Die Hypothese des Pluralismus

Geschichte des globalen Gehirns XV

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Nördlich des Peleponnes arbeitete sich währenddessen eine weitere Hypothese durch die Forschungs- und Entwicklungslabors der Evolution, die nicht nur die Geschwindigkeit des Informationsflusses, sondern auch die Art, wie sie verarbeitet wird, beschleunigte. Sparta war eine Tiefkühltruhe, die Vielfalt eingehen ließ. Athen hingegen war die warme und gemütliche Brutstätte der Vielfalt. Folglich testeten Athen und Sparta eine Reihe von entgegengesetzten Strategien, wie beispielsweise autoritärer vs. liberaler Lebensstil, Interntaionalismus vs. Isolationismus oder Totalitarismus vs. Demokratie. Der Gewinner wurde allerdings der Mitstreiter, auf den jeder wahrscheinlich getippt hatte.

Die Besiedlung der Hügel von Athen erfolgte relativ spät. Um 3000 v. Chr., etwa 5000 Jahre nachdem die Einwohner von Jericho ihre Mauern errichtet hatten und 3000 Jahre nachdem Catal Huyuk in Blüte stand, siedelten sich unbekannte Menschen am nordwestlichen Hang des Hügels an, den wir als Akropolis kennen, und hinterließen hier ihre mit großer Hitze gebrannte Keramiken. Die Archäologen konnten bislang noch nicht herausfinden, wie lange sie schon dort gelebt hatten, bevor sie ihre kunstvollen Küchengeräte herstellten.

Der Ort war mit einigen Vorteilen gesegnet. Die Akropolis verfügte über eine direkte Wasserversorgung, was sie von den Hügeln unterschied, auf denen sich andere Siedler niederließen, um Schutz zu finden. Die Umgebung wurde von vier Hügelketten geschützt. Und das Land ragte ins Meer hinein, so daß es von Winden aus verschiedenen Richtungen bestrichen werden konnte. Catal Huyuk hatte schon lange Handelsbeziehungen mit Kreta. Und die ersten Athener wurden von Kreta am meisten beeinflußt. Während die Thebaner auf einen umherwandernden Ödipus und die Spartaner auf einen kraftstrotzenden Herkules zurückblickten, nahm man an, daß der legendäre Gründer der athenischen Kultur Theseus gewesen war, ein vom Transport besessener Erfinder, der das Geheimnis des kretischen Labyrinths gelöst, den Minotaurus von Knossos getötet und danach eine Flugmaschine gebaut haben soll. Um 1200 v. Chr. war die Akropolis zu einer mit mächtigen Pfeilern geschützten Hügelfestung geworden, die im Unterschied zu anderen griechischen Städten niemals von den dorischen Eindringlingen zerstört wurde.1 Während die Heloten Spartas von ihrem Erbe abgeschnitten wurden, brach die kulturelle Geschichte Athens nicht ab.

Nach der Überlieferung vereinte Theseus die zwölf zentralen Städte der 140 Dörfer in Attica um 1250 v. Chr. zu einer Stadt.2 Die Verschmelzung wurde mit einer langen Mauer abgeschlossen. Archäologen verlegen das Datum der Zentralisierung näher an 700 v. Chr. 3 Die neu gegründete Polis hätte wie Sparta von dem Getreide leben können, das in den umliegenden Ländereien produziert wurde. Aber der Boden eignete sich nur für Gerste - und die Athener wollten Weizen, den es in den südlichen russischen Kolonien der Griechen reichlich gab. Um ihr Verlangen zu stillen, beendeten viele der athenischen Aristokraten ihr Landleben, zogen in die Stadt und erwarben einen neuen Wohlstand als Industrielle. Zur selben Zeit waren bei den Spartanern, die Athen im Ruhm und in der Macht übertrumpften, solche unehrenhaften Tätigkeiten verpönt. Die Gelüste nach ausländischem Brot aber sollten die Athener schließlich zum Zentrum eines Netzes von kommerziellen Außenposten machen, von denen auch Milet seinen Reichtum schöpfte.

