Die Kommandeuse, die anständige deutsche Frau und der Befehlsnotstand

Seite 4: Die Gnädige hat einen Tobsuchtsanfall

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Lucius D. Clay veröffentlichte 1950 sein Buch Decision in Germany, das rechtzeitig zum Prozess in Augsburg auch in deutscher Übersetzung vorlag. Unter den 1.672 Personen, schreibt er, die in Dachau bis Ende 1947 als Kriegsverbrecher verurteilt wurden, habe sich auch Ilse Koch befunden, "die als ‚Bestie von Buchenwald’ gebrandmarkt worden war, aber als ich die Unterlagen überprüfte, konnte ich nicht feststellen, dass sie eine der Hauptbeteiligten an den Verbrechen von Buchenwald war. Als eine verkommene, ehrlose Person hatte sie sich daran erfreut, ihre durch enge Pullover und kurze Röcke betonte Geschlechtlichkeit vor den seit langem inhaftierten männlichen Gefangenen zur Schau zu stellen und sich dadurch ihren bitteren Hass zugezogen. Nichtsdestotrotz waren das nicht die Vergehen, deretwegen sie vor Gericht gestellt wurde, und deshalb reduzierte ich ihr Strafmaß […]." Was von Passagen wie dieser im Gedächtnis blieb waren die kurzen Röcke, die engen Pullover und der die Phantasie weiter anregende Gedanke, dass da eine Frau eine schier unbegrenzte Macht über ein Lager voller Männer hatte. Ilse Koch sei "mit exhibitionistisch auf Sex Appeal hergerichteter Kleidung, kurzem Röckchen und durchsichtiger Bluse, oder knappem Büstenhalter und Shorts" durch das Lager gegangen (oder geritten), so der Spiegel.

Das Augsburger Landgericht vernahm 241 Zeugen, rund 50 davon auf Antrag der Verteidigung. Die Richter kamen zu dem Schluss, dass man in Buchenwald Schrumpfköpfe herstellte und toten Häftlingen tätowierte Hautstücke abzog, um sie zu gerben und zu "Schaustücken" oder "Geschenkartikeln" zu verarbeiten. "Mit der Frage nach Tötungsverbrechen im Zusammenhang mit dem Tätowierungskomplex", steht in der Urteilsbegründung, "brauchte sich das Schwurgericht infolge der […] Einstellung des Verfahrens nicht weiter auseinanderzusetzen." Soll heißen: Die diesbezüglich gegen Ilse Koch erhobenen Vorwürfe ließ man frühzeitig fallen, weil sie sich nicht erhärten ließen. Das Gericht in Augsburg zog sich geschickt aus der Affäre, weil eine Überprüfung der allgemein bekannten und nicht belegbaren Anschuldigungen nun nicht mehr Teil der Wahrheitsfindung war. Trotzdem spielte der Lampenschirm in Augsburg eine wichtige Rolle, genauso wie zuvor beim Prozess in Dachau, wo es auch nicht gelungen war, eine Verbindung zwischen der Angeklagten und tätowierten Menschenhäuten herzustellen - oder höchstens eine assoziative.

Der Prozess dauerte vom 27. November 1950 bis zum 15. Januar 1951. Nach dem achten Verhandlungstag demolierte die Angeklagte ihre Zelle. In der Folge nahm sie nur noch unregelmäßig am Prozess teil, weil zwei Gutachter sie mehrfach für verhandlungsunfähig erklärten. In der Urteilsbegründung wird dazu ausgeführt: 1944, vor dem SS-Gericht, hatte Ilse Koch sich schön angezogen und den Richtern schöne Augen gemacht und war deshalb freigesprochen worden. Am achten Verhandlungstag wurde ihr bewusst, dass ihr das in Augsburg nichts nützen würde. Daher trat sie die "Flucht in die Krankheit" an und versetzte sich absichtlich in eine "affektive Lage". Die Gutachter erklärten, dass sie sich schuldhaft "in einen abnormen seelischen Zustand" manövriert habe, aus dem sie sich dann "nicht ohne weiteres wieder frei machen" konnte. Darum war sie vorübergehend verhandlungsunfähig, aber auch voll zurechnungsfähig. Da man ihr die vorsätzliche "Sabotageaktion" nicht durchgehen lassen konnte, wurde notfalls ohne sie verhandelt. Ilse Koch war auch verhandlungsunfähig und daher abwesend, als sie am 15. Januar 1951 der "Anstiftung zum Morde und zum versuchten Morde" in mehreren Fällen für schuldig befunden wurde. Die "berüchtigte Kommandeuse von Buchenwald", meldete die Wochenschau, habe "mehrmals Tobsuchtsanfälle inszeniert".

