Die Herkunftsstaaten der in Deutschland lebenden Ausländer

Seite 4: Die politischen Herausforderungen

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Was lässt sich nach dieser langen und doch verkürzten Zusammenstellung von Fakten zu den anfangs aufgeworfenen Fragen sagen? Deutschland erfährt seit 63 Jahren unter dem Strich in den meisten Jahren eine Netto-Zuwanderung von Ausländern. Allerdings lag sie in zehn Jahren (16%) im Minusbereich. Als Resultat ist der Bevölkerungsanteil der Ausländer kontinuierlich auf mittlerweile rd. 10 Mio. gestiegen, womit er 12% der Bevölkerung ausmacht. Unter Berücksichtigung der Nachkommen, zwischenzeitlichen Einbürgerungen etc. ist der Personenkreis mit Migrationshintergrund auf 18,6 Mio. angewachsen. Deren Anteil liegt dann bei 23%.

Man kann aber auch anders gewendet sagen, dass 88% der in Deutschland Lebenden keine Ausländer sind bzw. immerhin 77% keine Personen mit Migrationshintergrund. Das sind beachtliche Größenordnungen, die eine Überfremdung als dominant prägendes Merkmal - zumindest als Zahl und generalisierend auf "die" Bevölkerung bezogen - nicht nahelegen.

Andererseits ist aber in die Betrachtung auch einzustellen, dass sich viele der hier lebenden Migranten insbesondere in großen Städten und dort wiederum in bestimmten Stadtteilen konzentrieren. In Bremen oder Berlin beispielsweise beträgt der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund 29% bzw. 28%. Geht man realistischer Weise davon aus, dass sich diese dort wiederum schwerpunktmäßig nur auf einige Stadtteile verteilen, ist das Erreichen der 50%-Grenze zumindest örtlich nicht auszuschließen. Das kann den Eindruck der Überfremdung dann - insoweit örtlich begrenzt - durchaus nachhaltig prägen.

Zudem sollte man die Veränderung nicht nur aus dem statischen Blickwinkel der Jetztzeit betrachten, sondern auch auf die nachkommenden Generationen achten. Hier werden aufgrund des gleichzeitigen Schrumpfens der sog. "Biodeutschen" sich die Relationen viel deutlicher verändern. Teilweise kann man die zahlenmäßigen Auswirkungen und deren Folgewirkungen bereits heute an der Heterogenität an den Schulen feststellen. Extremereignisse wie im Jahr 2015 lassen diese generelle Entwicklung nur deutlicher spürbar werden.

Interessant ist meines Erachtens, dass der Zuwachs an Ausländern bzw. Personen mit Migrationshintergrund in der weit überwiegenden Zeit seit 1953 eher dosiert in relativ kleinen Schritten erfolgte. In rd. zwei Dritteln der 63 Jahre bis heute, d. h. während 40 Jahren lag die effektive Zuwanderung jeweils unterhalb von 200.000 im Jahr. Davon lag sie in 10 Jahren sogar im Minusbereich. Effektiv erfolgte in diesen 40 Jahren nur eine Zuwanderung von rd. 1,6 Mio. Ausländern. In den restlichen 23 Jahren war die Netto-Zuwanderung dagegen deutlich erhöht, insgesamt kamen in dieser Zeit rd. 9,5 Mio. Ausländer, im Mittel rd. 413.000 pro Jahr.

Der Schwerpunkt der gesamten Zuwanderung nach Deutschland konzentriert sich dabei zusätzlich auf drei Einwanderungswellen von insgesamt 17 Jahren: 1968-73 mit rd. 2,3 Mio. Zugewanderten, 1988-93 mit ebenfalls 2,3 Mio. und aktuell 2011-15 mit 3,4 Mio. (siehe Abb. 9; angesprochen sind Zuwanderer aus allen drei Kategorien). Wie die Jahre 2016 und 2017 bereits andeuten, beginnt auch die dritte Welle der Zuwanderung bereits wieder abzuflachen.

