger Muqtada wäre also kein guter "Indianer" für die Amerikaner und Allawi. Das aufrührerische Potential und das Ideal eines freien, unabhängigen, islamischen Irak, das längst mit seiner Person verbunden ist, würde den Abkömmling einer traditionsreichen, hoch angesehenen geistlichen Familie (sein Urgroßvater war einer der Führer der Aufstände 1920 gegen die britische Besatzung) wahrscheinlich überleben.

Wie immer man es dreht und wendet, ein entscheidender Sieg über die "Achse der Aufständischen" im Irak scheint immer weniger möglich. Die Initiative zu diesem all over war gegen die Sadristen kam von den Amerikanern. Zunächst wurden Armeeverbände in Nadschaf gegen Marines ausgetauscht, dann provozierten Patrouillen der Amerikaner, die mit irakischen Polizisten vor dem Haus Muqtadas auftauchten, den Hitzkopf. Bei der zweiten Patrouille kam es bereits zu Gefechten mit Todesopfern auf beiden Seiten. Irakische Polizisten nahmen, unterstützt von den Marines, einige Al-Mahdi-Soldaten fest. Die Miliz reagierte ihrerseits mit Attacken auf eine irakische Polizeistation und nahm Polizisten als Geiseln. Die ohnehin fragile Koexistenz zwischen Muqtadas Anhängern in Nadschaf und den irakischen Behörden war vorbei, der Waffenstillstand (seit April) gebrochen. Seit dem 5.August liefern sich Infanteristen der Marines, unterstützt von Raketen bewaffneten Hubschraubern aus der Luft, irakische Verbände und die al-Mahdi-Armee blutige Kämpfe im "Tal des Friedens (Wadi as-Salam)", dem weithin berühmten Friedhof von Nadschaf.

Erfolgsmeldungen aus dem Irak bitter nötig

Anderthalb Jahre nach dem Beginn der Operation "Iraqi Freedom" stehen amerikanische Verbände in ihrem Feldzug, der dazu ausersehen war, das Land von einem blutrünstigen Diktatoren befreien, und Hearts and Minds der irakischen Bevölkerung - und nicht zuletzt der unterdrückten Mehrheit, der Schiiten - zu gewinnen, inmitten zerschossener Grabsteine des wichtigsten schiitischen Friedhofs, einige Hundert Meter entfernt vom Schrein des Urvaters aller Schiiten entfernt, von Kopf bis Fuß schwer bewaffnet und dem äußeren Anschein nach, kurz davor, das heiligste Heiligtum www.boston.com/news/world/middleeast/articles/2004/08/13/mosque_houses_centuries_of_shi146ite_faith_and_history/ zu stürmen. Was für ein makabres Bild, das so schnell von keiner Public Diplomacy-Anstrengung (vgl. Die Wahrheit im Morgenland) mehr korrigiert werden kann und vermutlich künftig als weiterer Legitimationsausweis von Terroristen benutzt werden wird.

Dabei, so legen es zumindest Kommentatoren nahe, hat die Bush-Regierung den Show-Down angezettelt, um daraus einen wahlkampfförderlichen Imagegewinn zu ziehen. Die Hartgesottenen hoffen, mit einem schnellen Sieg über die al-Mahdi-Rebellen, das Image des erfolgreichen Kämpfers Bush rechtzeitig vor dem Parteitag der Republikaner aufzupeppen. Man dachte wohl, dass die schlechter organisierte und bei weitem schlechter bewaffnete Armee gegen die Elitetruppe der Marines keine Chance hätte. Nachdem sich seit den Aufständen im April immer mehr Städte im sunnitischen Dreieck der amerikanischen Kontrolle entzogen hatten, worüber die Presse nach der Machtübergabe kaum mehr berichtete (vgl. Sollen wir das sofort abbrechen und davon laufen?), fürchtete man eine ähnliche Entwicklung im Süden des Landes.

Ein gut getimter Sieg im Handstreich über Muqtada würde Bush und die amerikafreundliche Interimsregierung mit der allzu nötigen Erfolgsmeldung aus dem Irak versorgen. Dafür ließen sich beide auf ein hochriskantes "Endspiel" ein. Dass man derartige Risiken eingeht, lässt allerdings vermuten, dass man mittlerweile auch in der Bush-Mannschaft ein Wissen davon hat, wie verzweifelt die Lage im Irak für die Amerikaner und die Allawi-Regierung tatsächlich ist. Gut möglich, dass nach dem "sunnitischen Dreieck" bald ein schiitisches entstehen wird.

Muqtada as-Sadr

Die Unruhen in Kut, Kufa, Kerbela, Amara, Basra und vor allem in schiitischen Armenvierteln in Bagdad, wie Sadr-City, sprechen eine deutliche Sprache. Mittlerweile gibt es sogar Sezessionsbestrebungen einiger "Gouvernate" im Süden des Irak. Zweige der weit verstreuten al-Mahdi-Armee drohten wiederholt, die Ölproduktion im Süden lahmzulegen, was den Ölpreis augenscheinlich schon in die Höhe getrieben hat. Mehr und mehr Politiker im Irak rücken von den Amerikanern und der Allawi-Regierung ab und verurteilen das "brutale" Vorgehen in Nadschaf, an prominentester Stelle der Vizepräsident Ibrahim al-Jaafari, Führer der schiitischen Ad-Dawa-Partei, dem bei den Wahlen, die für nächstes Jahr angesetzt sind, viele Stimmen prophezeit werden.

Selbst ein Sieg der amerikanischen-irakischen Verbündeten gegen Muqtada kann diese verfahrene Situation vermutlich kaum mehr zum Bessern wenden, denn auch daraus zöge die Opposition nur weitere Kraft und Motivation. Wie es aussieht, können die Amerikaner zumindest den Krieg um Hearts and Minds der Iraker nicht mehr gewinnen.