In der Anklageschrift der Augsburger Staatsanwaltschaft heißt es, Ilse Koch sei die "unumschränkte Gebieterin" über den Ettersberg gewesen. In der Urteilsbegründung ist das deutlich zurückgenommen. Die Beweisaufnahme, so das Gericht, habe nicht ergeben, "dass sich die Koch häufig im Häftlingslager zeigte". Sie sei jedoch im Außenbereich und in der SS-Führersiedlung regelmäßig Gefangenen begegnet. Gut fünfzig Vorfälle sind aufgelistet, derer sie das Gericht für überführt hält. Man kann sie in drei Gruppen unterteilen. 1. Ilse Koch meldet einen Häftling wegen schlechter Arbeitsleistung der SS, der Mann muss auf den Prügelbock und erhält 25 Hiebe. 2. Ilse Koch meldet einen Häftling wegen anstößigen Verhaltens der SS, der Mann kriegt 25 Hiebe. 3. Ilse Koch ärgert sich über das Verhalten eines Häftlings und schlägt ihn mit der Reitpeitsche.

Beim Lesen der Urteilsbegründung ist vor meinem geistigen Auge das Bild einer aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Aufsteigerin entstanden, die es genießt, die Gattin des Kommandanten zu sein und andere spüren lässt, was für eine wichtige Person sie ist. In einem Villenviertel, als Frau eines reich gewordenen Spekulanten beispielsweise, hätte sie Dienstboten und Lieferanten schikaniert. In Buchenwald traf sie mit ihrer Attitüde der gnädigen Frau auf völlig entrechtete, als "Untermenschen" behandelte Häftlinge. Darf man solche Vergleiche anstellen? Sie drängen sich einem dauernd auf. Herr Koch ließ im Häftlingslager Menschen foltern und ermorden und überzog die Henkersknechte von der SS mit immer neuen Kommandanturbefehlen zur Hausordnung, in denen er im Stile eines pedantischen Hausmeisters Regeln für korrektes Verhalten im Freizeitbereich aufstellte. Frau Koch ließ es nicht durchgehen, wenn ein Fliesenleger schlampig gearbeitet hatte, worauf der Mann von der SS verprügelt wurde; die Rechnung erst nach korrekt erbrachter Leistung zu bezahlen war keine Alternative, weil es sich beim Fliesenleger um einen Zwangsarbeiter aus dem Lager handelte. Das war der ganz normale Wahnsinn des Lebens in der Führersiedlung, wo Papa, Mama und die Kinder den Alltag einer bürgerlichen Familie simulierten.

Die deutsche Frau tut auch mal Gutes

Unabhängig davon, was einem das persönliche Gerechtigkeitsempfinden sagt: Das Gericht war an das Strafgesetzbuch gebunden. Die Anstifterin ohne Befehlsgewalt und ohne Einbindung in die Verwaltungsstruktur des Lagers ist ein gutes Stück entfernt von der "unumschränkten Gebieterin", die der Staatsanwalt angeklagt hatte. Eine lebenslange Haftstrafe gab das eigentlich nicht her. Trotzdem stand am Ende genau das Urteil, das der Ferguson-Ausschuss gefordert hatte. Ob das ein Zufall war? Die Probleme fangen schon mit dem Vorsatz an. Wusste Ilse Koch, dass die von ihr gemeldeten Häftlinge ausgepeitscht und womöglich getötet wurden, obwohl sie scheinbar doch nicht im kurzen Röckchen durch das Lager ging? Durchaus, sagt das Gericht: "Die Geschehnisse im Häftlingslager waren zwar nicht für die übrigen SS-Führerangehörigen, wohl aber für die Koch von lebhaftem Interesse." Beim Abendappell sei sie wiederholt am Zaun, unter dem Tor oder auf dem Lagerturm beobachtet worden, wenn Auspeitschungen anstanden. Und sie habe vom Zaun aus zugesehen, als sich Tausende von Häftlingen auf dem Appellplatz nackt ausziehen mussten und einer Leibesvisitation unterzogen wurden. Zur Zerstreuung eventuell verbliebener Zweifel wurde der berüchtigte "Prügelbock" im Gerichtssaal aufgebaut. "Guilty by association", nennen das die Amerikaner. Man erinnere sich an den Schrumpfkopf, den Ankläger Denison in Dachau neben Ilse Koch gehalten hatte.

