Die Geschichte von Zai, Toby und anderen Internetpionieren
"Leaving Reality Behind" - das Motto der Internetstreetgang etoy wird zum Buchtitel
Nach Preisen und Auszeichnungen en masse für ihre Interventionen als "erste Streetgang auf dem Datenhighway" widerfährt etoy nun die Ehre einer Buchveröffentlichung zu ihrer Geschichte. Die Netzkunsttruppe indes zeigt wenig Freude an der Veröffentlichung: Paparazzi - gemeint sind die Autorin und der Autor - hätten mit dem Werk ihren Ruhm besudelt. Die Lektüre zeigt allerdings das Gegenteil. Erst die schonungslos offene Darstellung des Innenlebens von etoy ermöglicht für Außenstehende eine Annäherung an die Genialität der Gruppe.
Es sind nicht mehr die großen Schlagzeilen, die etoy mit ihren künstlerischen Interventionen produzieren - Digital Hijack und Toywar sind Geschichte (Wie die Etoy-Kampagne geführt wurde). Der ideale Moment, so scheint es, um einen Blick zurück in die Vergangenheit der Internetpioniere zu werfen. Gewagt haben dieses Unterfangen die Schweizer Historikerin und TV-Produzentin Regula Bochsler und der Englische Journalist Adam Wishart. Herausgekommen ist der Band Leaving Reality Behind: Inside the Battles for the Soul of the Internet.
Bochsler und Wishart legen anhand von Interviews mit sämtlichen sieben historischen Mitgliedern von etoy (die Gruppe hat sich inzwischen neu formiert) die Binnenstruktur der Netzkunsttruppe offen. Es sind durchaus Intimitäten, die da ausgebreitet werden. Der Mythos, den etoy während ihrer Hochzeit in den späten 90er Jahren schon fast kleinlich hegte und pflegte, wird dank der Recherchen der AutorInnen bis zu einem gewissen Grad entlarvt. Dies mag auch der Grund für die geharnischten Reaktionen von drei der sieben etoy-Gründungmitglieder sein - allen voran Michel Zai, bekannt als etoy.AGENT Zai -, die "Leaving Reality Behing" mit beißender Kritik eindeckten, nicht davor zurückschreckten die BuchautorInnen zu verklagen und erfolglos eine vorsorgliche Maßnahme gegen die Buchveröffentlichung zu erwirken versuchten (Erfolglose Netzkrieger).
Das juristische und emotionale Geplänkel im Vorfeld der Veröffentlichung von "Leaving Reality Behind" lenkt von den eigentlichen Stärken des Buches ab, die einerseits in der Dramaturgie, andererseits in der Akribie der Recherche liegen. Neben den sieben etoy-"Agenten" wird die zweite Hauptrolle Toby Lenk, Gründer und CEO von eToys, zuteil. Wussten die beiden Protagonisten beim Start ihrer Unternehmen noch nicht, dass sie dereinst im Streit um den Domain-Namen etoy.com mehr miteinander zu tun kriegen würden, als ihnen lieb war, so lassen sich im Rückblick die Parallelitäten der beiden Internetpioniere schön nachzeichnen und gegeneinander montieren.
Diese Darstellungsweise wird begünstigt durch die Tatsache, dass sowohl etoy als auch der eToys-CEO Toby Lenk einmal die Rolle des unterlegenen, aber cleveren David spielen, um bald darauf mit Geld oder Ruhm ausgestattet als Goliath zu protzen. Neben diesem roten Faden bewegen sich die Autoren ziemlich frei in der Geschichte des frühen WWW. Damit zum Beispiel auch einem Laien verständlich wird, wie etoy den Digital Hijack - die virtuelle Entführung von Tausenden von ahnungslosen SurferInnen - arrangieren konnte, liest man eine ausführliche Beschreibung der Funktionsweise und Geschichte von Suchmaschinen. Hier wird deutlich, dass die Gratwanderung zwischen Sachbuch und Thriller ein nicht immer ganz einfach zu bewältigendes Unterfangen ist. Die "Thriller-Version" wird durch das Auftreten der Protagonisten begünstigt: Eine verschworene Gruppe junger Männer, die eben das junge Medium Internet als das "ihre" entdeckt haben, auf der Suche nach Weltruhm und dem ultimativen Kick. Wer aber mit hypertextualen Strukturen vertraut ist, kann das Buch entlang individueller Vorlieben lesen und jene Kapitel auslassen, die für das ultimative Thriller- oder das faktenorientierte Sachbuch-Feeling hinderlich erscheinen.
Wer die Interventionen von etoy in den vergangenen knapp zehn Jahren als Betrachter verfolgt hat, erfährt nun erstmals im O-Ton der Akteure, dass es kein Zuckerschlecken war und jeder der sieben "Agenten" um der Marke etoy Willen psychisch und physisch an seine Grenzen ging. Die mit dem uniformen und uniformierten Auftreten nach Außen vermittelte Einheit, mit der interne Spannungen übertüncht wurden, bröckelte mehr als nur einmal, bis die "Glorreichen Sieben des Internet" schließlich nichts mehr vor ihrer Auflösung bewahrte. Eine Abrechnung ist die Publikation trotz der Darstellung dieser Prozesse in keiner Weise, obwohl die etoy-Agenten Zai, Kubli und Gramazio dies so sehen. Im Gegenteil: Das Buch ist eine Hommage an die jungen Netzkunstpioniere aus der Schweiz.
Adam Wishart, Regula Bochsler: "Leaving Reality Behind: Inside the Battles for the Soul of the Internet", Fourth Estate, London, 365 Seiten, Preis ca. 30 Euro.