Die Kommandeuse, die anständige deutsche Frau und der Befehlsnotstand
Seite 2: Massensuggestion
Die Verurteilten brachte man in das Kriegsverbrechergefängnis in Landsberg, wo elf von ihnen zwischen November 1948 und Juni 1951 gehängt wurden (Hermann Pister starb vor dem Hinrichtungstermin, wahrscheinlich an einem Herzinfarkt). Ilse Koch brachte im Oktober 1947 einen Sohn zur Welt, der an die Fürsorge übergeben wurde. Bei den Amerikanern machte sich nach den Massenaburteilungen die Einsicht breit, dass bei den Dachauer Prozessen nicht alles optimal gelaufen war. Eine Kommission sollte die Urteile auf ihre juristische Stichhaltigkeit überprüfen. Da gab es einiges zu tun.
Einer der am häufigsten zitierten oder paraphrasierten Belastungszeugen gegen Ilse Koch war ein etwas dubios wirkender Ex-Häftling namens Heribert Froboeß (oder Herbert Froebess), der es irgendwie geschafft hatte, Teil des Gefangenenteams zu werden, das die Befragungen für den Buchenwald-Report durchführte. Je nach Quelle hatte er sich vor seiner Verbringung auf den Ettersberg als Franziskanermönch ausgegeben, obwohl ihn der Orden ausgeschlossen hatte, oder er war nie Mitglied gewesen. Kogon schreibt in Der SS-Staat, Froboeß sei trotzdem immer als Franziskaner behandelt worden. Daraus lässt sich schließen, dass er noch Schlimmeres erdulden musste als die gewöhnlichen Häftlinge, weil in Buchenwald nicht nur Rabbiner, sondern auch Geistliche christlicher Konfessionen mit besonderer Grausamkeit der SS-Schergen rechnen mussten. Man sollte also nie vergessen, dass der Mann ein schweres Schicksal hinter sich und bestimmt mit einem Trauma zu kämpfen hatte, was aber viel weniger interessierte als die Enthüllungen, die er über Ilse Koch zu machen hatte.
In Dachau sagte Froboeß aus, dass Ilse Koch zwei in tätowierte Menschenhaut gebundene Alben mit Familienphotos besessen habe. Diese Alben waren nach ihrer Verhaftung in Ludwigsburg beschlagnahmt worden. Die Anklage hielt sie zurück. Captain Lewis, Ilses Pflichtverteidiger, erhielt sie erst, als der Prozess vorbei war. Die Alben werden heute vom amerikanischen Nationalarchiv in Maryland aufbewahrt. Flint Whitlock, der Autor von Buchenwald Bestien, hat sie unter die Lupe genommen. Von tätowierter Menschenhaut keine Spur. Aus Sicht der Verteidigung komplettierte die verspätete Aushändigung der Photoalben das Bild von einem unfairen Verfahren.
Zum Auftakt hatte die Anklage eine Broschüre mit den Photographien der Beschuldigten und einer Zusammenfassung der ihnen zur Last gelegten Verbrechen drucken lassen. Diese Broschüre wurde an die Richter, die Presse, zukünftige Zeugen, Journalisten usw. verteilt. Der Text unter dem Verbrecherphoto von Ilse Koch lautete: "Teilweise gemeinsam mit Komplizen, und mit Vorsatz, fügte sie mindestens dreißig Häftlingen körperliche Misshandlungen und gesundheitliche Schäden zu, wobei die meisten davon deutsche politische Gefangene waren, und beeinflusste sie andere dahingehend, mindestens 200 Häftlinge zu töten oder den Versuch zu machen, sie zu töten, die meisten davon Deutsche." Die Betonung der deutschen Opfer zielte auf die Meinungsbildung in der deutschen Öffentlichkeit ab, denn im Prozess sollte eigentlich über Verbrechen an nicht-deutschen Zivilisten und Kriegsgefangenen verhandelt werden. Die Version für Zyniker: Die Offiziere im Tribunal wollten das schön gestaltete Heft als Souvenir mit nach Hause nehmen und mussten die Kommandeuse schon allein deshalb schuldig sprechen, weil sie die Lieben daheim sonst gefragt hätten, warum sie Lampenschirm-Ilse, die Frau mit den vielen unter ihrem Photo aufgelisteten Verbrechen, freigelassen hatten.