Von entscheidender Bedeutung waren die "übrigen SS-Führerangehörigen", sprich: die anderen Frauen in der Siedlung. Diese wurden entschlossen gegenüber der Kommandeuse abgegrenzt (und standen nun nicht mehr mit ihr am Zaun - wie in der ursprünglichen, von Männchen und Kogon erzählten Version -, wenn sich die Häftlinge nackt ausziehen mussten). Ilse Koch, so das Gericht, habe Prügelstrafen veranlasst, die sie "als Mensch und insbesondere als Frau hätte ablehnen müssen". Gemeldet habe sie die Häftlinge meist aus dem "fadenscheinigen Grund eines unsittlichen, begehrlichen oder unziemlichen Ansehens". Dieses begehrliche Ansehen habe sie selbst provoziert, "durch ihr Auftreten verbunden mit einer die Körperformen besonders betonenden oder den Körper nur mäßig verhüllenden Kleidung". Bei kühleren Temperaturen sei sie mit Vorliebe "in enganliegendem Reitdress" erschienen. "Im Sommer bevorzugte sie an heissen Tagen in ihrem Garten den Badeanzug, auch wenn Häftlinge in der Nähe arbeiteten und sie sehen konnten, oder auf der Strasse eine kurze Hose mit Brusttuch." Die Straße in der Führersiedlung war übrigens nach Theodor Eicke benannt, dem Inspekteur der Konzentrationslager. Aber vor Gericht stand in Augsburg nicht die SS (deren Angehörige wurden gerade amnestiert), sondern eine perverse Schlampe.

Ohne KZ und gefolterte Häftlinge könnten der enge Reitdress und die kurze Hose aus althergebrachten Begründungen dafür stammen, warum eine Frau selbst schuld ist, wenn sie vergewaltigt wird. Beim Lesen dieses Textes habe ich mich öfter gefragt, in was für eine verrückte Welt ich da geraten bin. Was wäre gewesen, wenn Ilse Koch beim Anblick der Häftlinge in ihrer Villa verschwunden wäre oder sich schnell etwas übergeworfen hätte, statt sich im Badeanzug zu sonnen oder die Blumen zu gießen? Die SS hätte weiter Menschen gequält, erniedrigt und ermordet, weil das Sinn und Zweck dieses Lagers war. Karl Otto Koch, der Kommandant, hätte für diese Tätigkeit weiter ein Gehalt bezogen. Aber die Gattin des Kommandanten wäre eine brave deutsche Frau gewesen - dies allerdings nur, wenn sie mit dem ihr von Karl zugeteilten Haushaltsgeld ausgekommen wäre, statt sich mit dem Geld, das ihr Ehemann den Juden geraubt hatte, ein Mercedes-Cabriolet zu kaufen.

Wie sich eine deutsche Frau richtig verhält, ist am Ende der Urteilsbegründung nachzulesen, unter "Strafzumessung": Die deutsche Frau "beschränkt sich auf ihren häuslichen Wirkungskreis", kriegt also Kinder, besorgt den Haushalt und kümmert sich nicht um die beruflichen Belange ihres Ehemanns. Eine deutsche Frau fühlt aber doch, als Frau, dass ein KZ "nach eigenen harten Gesetzen […] verwaltet" wird und tut "Gutes", soweit das "in ihren schwachen Kräften" steht. Manchmal muss die deutsche Frau jedoch mit eigenen Augen sehen, dass die Häftlinge schlecht behandelt werden, weil sie das Kommen der Arbeitssklaven zu spät bemerkt hat, um noch wegzugehen. Was macht sie in einem solchen Fall? Jede andere Frau eines SS-Führers, so das Gericht, wusste das genau: "Dann war Zurückhaltung am Platze, weil diese eben der Einstellung dieser Frau entsprach". Lobend hervorgehoben wird die Tochter des Ersten Schutzhaftlagerführers Arthur Rödl: "Sie erklärte, sie habe den Blick abgewendet, wenn sie merkte, dass Häftlinge überanstrengt oder misshandelt wurden." Es habe, so das Gericht, "im Wesen der Frauen" gelegen, "sich so zu verhalten".

Und Ilse Koch, die Schlampe im Badeanzug? "Nur die Koch lehnte es ab, eine menschliche Regung dieser Art aufkommen und sich zu Gunsten der Häftlinge auswirken zu lassen. Sie unterdrückte nach der Überzeugung des Schwurgerichts bewusst jegliches Mitleid und jegliches Mitgefühl, das sich bei ihr als Frau einstellte." Ein Sachverständiger bejahte zwar "eine triebhafte Grundlage in dem Wesen der Koch […], führte aber im übrigen überzeugend aus, dass die Koch sowohl verstandes- wie willensmäßig in der Lage gewesen sei, nicht diese Anlage, sondern die guten, fraulichen Regungen wirksam werden zu lassen. Dass sie das nicht tat, sondern bereitwillig die Gelegenheit zu einer Betätigung im gegenteiligen Sinne wahrnahm, musste die Koch belasten und konnte sie nicht entlasten." Worin bestand diese "Betätigung"? Die Beweisaufnahme, so das Gericht, habe ergeben, dass Ilse Koch "persönlich an der brutalen Behandlung der Häftlinge interessiert" gewesen sei, mit "innerer Billigung", habe sie "sich nicht - wie andere Frauen - möglichst abseits des allgemeinen Lagergeschehens" gehalten "und sich häufig mit offenen Augen im äusseren Lagerbereich" bewegt.