In Sparta gab es nur wenig zur Auswahl. Das Essen, der Sitzplatz und der Tisch, an dem man saß, das Gebäude, in dem man aß, die Mitspeisenden und die Themen, über die man diskutierte, wurden von der Tradition und der Autorität vorgeschrieben. Athen war das genaue Gegenteil. Ein Mann konnte aus einem Angebot von sozialen Klubs auswählen, die seine persönlichen materiellen, genealogischen, intellektuellen oder emotionalen Obsessionen widerspiegelten - die Frauen Athens wurden hingegen als eine Art Haustier behandelt, das man am besten im Haus einsperrte. Wenn man die Macht einer alten Abstammung demonstrieren wollte, konnte man sich einer der gennetai anschließen, die das Monopol auf die Priesterschaft besaßen. Wenn man nach Kameradschaft, wechselseitiger Hilfe und einer größeren Ausgelassenheit in den Ferien suchte, konnte man Mitglied einer niedriger stehenden Religionsgemeinschaft, einer weltlichen Begräbnisgesellschaft, einer Wohltätigkeitsorganisation, einer Handelsgruppe oder einem Hobbyclub werden und dann mit den adoptierten "Brüdern" bei Feiern, Festen und Geschäftsversammlungen zusammen sein. Wenn man wirklich loslegen, die Stadt verunsichern oder gelegentlich über die Politik mit aristokratischen Kumpeln, an denen man Gefallen gefunden hat, lästern wollte, konnte man sich einem erstklassigen Trinkclub (Symposium)4 anschließen. Wenn man hingegen nach nächtelangen Orgien wieder in Form kommen wollte, konnte man Mitglied in einem Sportclub an einem Gymnasium werden. Für die eher mystisch Ausgerichteten gab es Sekten in Hülle und Fülle. Intellektuelle konnten Schulen besuchen, die sich um große Denker herum bildeten. Ganz egal wie man veranlagt war, so gab es immer einen bekannten Mentor, in dessen Kreis man seinen Neigungen nachgehen konnte und wußte, daß man trotz der Eigenart der eigenen Meinungen unter Freunden war, deren mißbildete Seelen mit der eigenen übereinstimmte. Selbst Piraten hatten ihre eigenen offiziellen Gesellschaften mit Gesetzen, die von Regierungsautoritäten gebilligt und reguliert wurden.

Dadurch erhielt der Diversitätserzeuger die Möglichkeit, eine für die Entwicklung des globalen Geistes wesentliche Komponente zu verbessern, die zuvor bereits in Catal Huyuk in einer primitiveren Form aufgetreten ist: die Interessengruppe, die Subkultur, das sich selbst erneuernde Äquivalent eines Mikroprozessors. In den Subkulturen zeigten die Vorstellungen, die über die Meere eintrafen, ihre Macht, aus Städten etwas zu machen, was eine Stammesgesellschaft niemals hätte sein können. Jede neue Überzeugung, die von außen auf den Marktplatz der Ideen kam, wetteiferte um Käufer. Und wenn sie einschlug, bildete sich um sie herum ein Fanclub, ihre eigene Minigesellschaft. Hinter diesem Geschehen stehen zwei Kräfte, die in der Fremdartigkeit von Emotion und Biologie verwurzelt sind.

Die Psychobiologie von Subkulturen

Unsere Gehirne unterscheiden sich genau so sehr wie unsere Körper. Sie können sogar noch unterschiedlicher sein. Bei einem Teil des Gehirns, der anterioren Kommissur, gibt es sieben Varianten, die von Person zu Person anderes sein können. Einen anderer Teil, die massa intermedia, hat einer von vier Menschen überhaupt nicht. Der primäre visuelle Cortex tritt in drei Varianten auf. Die Amygdala, die für unsere Ängste und Freuden verantwortlich ist, kann in ihrem Volumen um das Doppelte variieren, genauso wie der Hippocampus, der am Gedächtnis beteiligt ist. Am überraschendsten ist, daß die Größe von unserem Zerebralcortex bei lernbehinderten Menschen fast halb so klein ist.