Aber genau diese Zeiten extrem hoher Zuwanderung lösten (und lösen) konstant immer wieder kritische Diskussionen und politische Reaktionen aus. Die Stichworte waren: "eine Mehrheit ist gegen italienische Gastarbeiter" 1956, "Wir haben genug deutsche Arbeitskräfte" 1966, "ohne Asylsteuerung werden wir von den Wählern weggefegt" 1973, "Asylmissbrauch" 1993 bis hin zu der nicht allseits in der deutschen Bevölkerung akzeptierten Willkommenskultur und den Warnungen vor einer "Flüchtlingslawine" und "Überfremdung" 2015. Die politischen Reaktionen waren 1973 statt einer diskutierten "Gastarbeiter-Steuer" der Anwerbestopp, 1983 Rückkehrhilfen, 1992 der sog. Asylkompromiss (Art. 16 a GG) sowie die Festlegung "verfolgungsfreier Herkunftsstaaten" - und 2016/17 nun eben "sichere Drittstaaten" und die "Obergrenze".

Die gerade bei den drei starken Einwanderungswellen ausgelöste (innere und äußere) Opposition nicht gering zu schätzender Bevölkerungsteile gegen weitere bzw. zu hohe Zuwanderung stand immer im Zusammenhang mit drei zentralen Auslösemomenten. Entweder gibt es einen wirtschaftlichen Abschwung und die Zahl der vorhandenen ausländischen Arbeitskräfte bzw. Flüchtlinge wird als Bedrohung der eigenen Arbeitsbeschäftigung empfunden, so in den Rezessionsjahren 1966,67 und 1973 ff.

Ein weiterer Faktor besteht dagegen trotz guter Konjunktur darin, dass die extreme Höhe von Zuwanderungszahlen in Einzeljahren Auslöser dafür ist, dass sowohl aktuelle Einschnitte in die eigene soziale Versorgung als auch die Verhinderung sonst möglicher Verbesserungen der eigenen Lage befürchtet werden. Real kann bereits in der Gegenwart Lohndruck durch Billigkonkurrenz zumindest in einfachen Beschäftigungsbereichen wahrgenommen werden.

Auch wird angesichts der hohen Flüchtlingszahlen bei zu erwartendem Abflachen der Konjunktur mit einer künftigen Bedrohung der eigenen Arbeitsplätze gerechnet. Letzteres erst recht, wenn die künftige Arbeitsmarktsituation ohnehin als schlecht oder sehr unsicher beurteilt wird (Roboter, Industrie 4.0, Digitalisierung). Nicht von ungefähr kann man seit 2016 das Verschwinden von (eigenen) Berufsbildern im Job-Futuromat des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nachvollziehen. Dieser Komplex an Gründen für oppositionelle Haltungen im Zuge der Flüchtlingszuwanderung ist in der Phase seit 2011 der Fall.

Schließlich geben teils tatsächliche, teils gemutmaßte Ausnutzungen des Asylrechts durch Flüchtlinge und die ebenfalls nicht ohne weiteres nachvollziehbare Inanspruchnahme der deutschen sozialen Sicherungssysteme insbesondere im Zuge der EU-Binnenmigration Anlass zu abwehrenden Haltungen gegenüber Ausländern bzw. Migranten (z.B. Kindergeld nach deutschen Sätzen für rumänische Arbeitskräfte, deren Kinder aber in Rumänien leben). Das war insbesondere in der Zeit 1988 ff so, aber auch heute.

Die aktuelle Stimmungslage ist zumindest in Teilen der Bevölkerung noch unterfüttert durch Aspekte wie ausbleibende Reallohnzuwächse, geringe (Ost-)Renten (relevant ist die tatsächliche Durchschnittsrente, nicht die idealtypische "Standardrente"), prekäre Beschäftigung, desolate Wohnsituation und hohe Mieten etc..

Diese beschriebenen Befürchtungen sind per se nicht Ausdruck von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und die Menschen haben in einer Demokratie Anspruch auf klare Antworten der Politik, um die Haltungen der Parteien in Bezug auf ihre ganz persönliche Lebensführung abwägen zu können. Wegducken wie im letzten Bundestagswahlkampf ("in einem Land in dem wir [?] gut und gerne leben" ist eine gemilderte Unterart von Autokratie: man herrscht durch unterlassene Information.

