"Die Gewalt ist in den Banlieues zur Routine geworden"
Seite 2: "Die Banden haben die Werte des Kapitalismus internalisiert"
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Soziologen wie etwa Fabien Jobard vertreten die These, Angriffe gegen Schulen seien politische Akte, da Schulen den Staat und das Politische repräsentierten…
Stefan Zenklusen: Dem muss entgegengehalten werden: Die Banden, die das Geschehen in den Banlieues bestimmen, stellen keine subversive Gegenwelt dar. Sie haben ganz im Gegenteil die Werte des Kapitalismus auf prononcierte Weise internalisiert.
Bemerkenswert ist das Beispiel der Gewaltausbrüche in Villeneuve bei Grenoble im Jahre 2010. Es handelte sich um schwere Aufstände, bei denen sogar eine Eliteeinheit der Polizei überfordert wurde. Sie brachen aus, nachdem ein Mitglied eines Überfallkommandos nach einer Verfolgungsjagd und einem Schusswechsel mit der Polizei getötet wurde.
Befasst man sich mit diesem Quartier, entdeckt man, dass es sich keinesfalls um ein ghettoähnliches Gebilde handelt. Das Quartier umfasst 11.000 Einwohner und ist sozial und ethnisch durchmischter als die klassischen Problemquartiere in den Banlieues. Die Infrastruktur umfasst das Mehrfache dessen, was selbst in deutschen Siedlungen üblich wäre. Das Quartier ist mit dem Tram gut an das Zentrum angebunden.
Kurz: Weder geographisch, noch von der sozialen Heterogenität her, noch was die Wohnbedingungen anbelangt, noch infrastrukturell scheint dieses Gebiet benachteiligt zu sein. Die Hypothese der Machtdemonstration scheint hier am plausibelsten zu sein: Die herrschenden Banden haben nach außen und gegenüber den Mitbewohnern unmissverständlich klargemacht, wer das Macht- und Gewaltmonopol innehat.
Gefragt werden müsste auch, ob gewisse Gewaltformen in den Banlieues nicht in den Bereich der von Bataille herausgearbeiteten, gänzlich zweckfreien "Souveränität" gehört, also ein im weitesten Sinn zielloses Spiel, ein Exzess, eine Verausgabung ist, die jenseits jeder Objektgerichtetheit oder Rationalität verbleibt.
Auffällig in Frankreich ist auf jeden Fall, dass die diskursbestimmenden wissenschaftlichen und medialen Institutionen, die sich mit den Banlieues auseinandersetzen, jahrzehntelang fast ausschließlich sozioökonomische Herangehensweisen zuließen.
"Verstärkung des patriarchalischen Drucks"
Sie schreiben, dass die gesellschaftlichen Strukturen in den Banlieues nicht anomisch-anarchisch, sondern hierarchisch-patriarchalisch-sozialdarwinistisch geprägt sind. Wie begründen Sie das?
Stefan Zenklusen: Tendenzen der Anomie vermählen sich mit lebensfeindlichen, extrem engen sozialen Strukturierungen. Der Banlieueforscher Hugues Lagrange unterscheidet bei den Vätern aus dem Maghreb oder der Sahelzone zwischen der Statusautorität und der an Kompetenzen gebunden Autorität. Diese Väter verlieren, wenn sie sich im Koordinatensystem des Aufnahmelands nicht zurechtfinden, häufig an letztgenannter Autorität innerhalb der Familie.
Soziologen haben deshalb auf einen anomischen Zustand der "abwesenden Väter" geschlossen. Doch in den Augen Lagranges kompensieren diese Väter das Manko durch eine Verstärkung des patriarchalischen Drucks, der insbesondere zu einer Verminderung des Status der Frauen führt.
Zu solchen Mechanismen gesellen sich unterschiedlichste Formen der identitären schwarzen oder muslimischen Bewusstwerdung und natürlich die seit den 90ern zu beobachtende Reislamisierung. Dies ergibt ein Amalgam, das den Druck der normativen Strukturiertheit nicht schwächt, sondern stärkt.
"Der Patriarchalismus ist stärker als in den Ursprungsländern"
Sie behaupten, dass sich in den Banlieues keine Fremden und erst recht keine Frauen mit Röcken und als solche erkennbare Juden hineinwagen sollten. Wie begründen Sie das?
Stefan Zenklusen: Was die Auswärtigen anbelangt, so gilt dies erst nach Einbruch der Dunkelheit. Frauen und Mädchen sind in einer schwierigen Situation, weil, wie erwähnt, der Patriarchalismus in diesen Gebieten häufig noch stärker als in den Ursprungsländern der Bewohner ist. Der Antisemitismus hängt stark mit der (Re)Islamisierung zusammen.
Viele Quartiere sind inzwischen sozusagen "judenfrei" geworden. Der Linken, die diese Entwicklung nicht selten verharmlost oder sogar legitimiert, müsste es zu denken geben, dass sie nicht etwa in den Gemeinden des Front National vorzufinden ist, sondern in den Départements, die von Linken regiert werden.
In Teil 2 des Interviews setzt sich Stefan Zenklusen mit dem sozialwissenschaftlichen Islam-Diskurs auseinander.
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