John Skoyles

Dank Plato, dessen ungefähr 50jähriges intellektuelles Leben das Perikleische Goldene Zeitalters umklammert, kennen wir angebliche Aufzeichnungen von den Gesprächen einer Küchenkunst von Ideen. Sokrates, der Ideen für alle Zwecke auseinandernahm und vermischte, war der Sohn einer gesellschaftlich hoch stehenden Familie. Experten und Eingeweihte sind sich einig, daß es unmöglich ist zu bestimmen, wie viele der Worte, die Plato diesem selbsternannten Blutsauger zuschrieb, wirklich authentisch sind und wie viele einfach dem Versuch Platos entsprangen, seine eigenen Vorstellungen an die Öffentlichkeit zu bringen. Doch eines wird allgemein als zutreffend anerkannt: die Namen der Menschen, von denen Sokrates sich die Überzeugungen holte, bevor er sie als Quizmaster in der Weise zerlegte, die jetzt seinen Namen trägt - der sokratische Dialog. Die Besetzung der Rollen in den Dialogen, die ein gebildetes Denken darstellen, waren in Athen zu bekannt, so daß Plato sie sich nicht aus den Fingern saugen konnte.

Aber wer waren diese Quellen, deren Weisheit Sokrates dreschte und vermischte? Meist bekannte Denker aus Städten, die jeweils eine bestimmte Methode hatten, Güter aus ihrer Umgebung herauszuholen und sie in das Zirkulationssystem des Handels im Mittelmeer und Schwarzen Meer zu injizieren. Sokrates war ein Schüler von Anaxagoras, der von der ionischen Stadt Claomenae an der Küste der heutigen Türkei stammte. Er war auch ein Schüler von Archelaus, einem anderen ionischen Import. Zu den sokratischen Dialogen, die Plato "aufzeichnete", gehören die Gespräche mit Protagoras aus der Stadt Abdera im Balkan, mit Hippias von Elis auf dem Peloponnes, mit Parmenides vom italienischen Elea und mit Gorgias aus dem sizilianischen Leontini. Jeder der zu Besuch kommenden Intellektuellen wurde durch den Kontakt mit einer einzigartigen Gruppe der umliegenden Stämme und durch die von der Stadtstruktur, von den heimischen Gewohnheiten und von den Interessen der verschiedenen Geschäftsarten auferlegten Zwänge geformt. Eine Folge war, daß jede Ankunft eine Philosophie präsentierte, die jeweils einer ganz unterschiedlichen Konfiguration des menschlichen Geistes ansprach.

Eines der fünf Elemente eines komplexen adaptiven Systems, das ein Bakterium, eine Eidechse, einen Pavian oder einen Menschen in ein Modul des kollektiven Rechners verwandelte, schaltet die Physiologie je nach dem jeweiligen Beitrag des Einzelnen zum gemeinsamen Schaltkreis ein oder aus. Es handelt sich um den Nutzensortierer, der das Individuum nach zwei Maßstäben beurteilt: 1) der eigenen Einschätzung der Macht5 und 2) den von anderen erkannten Zeichen, ob sie einen begehren oder es sie nicht kümmert, wenn man wie ein Pickel aus dem Gesicht der Menschheit verschwindet6. Ein Mensch, der gut mit den auf ihn zukommenden Anforderungen zurechtkommt, stabilisiert eine Population auf ihrem Weg durch eine stürmische See. Wer von seinen Kameraden geschätzt wird, nährt die emotionale Maschinerie einer Gruppe. Tief verborgen im neuroendokrinen Komplex. 7 arbeiten Nutzensortierer auf einer gleitenden Skala. Sie verschieben sich von Angst zu Wagemut, von Trauer zum Glücklichsein, von Gehässigkeit zu Charme, vom schüchternen Schweigen zum langen Sprechen, von der Depression zum Hochgefühl, vom Schmerz zur Lust, von der Verwirrung zur Erkenntnis und von der Lustlosigkeit zur Lust.

Manche werden mit Nutzensortierern geboren, die an einem Ende der Skala fixiert sind: auf Trauer, Scheuheit und einer erhöhten Sensibilität für Schmerz. Andere kommen aus dem Mutterbauch mit einer abnormalen Einstellung am anderen Ende der Skala: mit einer ruhelosen Energie, wenig Hemmungen und kaum einem Angst- oder Schuldgefühl. Doch die meisten bewegen sich in der Mitte. Ihre Nutzensortierer können auf die eine oder die andere Seite gleiten und sie den Bedürfnissen des Netzwerks je nach ihrer Eignung anpassen. Diejenigen, die die Welt mit Nutzensortierer betreten, die an einem Extrem festhängen, offenbaren uns, wie die Sortierer uns einstellen und welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaft haben.