Infolge der Überprüfungen wurden zahlreiche Todesurteile in Haftstrafen umgewandelt, Freiheitsstrafen wurden verkürzt. Bei Ilse Koch gelangte die Kommission zu diesem Resultat: Es waren weder Beweise für eine leitende Funktion im Lager noch für die um tätowierte Menschenhäute und Lampenschirme kreisenden Vorwürfe erbracht worden; die Anklage hatte entlastendes Material (die Alben) unterdrückt; Schlüsselzeugen wie Kurt Titz und Gustav Wegerer waren unglaubwürdig (Wegerer, früher Kapo in der Buchenwalder Pathologie, hatte ausgesagt, er sei dabei gewesen, als Karl Koch und der SS-Arzt Hans Müller gegerbte Häute mit Tätowierungen für einen Lampenschirm aussuchten und ein Gespräch führten, aus dem zu schließen gewesen sei, dass Ilse Koch die zuvor ausgewählten Motive nicht gefallen hatten). Die Kommission empfahl, die lebenslange Freiheitsstrafe auf vier Jahre zu reduzieren. Der Prüfbericht wanderte durch die Instanzen, bis er ganz oben in der Kommandostruktur angelangt war: bei General Lucius D. Clay, Militärgouverneur der amerikanisch besetzten Zone in Deutschland. Clay folgte der Empfehlung und unterzeichnete am 8. Juni 1948 das Dokument, mit dem die Strafe auf vier Jahre reduziert wurde. Im abschließenden Prüfbericht vom 30. April heißt es, bei den Vorwürfen gegen Ilse Koch handele es sich um einen Fall von "Massensuggestion".
Schmusekurs
Bekannt gegeben wurde die Nachricht am 16. September 1948. Clay sagte der New York Times, es gebe keine überzeugenden Beweise gegen Ilse Koch. Dann geriet der bei anderer Gelegenheit als Freiheitsheld gefeierte Initiator der Berliner Luftbrücke in eine analoge Form des Shitstorms. Die Empörung war enorm. Müttervereine, Überlebenden-Organisationen, der Jüdische Weltkongress, Veteranenverbände, Leitartikler, die Dachauer Ankläger und ganz normale Bürger protestierten. In die USA reisende Vertreter des deutschen Geisteslebens sahen sich plötzlich mit Fragen nach dem Lampenschirm konfrontiert. Die verzögerte Bekanntgabe der Strafreduzierung (offizielle Begründung: Organisations- und Kommunikationsprobleme) wurde als Vertuschungsversuch gewertet, Clay nun selbst perverser Neigungen verdächtigt. Überraschenderweise scheint nie jemand behauptet zu haben, der General sei der Vater des in der Untersuchungshaft gezeugten Kindes von Ilse Koch. Auf die Verschwörungstheoretiker wartet da noch eine schöne Aufgabe.
"Eine [amerikanische] Bevölkerung", mokiert sich eine Historikerin in der Ilse-Koch-Doku des MDR, "die sich so viel darauf zugute hält, die Demokratie mit erfunden zu haben, fordert jetzt nicht ein rechtsstaatlich faires Verfahren, sondern will sozusagen diese Frau, wenn nicht hängen sehen, so doch wenigstens ein Leben lang weggesperrt." Ich erkenne da einen latenten Antiamerikanismus - nicht unbedingt bei der Historikerin Ulrike Weckel, die das Standardwerk zu den Atrocity-Filmen geschrieben hat (Zitate sind aus dem Zusammenhang gerissene, vielseitig anschließbare Aussagen), aber doch in der Ausrichtung dieser Dokumentation. Ganz so einfach war die Sache nicht. Man konnte da vielmehr eine Demokratie in Aktion erleben, mit all ihren Stärken und Schwächen, mit Meinungsstreit, Lobbygruppen und einer medialen Erregung, die manchmal der Preis ist, den man für eine freie Presse zahlt. Der Empörung der Bevölkerung finde ich verständlich. Erst wurde Ilse Koch als Verkörperung des Naziterrors vorgeführt, dann sollte sie plötzlich freigelassen werden. Den Verantwortlichen ist vorzuwerfen, dass sie sich wegduckten, statt umfassend aufzuklären. Clay hätte gern eine offensivere Vorgehensweise gewählt, wurde aber vom Kriegsministerium ausgebremst. Die Angelegenheit war delikat, weil Ilse Koch mitten in die politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit geraten war.