Der Grausamkeitsroboter leistet einen Beitrag zum KZ-Geschehen

Als strafverschärfend wertete es das Gericht, dass Ilse Koch nicht nur ihre "fraulichen Regungen" unterdrückt, sondern "eine innere Befriedigung" dabei empfunden habe, als Privatperson einen "fühlbaren Beitrag" zum "herrschenden System" im KZ zu leisten: "Sie war in Buchenwald als Ehefrau des Lagerführers und als Mutter ihrer Kinder und hatte dort keinerlei dienstliche Funktionen. Während das Aufsichtspersonal beruflich in die Führung des [KZ] eingegliedert war und sich bei seinem Zusammensein mit den Häftlingen auch mit dienstlichen Belangen auseinandersetzen musste, wäre es für die Koch Pflicht und für sie als Frau auch ein leichtes gewesen, sich aus dem [KZ]-Geschehen völlig fernzuhalten und gleich den anderen Frauen nur ihrer Familie zu leben." Ilse Koch gehörte also weder zur SS oder (als Aufseherin) zum "SS-Gefolge" noch zu den SS-Ehefrauen und war somit eine Einzeltäterin.

Chapeau! In einem Prozess über ein Konzentrationslager, in dem mehr als 50.000 Menschen durch Terror, Aushungern und Mord ihr Leben verloren, muss man das erst mal schaffen. Damit leistete das Gericht einen schönen Beitrag zur baldigen Bewältigung der Vergangenheit. Im Dritten Reich hatten perverse Einzeltäter schlimme Sachen angestellt, während die übergroße Mehrheit der Deutschen ihren dienstlichen Belangen nachging (beim "Zusammensein mit den Häftlingen" im KZ musste man sich auch mal mit Aspekten der Pflichterfüllung auseinandersetzen, die man persönlich ablehnte), nur der Familie lebte oder peinlich berührt den Blick senkte, wenn die Gestapo den Nachbarn aus seinem Haus holte. Das hatten schon die Amerikaner bei der Befreiung von Buchenwald erfahren. In Weimar hatte nie einer hingeschaut, wenn die Häftlinge am Bahnhof ankamen und unter Prügeln auf den Ettersberg getrieben wurden.

Ich erkenne da eine unheimliche Kontinuität mit dem Befund des SS-Gerichts von 1944. Der Massenmörder Karl Otto Koch wurde hingerichtet, weil er private Morde in Auftrag gegeben und das Geld ausgeplünderter Häftlinge auf private Konten verschoben hatte. 1951 wurde seine Gattin zu lebenslanger Haft verurteilt (die in der DDR geforderte Todesstrafe war in der BRD abgeschafft), weil sie als Privatperson einen Beitrag zum "KZ-Geschehen" geleistet hatte. Hätte sie in dienstlicher Funktion russische Kriegsgefangene liquidiert oder angeordnet, die Häftlinge verhungern zu lassen, hätte man ihr einen Befehlsnotstand zugebilligt wie den zahlreichen SS-Schergen, die nun zügig in die Freiheit entlassen (oder gar nicht erst angeklagt) wurden.

Opfergang

An heißen Sommertagen trug Ilse Koch einen zweiteiligen Badeanzug. Das entnehme ich der Urteilsbegründung. Was fängt man an mit dieser Information? Wie interpretiert man sie, ohne sich selbst dem Wahnsinn auszuliefern? Wäre ein einteiliger Badeanzug, wie ihn Kristina Söderbaum als Amazone in Veit Harlans Opfergang trägt, gerade noch statthaft gewesen? Trugen die anderen SS-Ehefrauen einen Haushaltskittel, wenn Häftlinge in die Siedlung kamen, weil sie anständige Menschen waren? Drapierte sich Ilse Koch vor den Gefangenen im Bikini, um sie zu erregen und für diese Erregung strafen zu können? Wurde sie später zur Rechenschaft gezogen, weil sie die Normalität übertrieben und die Charade in der SS-Siedlung ad absurdum geführt hatte? Oder wurde die Bademode zum Thema, weil Photos aus dem Koch’schen Familienalbum seit dem Prozess in Dachau in der Öffentlichkeit kursierten und die Wahrnehmung bestimmten, womöglich auch die der Augenzeugen?