Nach dem bekannten Harvardgelehrten Jerome Kagan entwickelte Jung das Konzept der introvertierten und extrovertierten Persönlichkeit. Jung glaubte auch, so Kagan, daß ihre Gehirnstruktur leicht unterschiedlich seien. Kagan ist der Überzeugung, daß er auf seine Weise die Richtigkeit von Jungs Annahme bewiesen habe. Er hat herausgefunden, daß es 10 bis 15 Prozent der Neugeborenen mit einer Tendenz zum Rückzug und zur Verschlossenheit, während es ebenso viele mit einer Tendenz zur Unerschrockenheit und Spontaneität gibt. Kagan hat zum Beweis für diese Behauptung zahlreiche Experimente durchgeführt und während der letzten Jahrzehnte große Datenmengen gesammelt. Er verweist auf Fakten8 wie diese:

  1. Bei Untersuchungen von japanischen und amerikanischen Neugeborenen bleiben manche ruhig, wenn man ihnen die Brustwarze entzog, während andere in Wutausbrüche verfielen.9 Die Babies hatten noch keine Gelegenheit, diese Reaktionen von ihren Eltern zu lernen. Die Veranlagungen brachten sie aus der Isolation des Uterus mit. Mit vierzehn Monaten brachen die Babies, die bei der Geburt leicht erregbar waren, noch immer mit größerer Wahrscheinlichkeit in Geschrei aus, wenn ein Fremder ihr Zimmer betrat.10 Bei einem anderen Experiment war es für Babies, die hysterisch geschrieen haben, wenn sie plötzlich kein Wasser mehr, sondern eine Zuckerlösung erhielten, erheblich schwieriger, die Trennung von der Mutter im Alter von ein oder zwei Jahren auszuhalten als andere, die den Wechsel ihres Getränkes gleichmütiger hingenommen hatten. Überdies zeigte eine Untersuchung von 113 Kindern, daß jene, die im Alter von einem Jahr Schwierigkeiten hatten, mit dem Unerwarteten zurechtzukommen, im Alter von sechs Jahren noch immer scheu und zurückgezogen waren.
  2. Diese Neigung zu Persönlichkeitsvariationen beschränkt sich nicht auf Menschen. Nach Kagan zeigt sie sich auch bei Hunden, Katzen, Kühen, Affen und Paradiesfischen. Manche Tiere werden vom Neuen fasziniert, andere haben vor allem Angst, was auch nur ein wenig anders als gewohnt ist.
  3. 15 Prozent der Katzen wichen ganz deutlich vor Fremdem zurück und wollten auch keine Ratten angreifen. Das kam dem Prozentsatz bei den Menschen, die erstarrt vor Angst sind, erstaunlich nahe.

Für Kagan geht der Unterschied auf die Gene zurück, die einen lebenslangen Dominoeffekt im Gehirn auslösen können. Die Herstellung des für das Stimulanz Norepinephrin wesentlichen Enzyms wird, so Kagan, von einem einzigen Gen gesteuert, wodurch der Norepinephrin-Pegel in hohem Maße erblich ist. Norepinephrin, das auch ein wirkungsvolles Stresshormon ist, zeigt sich schon früh in der Entwicklung des Embryos. Es macht den Hippocampus für das Unvertraute überempfindlich und hyperaktiviert die Amygdala, das Nebelhorn des Warnsignals, das wir Angst nennen.

Doch Gene sind nicht die einzigen Ursachen, warum einige aus der Plazenta mit blockierten Nutzensortieren kommen. Allessandra Piontellie11, eine italienische Wissenschaftlerin hatte eineiige Zwillinge seit ihren ersten Wochen als Embryos bis in ihre Kindheit beobachtet. Sie bemerkte, daß sie im Uterus der Mutter konkurrierten. Einer wird dominant und der andere untergeordnet. Der Dominante wird den bequemsten Platz einnehmen und seinem Bruder oder seiner Schwester nur enge Ecke übriglassen. Im Alter von einem Jahr zeigen beide dieselben Eigenschaften. Einer wird aktiv und extrovertiert sein, der andere passiv und introvertiert.12 Der nach außen orientierte, dominierende Zwilling übernimmt den Großteil der Kommunikation, selbst wenn seine Sprache nur aus Lächeln, Winseln, Glotzen, Zappeln, Krabbeln oder Rennen besteht. Der andere Einjährige wird still bleiben, oft ängstlich zurückweichen und sich zu verstecken versuchen, als ob er noch immer Schutz vor seinem lärmenden und Raum beanspruchenden Klon suchen würde. Beide Zwillinge haben dieselben Gene, aber die Erfahrung vor der Geburt ist verantwortlich für einen gewaltigen Unterschied.