In diesem Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, dass durch die geschaffene Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU-28 sich die Zuwanderungslage in den letzten zehn Jahren, wie oben dezidiert beschrieben, deutlich verändert hat. Die freie EU-Binnenmigration und insbesondere die Zuwanderung aus den wirtschaftlich schwächeren Regionen Ost- und Südosteuropas spielt bereits heute eine herausragende Rolle und wird mit voraussichtlich zu erwartender wieder sinkender Flüchtlingszuwanderung noch dominanter werden. Auch dieser wichtige Gesichtspunkt war kein Wahlkampfthema, lediglich in Frankreich brachte Präsident Macron neue Bedingungen der EU-Entsende-Richtlinie ins Spiel.

Auf die (nachhaltigen) Kosten der aktuellen Flüchtlingszuwanderung (z. B. hier und hier), den kurzfristig enorm gesteigerten Personalbedarf bei Kindergärten und Schulen, die Implikationen des vorhandenen Bildungsstands von Flüchtlingen bzw. Personen mit Migrationshintergrund, auf Unterkunft und sozialen Wohnungsbau sowie auf die Kosten für die Sozialsysteme (dort Raffelhüschen, S. 24 ff) soll hier nicht weiter eingegangen werden.

Ob die in diesem Beitrag aufbereiteten Zuwanderungszahlen bereits Entfremdung oder Bereicherung der Gesellschaft bedeuten, ist, wie ganz zu Beginn angesprochen, eher eine Sache des persönlichen Milieus, der konkreten Wohnsituation, der subjektiven Empfindungen und Einstellungen sowie der Werte, denen man persönlich das höhere Gewicht einräumt.

Viele offene Fragen

Eine sachliche Debatte zur Zuwanderung, fälschlicherweise noch verkürzt auf die reine Flüchtlingszuwanderung (siehe oben EU-Binnenmigration), findet zur Zeit bereits im Vorfeld häufig dadurch ihr Ende, dass sogleich moralische Register gezogen werden. Teilweise weiß man nicht mehr, ob man einer protestantischen Predigt zuhört oder ob es sich um die Heilslehren einer neuen wirklichkeitsenthobenen Zivilreligion mit universalistisch liberalem Wertekanon handelt. Es fängt bei der Zuwanderungs- bzw. Flüchtlingsdiskussion schon bei den Begriffen an.

Was für die Einen abzuwehrende "Überfremdung" zum Schutz des Eigenen ist, stellt für die Anderen die zu fördernde "Vielfalt" dar, sei es, weil eine möglichst große Vielfalt an Ethnien in Deutschland der höchste Wert an sich ist oder weil mit der Aufnahme von Zuwanderern jedenfalls höherrangige Werte wie Menschenwürde, Humanität, Nächstenliebe erfüllt werden sollen, jedenfalls höherrangiger als die schnöde Sicherstellung eigener Interessen. Oder weil es am Ende der hiesigen Wirtschaft nutzt bzw. nutzen soll.

Die einzunehmende moralisch Haltung kann im politischen Raum nun weder vom Kanzleramt noch von Parteizentralen jeder Coleur für alle verbindlich dekretiert werden. Das geht, solange wir noch eine Demokratie haben, die missliebige Menschen nicht von vornherein exkludiert, nur über den Weg von Mehrheitsentscheidungen und nicht im Wege moralischer Ächtung der Menschen mit "Fehlhaltung".

Hinzu kommt, dass es neben den von den politischen Kanzeln ständig proklamierten westlichen Werten (früher nur Demokratie, Freiheit, Rechtsstaat, jetzt zusätzlich besonders Vielfalt, Menschenwürde, Humanität) tatsächlich auch noch (eigene) Interessen gibt, seien es nationale oder individuelle. Der Eine mag sie trotz des öffentlichen Moraldrucks noch zum Ausdruck bringen, der andere verleugnet sie lieber angesichts der dominant im Raum stehenden Werte (oder ist raffiniert und verfolgt seine Interessen unter dem Deckmantel von Werten). Und einem anderen Personenkreis sind die in die Debatte geworfenen Interessen egal, weil er aufgrund besserer Ausstattung davon selbst nicht betroffen ist, z. B. bei Themen wie Wohnung, Arbeitsplatz, Sozialbeiträge, Schulbildung, Verwendung der Steuermittel etc.. Was wir seit 2015 in der Flüchtlingsfrage erleben, ist eine durch und durch Befindlichkeits-getriebene Politik.