Beim Prozess in Dachau hatte der Pflichtverteidiger alle Versuche der Anklagevertretung unterbunden, das Liebesleben der Beschuldigten zu erörtern. In Augsburg war das anders. In der Urteilsbegründung wird festgehalten, dass sie einen zweifachen Ehebruch zugegeben habe (mit Hoven und Florstedt, dem stellvertretenden Kommandanten). Dem Gericht war das sehr wichtig - ganz so, als würde eine Frau, die ihrem Gatten untreu ist, irgendwann auch Männern die Haut abziehen. Ein Experte steuerte ein psychiatrisches Gutachten bei, in dem Ilse Koch attestiert wird, aus der Welt des Marquis de Sade zu stammen und ein "Grausamkeitsroboter" zu sein. Ergänzt wird das mit Bemerkungen über eine barbarische Vorzeit, in der die Grausamkeit der Frauen viel größer als die der Männer gewesen sei. Mir scheint, dass der Experte zu intensiv in Erich Wulffens Das Weib als Sexualverbrecherin geschmökert hatte, einem kriminologischen Standardwerk aus den 1920ern.

Widriges Geschick

Es solle bewiesen werden, sagte Ilse Kochs Verteidiger Alfred Seidl vor Prozessbeginn dem Spiegel, dass seine Mandantin zwar voll zurechnungsfähig sei, "es sich aber bei ihr um eine Persönlichkeit handele, der infolge Hemmungslosigkeit, sadistischer Neigungen, Triebhaftigkeit, Haltlosigkeit, Rachsucht und perverser Veranlagung jede Schlechtigkeit zuzutrauen ist". Das war dann auch das Bild, das sich der Öffentlichkeit durch den Prozess (und durch Vorarbeiten wie die im Spiegel) vermittelte. Ich könnte mir gut vorstellen, dass einige prominente Buchenwald-Überlebende darum baten, in Augsburg als Zeuge entschuldigt zu werden (wofür sie öffentlich gerügt wurden), weil sie nicht beteiligt sein wollten, wenn das Konzentrationslager in eine Freakshow verwandelt wurde. Einer von ihnen war der große Psychoanalytiker Bruno Bettelheim, der in Buchenwald begonnen hatte, seine Theorien zur "Psychologie des Terrors" zu entwickeln. Bettelheims Kinder brauchen Märchen ist immer noch absolut lesenswert und zur "Hexe von Buchenwald" sehr instruktiv.

Die Urteilsbegründung beginnt mit neun Seiten über "Die Konzentrationslager im allgemeinen und das Konzentrationslager im besonderen". Dessen ungeachtet stand Ilse Koch am Ende des Prozesses als perverse Einzeltäterin außerhalb der SS und ihrer Organisationen da, traten die Strukturen in den Hintergrund, die es ihr erst ermöglicht hatten, ihre perversen Neigungen (falls vorhanden) auszuleben. Einer, der diese Strukturen mit geprägt hatte, der Höhere SS- und Polizeiführer, General der Polizei und General der Waffen-SS Josias zu Waldeck und Pyrmont, als Adjutant und Duzfreund Heinrich Himmlers schon vor der "Machtergreifung" 1933 bestens mit den Plänen der NS-Führung vertraut, wurde am 29. November 1950 aus gesundheitlichen Gründen aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg entlassen. Anfang 1951 rollte eine Amnestiewelle an. Ein paar Jahre später war keiner von den Mördern mehr in Haft, die zusammen mit Ilse Koch beim Dachauer Buchenwald-Prozess verurteilt worden waren. Einige hatte man hingerichtet, die anderen kamen frei.

Nur Ilse Koch, die nach Meinung des Augsburger Gerichts quasi privat und freiwillig Verbrechen begangen hatte und sich daher nicht, wie die SS-Leute, auf einen Befehlsnotstand berufen konnte, blieb in Haft. Das letzte der vom bayerischen Justizminister wie immer abgelehnten Gnadengesuche ist aus dem Jahr 1967. Die Dokumentation Die Hexe von Buchenwald zitiert aus einer internen Stellungnahme des Justizministers Philipp Held: "Der Name der ‚Kommandeuse’ Ilse Koch ist in der Weltöffentlichkeit untrennbar mit dem KZ-System schlechthin verbunden. Es gibt daher keinen persönlichen Fall ‚Koch’, sondern nur das Politikum ‚Koch’. Das ist das Geschick dieser Frau." Von einem entschlossenen Vorgehen des Ministers gegen Juristen, deren "Geschick" es war, in NS-Sondergerichten ihre Pflicht zu tun und nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs ihre Karrieren unbehelligt fortzusetzen, ist nichts bekannt.