Viele von uns sind bei der Befruchtung Zwillinge. Etwa 150 Millionen Menschen, die heute leben, sind die Sieger in einem Wettkampf mit einem Bruder oder einer Schwester, die niemals über das frühe embryonale Stadium hinauskamen.13 Wir übrigen plündern gewaltsam die Reserven unserer Mütter. Trotz allem, was sie mit uns teilen, setzen wir biologische Waffen wie das Lactogen der Plazenta ein, um die Speisekammer ihrer Glukosevorräte zu plündern und die Nerven und Muskeln zu zerstören, mit denen sie unseren Blutfluß steuern.14 Daher beginnt unsere soziale Erfahrung im Guten wie im Schlechten im Uterus15, und sie kann unsere Entwicklung beeinflussen. Überdies schwimmen wir in Chemikalien, die unsere Mutter ausschüttet, um mit ihren eigenen Krisen und Freuden umzugehen.16 Ihre Stresshormone können uns zu emotional gestörten Kindern machen. Ihre Glückshormone können den entgegengesetzten Effekt bewirken.17 Doch immer kommen wir in unserer eigenen Mischung heraus.18

Die Produkte einer pränatalen Norepinephrin-Kaskade sind furchtsame Kinder, die in sorgfältig überprüften Untersuchungen schon eine schwache Veränderung der Lichtstärke oder - Farbe wahrnehmen, die andere übersehen. Diese Kinder sehen und hören, in anderen Worten, ihre Welt buchstäblich auf eine Weise, die andere gar nicht wahrnehmen können. Die konstitutionell Ängstlichen sind, nach Kagan, mit einem limbischen System ausgestattet, das leicht in den Tremor einer möglichen Katastrophe explodieren kann. Als Folge versuchen ängstliche Kinder, die Explosion zu vermeiden, indem sie sich vor alltäglichen Ereignissen verstecken, die sie erschüttern könnten. Ungehemmte Kinder, die am anderen Ende der Skala stehen, besitzen untererregte limbische Systeme und brauchen eine Überflutung mit Eindrücken, um der unerträglichen Langeweile zu entgehen. Ihre Verlangen nach Aufregendem kann ihre Eltern manchmal an den Rand der Erschöpfung bringen.

Kultur und Natur spielen eine Rolle bei späteren Tendenzen, die Kazimierz Dabrowski19, ein anderer Spezialist auf diesem Gebiet, Unter- und Übererregbarkeit nannte. Die Kultur beeinflußt, wie Mütter ihre Kinder erziehen, und das wiederum kann das Gleichgewicht zwischen Tapferkeit und Verletzlichkeit verschieben. 75 Prozent der untersuchten amerikanischen Einjährigen waren verärgert, wenn ihre Mutter aus dem Raum ging und sie mit einem Fremden zurückließ, doch nur 33 Prozent der westdeutschen Babies werden dadurch gestört. Wegen des Erziehungsstils ihrer Kinder scheinen westdeutsche Kleinkinder besser imstande zu sein, die Dinge auf ihre eigene Weise zu regeln.20

Auch die Klasse, ein Faktor, den es schon vor 25 Millionen Jahren gab, hat einen Einfluß. Mütter aus unteren Gesellschaftsschichten behaupten, daß sie körperliche Nähe genauso schätzen wie Mütter aus der Mittelklasse. Untersuchungen weisen jedoch darauf hin, daß sie dazu neigen, die Bedürfnisse ihres Kindes nicht wahrzunehmen und sie lange Zeit nicht zu berühren und zu tragen.21 Das erzeugt ängstlichere Kinder als jene, die von den körperlich zugewandteren Müttern der Mittelklasse erzogen werden. Wenn eine Mutter in den Raum zurückkommt, nachdem sie den Säugling mit einem Fremden zurückgelassen hatte, beruhigen sich manche schnell, andere nicht und wieder andere läßt das relativ kalt. Die leicht Zufriedenstellenden sind eher mit einer Mama gesegnet, die auf die Laute ihres Kindes lauscht, sein Gesicht und seine Augen beobachtet und ihr Gurren und Plappern mit dem ihres Kindes zu einem emotionalem Duett verbindet. Die Mütter der untröstbaren Säuglinge singen nicht im Rhythmus ihrer Kinder, sondern ertränken sie in einer Flut von unbarmherzigen Worten. Gleichgültige Kinder können ihre Mütter wegstoßen, wenn sie zurückkommt. Das sind Kinder, deren Schreien normalerweise mißachtet wurde: eine Strategie, die überwiegende den unteren Schichten eigen ist.22