Pflegt man als Deutscher keinen Autorassismus, der ausschließlich in fremden Kulturen Gutes sieht, und vertritt man auch keine Ideologie, wonach das Universalheilmittel Vielfalt für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und damit auch für die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland die einzige Lösung ist, versteht man sich auch nicht als ein aus religiösen oder humanitären Überzeugungen bedingungs- und grenzenloser Samariter und unterliegt man schließlich auch nicht gedankenlos dem autosuggestiven Mantra "Wir schaffen das", so gibt es zur Zeit leider nicht viel Handfestes, mit dem man sich zu diesen künftigen Veränderungen in der Bevölkerung Deutschlands positionieren kann.

Denn: Ob und wieviel und welche ausländischen Arbeitskräfte Deutschland künftig tatsächlich braucht, steht angesichts unklarer Entwicklungen bei Digitalisierung, Robotereinsatz und Industrie 4.0 dahin. Und wenn viele der Zuwandernden nur einfache Arbeitstätigkeiten übernehmen können, muss von der Politik die Sorge der vorhandenen einfachen Arbeiter und Dienstleister vor Konkurrenz beantwortet werden.

Wenn man ehrlich ist, weiß gegenwärtig auch niemand, wie sich überhaupt ein erhöhter Ausländeranteil je nach deren Herkunftsstaaten und vorhandener Qualifikation auf das Wirtschaftsleben in Deutschland auswirken wird. Man kann wie immer Forderungen nach besserer Bildung und individueller Förderung stellen. Aber gleichzeitig besteht hier die Sorge nicht weniger "biodeutscher" Eltern, was mit ihren Kindern auf Schulen mit hohem Migrationsanteil geschieht. Nicht von ungefähr schickt selbst manch ein Anhänger von Vielfalt und weit ausgelegter Menschenliebe sein Kind dann doch lieber auf eine Privatschule oder eine mit zumindest passendem Heterogenitätsniveau.

Und wenn für bereits Zugewanderte und künftig Zuwandernde kein (geeigneter) Job vorhanden ist, bleibt die Frage, wieviel das deutsche Sozialsystem "leisten" kann. Höhere Beiträge sind sicherlich kein Problem für diejenigen, die ohnehin gut verdienen oder Diäten als Bundestagsabgeordnete von 125.000 Euro im Jahr beziehen. Bei diesen stellt sich allenfalls die Frage, ob sie wirklich (noch) wissen, wie es woanders zugeht. Aber höhere Sozialbeiträge sind ein Problem für diejenigen in weniger lukrativen Beschäftigungsverhältnissen, die sich diese moralischen Großzügigkeiten nicht leisten können und für die Mehrbelastungen bei Sozialabgaben eine echte Einschränkung des Lebens darstellen. Zumal gerade diese deutschen Mitbürger aus den sog. unteren sozialen Schichten oder Milieus mit den Zuwandernden um bezahlbaren Wohnraum konkurrieren müssen. Diesen Menschen verminderten moralischen Anstand zuzusprechen, ist arrogant.

Und die Sorge derjenigen Deutschen, die selbst als Hartz-IV-Empfänger oder Rentner vom deutschen Sozialsystem leben, dass mit wachsender Zahl von ebenfalls hilfsbedürftigen Zuwanderern Leistungen entweder gekürzt oder Möglichkeiten zur Verbesserung gestrichen werden, ist auch nicht so einfach von der Hand zu weisen. Ganz aktuell ist die Nachricht zu hören, dass immer mehr Menschen, insbesondere aus Ostdeutschland, wegen unterbrochener Erwerbsbiografien, etwa durch Konkurs ehemaliger DDR-Betriebe, mangels Beitragsjahren mit nicht auskömmlichen Renten rechnen müssen. Wegen des Wegfalls von sonst möglichen Verbesserungen ist der Satz von Kanzlerin Merkel, es würde niemandem etwas genommen, im Übrigen auch nur die halbe Wahrheit.