Noch im September 1948 richtete der amerikanische Senat einen Untersuchungsausschuss ein, benannt nach dem Vorsitzenden, dem Republikaner Homer S. Ferguson aus Michigan. Der Ferguson-Ausschuss hatte erst in zweiter Linie mit Lampenschirmen aus Menschenhaut und einer in Hot Pants durch das Lager reitenden Kommandeuse zu tun, obwohl darüber wieder ausführlich debattiert wurde. Primär ging es um die Verfassung der amerikanischen Demokratie. Nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg regierten die Roosevelt- und dann die Truman-Administration mit Vollmachten, die das Mitspracherecht der gewählten Volksvertreter in den beiden Häusern des Kongresses stark einschränkten. Bei einem Untersuchungsausschuss zu Ilse Koch war die öffentliche Aufmerksamkeit garantiert. Das war die perfekte Gelegenheit, die durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogene Kontrollfunktion des Senats zu stärken und den Primat des Parlaments über die Armee zu demonstrieren, die aus Sicht vieler Abgeordneter und Senatoren zu sehr nach eigenen Regeln operierte (das ist auch der Hintergrund von Wilders A Foreign Affair: eine Kommission des Kongresses fliegt nach Berlin, um den Militärs auf die Finger zu schauen).
Außer ein paar Wirrköpfen forderte niemand, Ilse Koch am nächsten Laternenpfahl aufzuhängen. Das eine breitere Öffentlichkeit beschäftigende Thema war dasselbe wie in Kramers Judgment at Nuremberg, wo dem Richter nahegelegt wird, die Angeklagten billig davonkommen zu lassen, weil das politisch opportun sei. General Clay konnte davon ein Lied singen. Zuerst sollten die NS-Verbrechen unnachgiebig verfolgt werden. Dann wurde ihm bedeutet, dass er bei der Überprüfung der in Dachau gefällten Urteile Milde walten lassen solle, weil die Prozesse die deutsche Bevölkerung zunehmend gegen die amerikanischen Besatzer aufbrachten. Diese Bevölkerung wollte man aber auf die Seite der Amerikaner bringen, um Westdeutschland als Bollwerk gegen den Kommunismus aufzubauen. Aus der harten Linie wurde ein Schmusekurs. Noch ausstehende Verfahren wurden abgekürzt oder eingestellt, Haftstrafen reduziert; ein zum Tode verurteilter NS-Kriegsverbrecher, der bis Ende 1948 noch nicht hingerichtet war, hatte beste Chancen, nach der Umwandlung in eine Gefängnisstrafe bis Mitte der 1950er freizukommen.
Für uns ist das kein Grund, die Nase zu rümpfen. Wenn die deutsche Öffentlichkeit energisch eine Bestrafung der Täter gefordert hätte, wäre manches anders gelaufen. Verlangt wurde ein Schlussstrich. Die amerikanischen Entscheidungsträger kamen diesem Wunsch nach, weil jetzt der Kalte Krieg zu führen war und wieder einmal der Zweck die Mittel heiligte. Unumstritten war das nicht. Der Skandal um die Reduzierung des Koch-Urteils ist auch ein Ausdruck dessen, dass die Kehrtwende vielen Amerikanern schwer zu schaffen machte, den Veteranen beispielsweise und den Hinterbliebenen von denen, die im Kampf gegen Nazi-Deutschland gefallen waren. "Es bedarf eines Falles wie dem von Ilse Koch", schrieb der Philadelphia Inquirer (7.10.1948), "um viele Amerikaner aufzuwecken und ihnen das ungeheure Ausmaß bewusst zu machen, in dem sich seit 1945 unsere psychologische und politische Einstellung gegenüber dem [Dritten] Reich verändert hat."
Amerikanische Senatoren und deutsche demokratische Frauen gegen Ilse Koch
Der Ferguson-Ausschuss befragte den Armeeminister, hochrangige Offiziere, Ankläger und Verteidiger des Buchenwaldprozesses, den Vorsitzenden Richter, Experten für Militärrecht und KZ-Überlebende. Grundlegend Neues wurde dabei nicht zutage gefördert. Dann legten die Senatoren einen "Zwischenbericht" vor (auf den Abschlussbericht wartet man bis heute), der viel Allgemeines über Buchenwald enthielt, von der Geschichte des Lagers bis zu den dort begangenen Verbrechen, und wenig Konkretes über Ilse Koch und ihre Verstrickung in diese Verbrechen. Das heißt nicht, dass sie eine völlig unschuldige Person war. Es heißt, dass auch der Ausschuss keine wirklich gerichtsfesten Beweise für schwere Straftaten vorlegen konnte. Hier kann man jetzt sagen, dass Ferguson trotzdem ewige Kerkerhaft für Ilse Koch forderte, weil die Politik so ist und es von Anfang an das Ziel war, der Regierung und der Armee eins auszuwischen. In der etwas anspruchsvolleren Variante muss man sich am Konzept des Common Design abarbeiten, an der Beteiligung an einem gemeinsam gefassten und ausgeführten Plan als Grundlage für die Strafzumessung.