Nutzensortierer und kollektives Gehirn

Man erinnere sich, daß nur etwa 30 Prozent der Menschen ihr Leben mit Veranlagungen beginnen, die an einem oder anderen Ende blockiert sind. 70 oder 80 Prozent, also die überwältigende Mehrheit, gleiten auf der Skala hin und her. Aus diesem Grund behaupte ich, daß Kagans Introversion und Extraversion Produkte der Nutzensortierer sind, d.h. der endogenen Mechanismen, die ein Lebewesen je nach den Hinweisen, die seinen Wert für die Gesellschaft anzeigen, von Hemmung zu Wagemut verschieben. Säuglinge erhalten diese Signale aus dem Interesse, das ihre Mutter und andere Menschen zeigen, wenn sie versuchen, etwas zu "sagen". Man kann richtiggehend sehen, wie ihre Nutzensortierer sie verwelken lassen, wenn man auf ihre Gesten starr und steif reagiert, oder wie sie aufwachen, wenn man auf ihre Aufforderung hin lächelt und sich niederbeugt, um mit ihnen zu albern.

Der Spielplan komplexer adaptiver Systeme für eine kollektive Intelligenz weist den Nutzensortierern eine entscheidende Rolle zu. Zu Beginn dieser Geschichte des globalen Gehirns gingen zwei vernetzte lernende Maschinen auf die Rennbahn: das neuronale Netz und das Immunsystem. Bei beiden wurden die Bestandteile, die bei der Lösung von Problemen beteiligt waren, hyperaktiv. Sie forderten und erhielten Energie (eine elektrische Verstärkung für einen Knoten im neuronalen Netz und zusätzliche Zellnahrung für eine Lymphozyte, die einen eindringenden Feind angreift). Zusätzlich zogen sie schnell Aufmerksamkeit auf sich. Erfolgreiche Problemlöser im neuronalen Netz zogen eifrig eine Konzentration an Verbindungen von anderen Knoten an. Und Immunzellen mit einem Schlüssel für die schwachen Punkte des Eindringlings gaben Signale aus, demselben Muster zu folgen. Das sind Botschaften, denen schnell gehorcht wird. Zellen und Verbindungen ohne nützliche Informationen zogen sich hingegen selbst zurück. Sie gaben Nahrung von sich, traten aus dem Team aus und schlossen sich im Endeffekt selbst aus. Nutzensortierer schoben die besten Spieler in ihrer Aktivität an und ließen die Versager in die Anonymität fallen. Bei Tieren wie bei den Menschen erfüllen die Nutzensortierer denselben Zweck. Sie setzen Gehirngewebe und Drüsenstoffe ein, um den wertvollsten Spielern mehr Schwung zu verleihen und die Versager ins Dunkel zu stoßen.

In einer Gruppe von 80 hell gestreiften und geschmückten Mandrillaffen aus Gabun war Fangs, ein Männchen, der unangefochtene Führer. Seine Nutzensortierer waren hoch eingestellt. Er war stolz, furchtlos, selbstbeherrscht und scheinbar unangreifbar. Sein Testosteronspiegel war drei Mal so hoch wie bei einem normalen Männchen. Seine internen Einstellungen und die entsprechende soziale Position schanzten ihm ein Monopol über die begehrenswerten Weibchen in seinem Stamm zu. Punk, das zweitmächstige Männchen, sah fast ebenso hoheitsvoll aus. Aber der Eindruck täuschte. Einmal war sein Testosteronspiegel viel niedriger, und dann war ihm seine Sexualität verwehrt. Wenn ein Weibchen fruchtbar wurde, war er dazu verpflichtet, auf Kurs zu bleiben und dem mächtigen Fangs die Vergnügungen der Fortpflanzung zu überlassen. Schließlich rutschten Punks Nutzensortierer von einer hohen Einstellung, die sich seinem sozialen Rang verdankte, wegen der offensichtlichen Hoffnungslosigkeit, jemals an die Spitze zu kommen, auf eine niedrige Einstellung. Zuerst wurde Punk teilnahmslos und zurückgezogen. Dann verschwand er buchstäblich für ein halbes Jahr.