Schließlich wird von den Mitgliedern des liberal-kosmopolitischen urbanen Milieus die kulturelle Vielfalt bei dem Besuch orientalischer Kunstausstellungen oder dem gepflegten Meinungsaustausch mit dem iranischen IT-Spezialisten ausgelebt. Für andere Milieus vollzieht sich der Kulturaustausch unter anderem dadurch, dass die Ansiedlung einer Flüchtlingsunterkunft oder der Neubau einer Moschee vorzugsweise in den von ihnen bewohnten Stadtvierteln erfolgt. Schließlich stehen eigenartiger Weise solche in aller Regel nicht im Berliner Grunewald, nicht im Hamburger Harvestehude (allerdings ein Flüchtlingsheim in Blankenese), weder im Kölner Hahnwald noch im Münchener Bogenhausen.

Für die liberal Urbanen wäre es schon ein Erkenntnisgewinn deutlich zu registrieren, dass man selbst nur einen Teil der Gesellschaft bildet, auch wenn man gleichzeitig große Teile der gesellschaftlichen Öffentlichkeit durch mediale Themensetzung beherrscht. Selbst in Großstädten stellen diese Milieus, wenn man etwas nachdenkt, nur einen Bruchteil der Bevölkerung. Und schon das Überschreiten der Stadtgrenzen (!) würde für sie erfahrbar machen, dass es in Deutschland noch vollkommen andere Lebenswelten als die des Prenzlauer Bergs gibt.

So leben in Deutschland gegenwärtig mehr als ein Viertel aller Einwohner, immerhin 21,5 Mio., in Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern und in den zwischen 10.000 und 50.000 ein weiteres Drittel (27 Mio.). Damit man nicht wie in den USA überrascht wird von den Meinungen z. B. der im rust belt lebenden Bevölkerung, sollte man auch hier in Deutschland daran denken, was die Zuwanderung für andere soziale Milieus oder Schichten als die eigene bedeutet.

Die linke Bewegung, zumindest die liberale Linke, steht vor dem Dilemma, wie sie es mit der (internationalen) Solidarität halten soll. Hier geben die beiden Migrationsforscher Betts & Collier in ihrem Buch "Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet - und was jetzt zu tun ist" einige lesenswerte Hinweise und gerade auch zu komplizierten ethischen Solidaritätsfragen Lösungsvorschläge. Es geht danach nicht nur um die 10 Prozent Flüchtlinge z. B. aus Syrien, die nach dem Überschreiten ihrer Heimatgrenze zunächst in ein regionales Aufnahmeland (Jordanien, Libanon, Türkei) gelangten und dann - meist auch unter Erwägung der Verbesserung ihrer Lebensqualität - als Migranten nach Europa vorzugsweise nach Deutschland weiterzogen.

Diesen insgesamt eine Million Migranten mit Flüchtlingsstatus stehen die vier Millionen syrischen Flüchtlinge gegenüber, die in den regionalen Aufnahmeländern verblieben sind und die weiteren sechs Millionen Binnenflüchtlinge innerhalb Syriens. Die Ressourcen und die Aufmerksamkeit der Welt, auch die Deutschlands, konzentrieren sich aber meist auf die weniger als zehn Prozent der Flüchtlinge, die spontan als Asylsuchende in die entwickelten Länder reisen. Doch das Leben der fast 90 Prozent, die zurückgeblieben sind, ist mindestens ebenso wichtig. Heute werden aber 135 Dollar für einen Flüchtling in der entwickelten Welt und nur ein Dollar für einen Flüchtling in den Entwicklungsländern ausgegeben (für Deutschland wären die Zahlen noch zu präzisieren).

Hinzu kommt die Solidaritätsfrage aus anderer Perspektive, nämlich dass nicht wenige der besser Ausgebildeten nach Europa geflüchtet sind und damit im Herkunftsland ein brain drain ausgelöst wurde (das ist bereits für die ost- und südosteuropäischen EU-Staaten ein Problem!). Und gerade diese Menschen werden nach Ende des Bürgerkriegs beim zu erwartenden Wiederaufbau dringend benötigt.

Man kann es als eine Spielart von besonderem kapitalistischen Eigennutz betrachten, wenn Länder wie Deutschland gerade diese zum dortigen Wiederaufbau benötigten Menschen stattdessen dauerhaft in den hiesigen Wirtschaftsprozess zur Aufrechterhaltung des eigenen Wohlstands integrieren.