Ferguson, selbst Richter, interpretierte dieses Konzept viel großzügiger als Clays Juristen. Was diese als Hörensagen gewertet hatten, war für ihn ein Beweis. Die Idee, dass es sich um eine Massensuggestion handeln könnte, ließ er nicht gelten. Dabei spielte sicher eine Rolle, dass der Ausschuss die amerikanischen Wähler im Blick hatte. Die Auslegung von Paragraphen ist immer sehr situationsabhängig. Bei jeder Form von Interpretation ist das so. Darum kann einer für Recht halten, was für den anderen Unrecht ist, und mit einem allgemeinen oder individuellen Gerechtigkeitsempfinden hat oft beides nicht viel zu tun. Der Ferguson-Ausschuss schloss sich der Meinung des Dachauer Militärtribunals an und zog dieses Fazit: "Mit dem Schuldurteil wurde festgestellt, dass Ilse Koch, aus freiem Willen und ohne Provokation, die Gesetze des Krieges verletzt und gegen Sitte und Anstand verstoßen hat. Vier Jahre Haft ist keine gerechte Strafe für ihr Handeln."
Das war die Kritik an General Clay und seiner Überprüfungskommission. Rechtlich war die Reduzierung der Haft auf vier Jahre nicht rückgängig zu machen. Andererseits hatte es seit der Bekanntgabe von Clays Entscheidung eine Flut von Artikeln, Augenzeugenberichten und Leserbriefen ehemaliger Häftlinge (von deutschen Kommunisten bis zu australischen Kriegsgefangenen) über Ilse Kochs Grausamkeitsexzesse gegeben. Je mehr sich das Bild von Ilse Koch als Satan in Menschengestalt und Verkörperung des Naziterrors verfestigte, desto stärker wurde der Druck, die Hexe von Buchenwald ihrer gerechten Bestrafung zuzuführen. Angesichts des Zerrbilds, das entstanden war, wurde der Gedanke an ihre bald bevorstehende Freilassung unerträglich. Der Ferguson-Ausschuss wusste Rat: Die Deutschen sollten sich darum kümmern. Die Senatoren griffen damit den Vorschlag einiger Kommentatoren auf, die sich mit dem Problem beschäftigt hatten, dass Ilse Koch nicht zweimal wegen derselben Sache angeklagt werden konnte. Die Lösung: Das amerikanische Militärtribunal war für die an Nicht-Deutschen begangenen Verbrechen zuständig gewesen. Jetzt sollte sie sich vor einem deutschen Gericht wegen der an Deutschen begangenen Verbrechen verantworten. Ferguson teilte auch gleich mit, wie das auszugehen hatte: Lebenslänglich für Ilse Koch!
Da Ilse Koch in Landsberg einsaß, waren jetzt die Bayerische Staatsregierung und die Augsburger Staatsanwaltschaft gefragt. In Bayern hätte man das Verfahren gern abgegeben. Die Staatsanwaltschaft in Weimar wollte es übernehmen, das bayerische Justizministerium stimmte zu. Man hatte aber die Rechnung ohne General Clay gemacht, der ein anti-westliches, von den Russen inszeniertes Propagandaspektakel befürchtete, mit den kommunistischen Kapos als Helden des Kampfes gegen den Faschismus. Ganz unbegründet war das nicht. Die angehende DDR hatte kurzerhand erklärt, dass es auf ihrem Gebiet keine Nazis gab, nur im Westen, und eine Kampagne zur Schmähung der westlichen Demokratie als Institution zum Schutz von NS-Verbrechern entfacht. Besonders engagiert zeigte sich der Demokratische Frauenbund Deutschland (Ost), dessen Aktivistinnen forderten, Ilse Koch zu bestrafen und von der anständigen deutschen Frau abzugrenzen.
Clay lehnte es ab, Ilse Koch an die ostdeutsche Justiz auszuliefern und erhöhte so den Druck auf die Staatsregierung in München, bis schließlich doch die Augsburger Staatsanwaltschaft die Kommandantengattin ein drittes Mal vor Gericht brachte. Die Ermittlungen leitete Johann Ilkow, ein Verfolgter des NS-Regimes. Ilse Koch wurde durch den späteren Chef der CSU-Landtagsfraktion und bayerischen Innenminister Alfred Seidl vertreten, der sich als Verteidiger in mehreren der in Nürnberg durchgeführten NS-Prozesse einen Namen gemacht hatte. Trotz der Unterstützung durch die Amerikaner, umfangreicher Zeugenbefragungen und einer Reise in die USA (dort lebten inzwischen viele ehemalige Häftlinge) wurde die Beweislage nicht wirklich besser. In Büchern und Zeitungen erscheinende Berichte über Lampenschirme und die rothaarige Kommandeuse mit der Reitpeitsche blieben anekdotisch.
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