Er kam zurück, als es plötzlich eine Möglichkeit gab, endgültig seinen Wert zu beweisen. Fangs war Opfer eines Raubtiers geworden und es gab keinen Führer mehr. Die zahlreichen jungen Männchen, die auf diesen Tag gehofft hatten, gerieten schnell aus dem geringen Antrieb der Nutzensortierer. Doch sie mußten von hinten her aufholen. Ihre Hoden waren klein, ihre männlichen Hormone über lange Zeit im Absinken, die Rangmerkmale auf ihren Gesichtern und Oberkörpern in einer traurigen Verfassung und ihre Körper dürr, weil sie jahrelang immer weggejagt wurden. Da Punk ein geachteter Aristokrat gewesen war, erhielten seine Nutzensortierer seine relative Eignung. Trotz seines Exils war er noch immer kräftig, bunt und schnell mit Hormonen aufgepumpt. Er erkämpfte sich seinen Weg an die Spitze und zog mit Geduld die Weibchen erfolgreich auf seine Seite. Mit der täglichen Ehrerbietung, die man ihm zollte, schwoll sein Testosteronspiegel schließlich so hoch wie einst bei Fangs an.23

Die Moral von der Geschichte ist, daß die von Kagan untersuchten Nutzensortierer sich so entwickelt haben, daß sie je nach dem kollektiven Notwendigkeiten zu- oder abnehmen. Kagan konzentrierte sich jedoch auf biologische Extreme, bei denen diese Schaltknüppel in einem Gang fixiert waren. Im Verlauf seiner Forschungen gab er unschätzbare Hinweise auf die Idiosynkrasien der Nutzensortierer. Kagan hat Schlußfolgerungen mit weitreichenden Konsequenzen aus seiner Arbeit gezogen. Er ist davon überzeugt, daß das, was Eltern machen, in der Erziehung von Kindern nicht alles ist.24 Da Menschenkinder unterschiedlich auf dieselben stresserzeugenden Ereignisse reagieren, nehmen mehrere Kinder, die im selben Haushalt aufwachsen, eine weitgehend unterschiedliche "Wirklichkeit" wahr. Überdies erzeugt ein Säugling, der unaufhörlich vor Angst schreit, eine andere Einstellung der Eltern als ein kuschliges Baby, dessen Tränen sich fast augenblicklich in Lächeln verwandeln können.25 Andere Forscher sehen dies auch so und weisen darauf hin, daß ein Kind teilweise das Verhalten seiner Eltern formt und sich so seine eigene Familienhöhle gräbt.

Kagan glaubt auch, daß über- und untersensible Menschen eine große Rolle bei der Herstellung kultureller Recihaltigkeit spielen. Er untersuchte die Biographien von T.S.Eliot, Franz Kafka, Alfred North Whitehead, Alan Turing und von der Nobelpreisträgerin und Neurologin Rita Levi-Montalcini. Sein Ergebnis: ein ungehemmtes Temperament kann ein Kind zum Leben eines kreativen Gelehrten bringen.26 Kagan verweist auch auf eine Untersuchung von führenden Architekten und Mathematikern, die zeigt, daß sie von ihren Kameraden als Teenager abgelehnt wurden (was darauf hinweist, daß sie wahrscheinlich aus einer Hypersensibilität heraus scheu gewesen sind). Ihr späterer Erfolg entstand unter anderem aus dem Wunsch, Macht über diejenigen zu erlangen, die sie früher verspottet hatten.27

Man kann wahrscheinlich mit Sicherheit sagen, daß bei diesen Menschen, wenn sie einmal ihre Rache ausgeübt und ihre Verdienste für die Gesellschaft demonstriert hatten, die Zeichen des Ruhmes ihre Nutzensortierer in einen anderen Gang geschaltet haben, wodurch ein Großteil ihrer einstigen Zaghaftigkeit verschwunden ist. Wenn man eine Version der 90er Jahre von einer solchen neuroendokrinen Kehrtwendung sehen will, dann betrachte man sich einmal den einst schüchternen Bill Gates, der jetzt, wie der zurückgezogen lebende John D. Rockefeller28 vor einem Jahrhundert, zu einem gnadenlosen Bekämpfer der Konkurrenten, zu einem furchteinflößenden Gegner in fast jedem Spiel geworden ist.