Held gehörte derselben Partei an wie der Verwaltungsrechtler Theodor Maunz. Dieser Herr war im Dritten Reich bemüht, dem Führerstaat, der Diktatur und der Abschaffung der Gewaltenteilung eine "legale" Grundlage zu geben. Als bayerischer Kultusminister war das (anonym) auch für die rechtsextreme National-Zeitung schreibende CSU-Mitglied von 1957 bis 1964 für den Geschichtsunterricht an Bayerns Schulen zuständig. Prof. Dr. Maunz musste zurücktreten, als seine NS-Vergangenheit publik wurde. Ohne bekannte Perversionen im Lebenslauf durfte er jedoch als "anständiger" Deutscher gelten. Prof. Dr. Theodor Maunz wurde 1981 mit dem Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst geehrt.

Nazisploitation

Ilse Koch erhängte sich am 2. September 1967 an der Tür ihrer Zelle im Frauengefängnis Aichach. Als Hexe von Buchenwald, Kommandeuse und Lampenschirm-Ilse war sie da längst in die Populärkultur eingegangen. 1958 gelang Leon Uris mit Exodus ein Weltbestseller. Karen, eine der Hauptfiguren, hat den Holocaust bei Pflegeeltern überlebt. Nach dem Krieg sucht sie nach ihrer Familie und erfährt von den Verbrechen, die die Nazis an den Juden begangen haben, hört von Himmler und Frank und Kaltenbrunner und Streicher und von "Ilse Koch, die Lampenschirme aus tätowierter Menschenhaut hergestellt hatte". Wahrscheinlich besaß in den 1960ern nicht jeder jüdische Haushalt ein Exemplar des Romans, wie Mark Jacobson in The Lampshade meint, sehr viele aber doch. Jacobson erinnert sich an seine eigene Kindheit, als er nie über das Kapitel hinauskam, in dem Uris über Ilse Koch schrieb und sich dann voller Angst vor dieser Schreckgestalt die Bettdecke über den Kopf zog.

Vielleicht ist es also alles andere als ein Zufall, sondern eine Art Exorzismus, dass mit Dave Friedman ein Jude Ilsa, She Wolf of the SS produzierte. Ilsa wird am Ende von einem Mordkommando der SS liquidiert, um Spuren zu verwischen. Der Film war aber so erfolgreich, dass sie 1976 zurückkehrte, um die Sexsklavinnen eines Ölscheichs zu kommandieren (Ilsa, Harem Keeper of the Oil Sheiks). In Ilsa, the Tigress of Siberia (1977) ist sie die Herrscherin über Gulag 14 und wird dann Bordellchefin in Montreal, wo sie mit modernsten Mitteln ihre medizinischen Experimente fortsetzt, und in Jess Francos Greta - Haus ohne Männer (1977), auch bekannt als Ilsa, the Wicked Warden, hat sie sich nach Südamerika abgesetzt, um in einer Besserungsanstalt für psychisch abnorme Straftäterinnen ihr Schreckensregiment zu führen. In gewisser Weise schloss sich ein Kreis, als sich nach den Sexploitation-Filmern auch die Pornoindustrie der Figur bemächtigte, die einmal entstanden war, um die Vergangenheit zu bewältigen, indem man den verbrecherischen Teil des Nationalsozialismus in die Ecke mit den Sexualpathologien abschob (als Absolvent eines bayerischen Gymnasiums habe ich noch gelernt, dass es im Dritten Reich "auch Gutes" gab und dass die Nazis "obszön und pervers" waren).

In Prisoner of Paradise (1980) verschlägt es den schiffbrüchigen Joe Murrey auf eine Insel im Südpazifik, wo die Nazis ein von Hans von Shlemel befehligtes Gefangenenlager unterhalten. Von Shlemel assistieren die von den Japanern abkommandierte Suke und zwei junge deutsche Frauen, Ilsa (verkörpert vom Pornostar Seka) und Greta. Wie könnten sie sonst auch heißen? Beim Versuch, zwei amerikanische Krankenschwestern zu befreien, gerät Joe selbst in Gefangenschaft und muss nun an den von Ilsa und ihren Helfern erdachten Sexfoltern teilnehmen, bei denen der Wagner-Liebhaber von Shlemel als Zeremonienmeister fungiert und auch mal die Peitsche schwingt. Nachdem mit wechselnden Partnern die für Hardcore-Pornos üblichen Stellungen und Ejakulationen absolviert sind, fliegt das Lager in die Luft, weil dem auf Insel-Sex spezialisierten Regisseur Bob Chinn außer Archivaufnahmen von Seeschlachten und Luftangriffen auch etwas Pyrotechnik zur Verfügung stand, um sein Werk - Hogan’s Heroes mit Geschlechtsteilen - ein wenig aufzupeppen. Gail Palmer, als Produzentin, Drehbuchautorin und Darstellerin der "Lady of the Night" mit dabei, führt mit viel Spaß an der Freud (und in Uniform) durch den Trailer, der den als "big budget mix of X-rated war epic and Nazisploitation" anpreist.

Prisoner of Paradise

Als Gail Patrick die Welt mit ihrem auch als Nazi Love Island vertriebenen Porno beglückte, hatten amerikanische Veteranen damit begonnen, ihre Reminiszenzen an den Zweiten Weltkrieg unters Volk zu bringen - oder zumindest das, woran sie sich erinnern konnten bzw. wollten. Manchmal hat man den Eindruck, dass es in diesem Segment der Memoirenliteratur zum guten Ton gehört, ein Befreier von Buchenwald zu sein und dabei Ilse Koch (oder wenigstens ihren Lampenschirm) gesehen zu haben, obwohl das objektiv unmöglich war. Das wäre eine - mitunter tragikomische - Fußnote zur Ilse-Koch-Story, wenn da nicht noch Irene Weisberg Zisblatt wäre. Frau Zisblatt hatte Auschwitz und andere Lager überlebt, begann jedoch erst, davon zu sprechen, als sie 1994 Schindlers Liste sah. 1995 wurde sie für Steven Spielbergs Survivors of the Shoah Visual History Foundation befragt. Sie ist eine von fünf ungarischen Holocaust-Überlebenden, deren Geschichte im gelegentlich arg kitschigen, 1999 mit einem Oscar prämierten Dokumentarfilm The Last Days erzählt wird.

Der Historiker Joachim Neander hat Frau Zisblatts Angaben überprüft. Es kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass sie im Mai 1944 nach Auschwitz deportiert wurde, die Selektionen für die Gaskammer überstand und danach Zwangsarbeit und Todesmärsche. Bei der audiovisuellen Aufzeichnung ihres Zeugnisses durch die Shoah Foundation aber hatten Frau Zisblatts eigene Erinnerungen längst angefangen, sich mit denen anderer Überlebender, historisch verbürgten Fakten und pop-kulturellen Überlieferungen zu vermischen. Bei Memoiren ist das ein nicht ganz seltenes Phänomen. Wer wollte einem Menschen wie Irene Zisblatt einen Vorwurf daraus machen, dass sie das Leid, das sie erfahren musste, in eine Erzählung einbettet, die ihr den Umgang mit einer für Außenstehende unvorstellbaren Vergangenheit ein wenig leichter macht? Im Laufe der Zeit schmückte sie ihre Geschichte immer weiter aus, wie Leute es eben tun, wenn sie wiederholt aus ihrer Vergangenheit erzählen und merken, was die Zuhörer am meisten interessiert. So wurde aus der kollektiven Erinnerung die individuelle von Frau Zisblatt, und eine Ghostwriterin formte ein Buch daraus, ohne die Details auf ihre Plausibilität zu befragen.

In so einer Geschichte darf Ilse Koch nicht fehlen, die bei Irene Zisblatt "Ilsa" heißt wie im Nazisploitationfilm. Die Kommandeuse, erfährt man, sucht junge Frauen mit schöner Haut für ihre Lampenschirme. Irene ist eines von hundert potentiellen Opfern, die vor Dr. Mengele nackt auf und ab gehen müssen. Sie und 14 andere der jungen Frauen werden schließlich ausgewählt und nach Majdanek gebracht, wo sich die Hexe von Buchenwald angesagt hat. 48 Stunden später geht es zurück nach Auschwitz, weil Ilse Koch nicht gekommen ist. Das ist kein Wunder, denn sie und ihr Mann saßen seit August 1943 im Gefängnis und warteten auf ihren Prozess vor dem SS- und Polizeigericht. Es sei Frau Zisblatt unbenommen, von anderen erfundene NS-Legenden in ihre doch sehr subjektiven Erinnerungen zu integrieren. Als Überlebende des Holocaust hat sie das Recht, mit dem, was man ihr und ihrer Familie angetan hat, auf die ihr adäquate Weise umzugehen. Allerdings hält sie Vorträge und tritt in Schulen auf. Darum ist es wichtig, ihr - trotz des moralischen Dilemmas, in das man da gerät - öffentlich zu widersprechen, wenn ihre persönlichen Erinnerungen nicht mit den Fakten in Einklang zu bringen sind.

Holocaust-Leugner und ein surrealer Albtraum

Für Holocaust-Leugner sind die Erzählungen der Irene Zisblatt ein Fest, weil es die Spezialität der Leugner ist, frei Erfundenes oder falsch Erinnertes, eitle Selbstinszenierungen und fehlgeleitete Geschäftemacherei zum Ausgangspunkt für ihre eigene Fiktion von den jüdisch-zionistischen Verschwörern zu machen, die angeblich Beweise für Nazigräuel gefälscht haben, um die eigene Kriegstreiberei zu rechtfertigen, Entschädigungszahlungen zu erpressen und dergleichen mehr. Denier Bud alias Dean Irebodd fängt sein Buchenwald-Opus mit dem Lampenschirm an, und Irene Zisblatt, aus der - wenn man ihr glauben will - beinahe einer geworden wäre, ist jetzt der unfreiwillige Star von Eric Hunts The Last Days of the Big Lie (Video), weil sie ihm den Gefallen getan hat, ihre Übertreibungen und nacherzählten Legenden in Bild und Ton festhalten zu lassen. Beides gibt es zum kostenlosen Download, zu "erzieherischen Zwecken". Das Licht der Aufklärung weist da aber nur den Weg in die Dunkelheit.

Denier Bud und Eric Hunt stehen in der Tradition von Paul Rassinier, der Ende 1943 nach Buchenwald verschleppt wurde, dann Zwangsarbeiter im Außenlager Dora war und als einer der Begründer des Negationismus in Frankreich gilt, also der Leugnung des Völkermords. Rassinier ärgerte sich nach der Befreiung über Mithäftlinge, die von Gaskammern in Buchenwald, von Lampenschirmen und von persönlichen Begegnungen mit Ilse Koch erzählten, obwohl solche Begegnungen wegen zu später Einlieferung im Lager (alles nach August 1943) nicht möglich waren, veröffentlichte 1948 sein Skandalbuch Le passage de la ligne (Die Grenzüberschreitung - 1959 in überarbeiteter Fassung unter dem Titel Die Lüge des Odysseus auch auf Deutsch erschienen) und erkämpfte sich in mehreren Prozessen das Recht, das publik zu machen, was er für die Wahrheit hielt. Tatsächlich gab es nie eine Gaskammer auf dem Ettersberg. Was als durchaus nachvollziehbarer Ärger begann, wuchs sich bei Rassinier dann aber zu einem generellen Anzweifeln der planvollen Ermordung von Menschen in den Vernichtungslagern aus. Viele von Rassiniers Thesen, auch die längst widerlegten, finden sich bis heute in den einschlägigen Blogs der rechten Szene.

Manche Geschichten, sagt der Buchenwald-Überlebende Elie Wiesel, sind wahr, obwohl sie nie passiert sind. Wahrscheinlich gilt das auch für die Phantasmagorie von der "Hexe von Buchenwald". Viele der Geschichten rund um Ilse Koch gehören in das Reich der Märchen und Legenden. Die Gewalt und die Grausamkeit, denen die Häftlinge in Buchenwald und anderen Lagern ausgesetzt waren, ist trotzdem wahr. Daran würde sich gar nichts ändern, wenn sich irgendwann herausstellen sollte, dass doch ein mit tätowierter Menschenhaut bespannter Lampenschirm im Wohnzimmer der Kochs stand oder Billy Wilder bei Nacht und Nebel in das Lager schlich, um eine Fälschung in der "Villa Buchenwald" zu deponieren.

Die publikumswirksamsten der über Ilse Koch verbreiteten Geschichten wurden im Laufe der Zeit ausgeschmückt und ins Groteske übersteigert. Sie wirkte dadurch immer mehr wie eine Figur, die einem surrealen Albtraum entsprungen ist. Auch das hat seine eigene Wahrheit. David Rousset wurde von der Gestapo verhaftet, gefoltert, nach Buchenwald verschleppt. Er kehrte nach Frankreich zurück, nachdem er einen der Todesmärsche überlebt hatte. 1946 veröffentlichte er sein Buch L'Univers concentrationnaire, von dem es leider nur eine englische (The Other Kingdom, 1947) und keine deutsche Übersetzung gibt. Rousset beschreibt das Konzentrationslager als eine surreale Welt, mit fließenden Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit, eine Welt geschaffen von Céline (Reise ans Ende der Nacht) und überarbeitet von Franz Kafka. Nach dem, was er in Buchenwald erlebt hatte, schien ihm das die einzig legitime Form der Darstellung zu sein. Legitim und vielleicht sogar notwendig wäre es demnach auch, eine grausame, aufreizend gekleidete Tyrannin durch diese Welt reiten und Ausschau nach tätowierten Häftlingen halten zu lassen, denen sie die Haut abziehen kann. Nur wenn es gelingt, das Unvorstellbare in eine erzählbare Geschichte zu überführen, wird ein Weiterleben möglich, ohne verrückt zu werden.

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