Noch wichtiger für die Evolution des gemeinsamen Geistes ist Kagans Überzeugung, daß der Persönlichkeitstyp eines Säuglings die Subkultur beeinflußt, mit der sich ein Kind später im Leben identifiziert. Zudem implizieren Kagans Kreativitätsforschungen, daß gehemmte Kinder zu Propheten werden können, um die herum sich Subkulturen bilden.

Athen tötete nicht seine introvertierten, körperlich schwachen und übersensiblen Neugeborenen, die schlechte Krieger geworden wären. Man nahm sie in ihrer Jugend auch nicht erbarmungslos in Zucht und löschte ihre Individualität aus. Die Athener und die Einwohner der griechischen Städte, die ihre Denker in die athenische Mischung einspeisten, stammten, so Xenophon, von Eltern ab, "die ihren Söhnen die beste Erziehung geben wollten, die sie unter die Obhut von Dienern als Tutoren stellten und sie sofort auf Schulen schickten, damit sie Lesen und Schreiben und Musik und die Kunst des Ringens lernen. Daneben achteten sie darauf, daß die Füße der Kinder durch Schuhe weich und ihre Körper durch wechselnde Kleidung fein blieben. Was die Ernährung anbelangt, so ließen sie diese sicherlich so viel essen, wie in ihren Magen paßte."29

Dann gibt es den Bericht von Xenophon, daß der Zeitpunkt, "an dem die Buben zu Jugendlichen heranwachsen, genau der Augenblick ist, an dem (die Athener und die Einwohner ihrer Schwesterstädte) sie von den Lehrern wegholen, sie aus den Schulen nehmen und niemanden mehr zu ihrer Obhut beschäftigen, sondern sie eigenständig leben lassen."30 Sie konnten eigenständige Entscheidungen treffen. Sie konnten eigenständig anderen begegnen, die ähnliche Anomalien wie sie selbst aufwiesen. Sie konnten eigenständig eine Subkultur suchen oder aufbauen, in der ihre ansonsten merkwürdig gestalteten Temperamente ein Zuhause fanden.

Nach Lykurg war Sparta in eine einzige Kulturform eingepresst. Man wählte bei der Geburt aus, wer leben durfte und wer sterben mußte, dann siebte man die herrschende Klasse während des Heranwachsens aus und setzte dabei einen harten Wettkampf ein, um die Jugendlichen in eine akzeptable Form zu pressen. Es gab keinen Platz für nachdenkliche Poeten wie den prä-lykurgischen Alcman, der als der Erfinder der Liebesgedichte angesehen wurde. Als Sparta einen reimenden Dichter um 650 v. Chr. zum Verfassen von stark vom Krieg erfüllten Hymnen benötigte, die es im zweiten Messianischen Krieg zum militärischen Sieg anstacheln sollte, war es gezwungen, einen Rhapsoden - Tyrtaeus - aus Athen zu holen. Athen erlaubte im Gegenteil die Entwicklung von vielen Subkulturen. Jede stellte einen Schutzhafen für einen anderen Persönlichkeitstyp dar, und jede kämpfte darum, daß ihre Mischung aus Emotionen und Ideen zu einer weltbestimmenden Kraft im kollektiven Wirklichkeitsverständnis des Stadtstaates wurde.

Genauso wie Nutzensortierer den Einzelnen zu einem Bestandteil der Intelligenz seiner Gesellschaft machen, sorgen die Subkulturen, um die herum sich abnormale Individuen sammeln, in der Gesellschaft dafür, die in ihr vorherrschenden Einstellungen zu verändern. Sie übernehmen entweder die Führung oder sie verschmelzen wieder mit der Menge. Subkulturen sind, mit anderen Worten, Hilfsmittel, um die Nutzensortierer ganzer Staaten anzupassen, indem sie Knoten in einem noch größeren "denkenden" Netz bilden - dem Netz, das schließlich zu einem vernetzten Gehirn der ganzen Menschheit werden könnte. In Athen veränderten die Subkulturen und die Pflege der unter- und übersensiblen Menschen den Lauf der Geschichte.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer