Die Kommandeuse, die anständige deutsche Frau und der Befehlsnotstand

Seite 3: Mythos mit vielen Müttern und Vätern

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Nach Verbüßung ihrer vierjährigen Freiheitsstrafe wurde Ilse Koch im Oktober 1949 aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg entlassen und von den bayerischen Justizbehörden noch im Gefängnishof in Untersuchungshaft genommen. Kurz zuvor hatten die ostdeutschen Behörden einen - abschlägig beschiedenen - Antrag auf Auslieferung gestellt und zugleich angekündigt, zu einem westdeutschen Verfahren keinen Beitrag leisten zu wollen. Der im November 1950 vor dem Landgericht in Augsburg beginnende Prozess fand dann ohne die kommunistischen, jetzt in der Sowjetischen Besatzungszone lebenden Buchenwald-Überlebenden statt. Vermutlich waren einige in der DDR ganz froh, dass dem so war. Die Strategie, eine Art Gegenregierung zur SS aufzubauen, indem kommunistische Funktionshäftlinge wichtige Positionen in der Lagerverwaltung besetzten (und dabei den Tod anderer Gefangener in Kauf nahmen oder sogar herbeiführten), war ein dunkler Punkt.

Bei dem, was die kommunistischen Häftlinge getan hatten, um den Terror der SS zu überleben, war zwischen Kollaboration, Widerstand, Sicherung von Privilegien und Gruppensolidarität nicht immer scharf zu trennen. Das passte nicht in ein offizielles Geschichtsbild, für das man kommunistische Heroen brauchte, keine Menschen mit Licht- und Schattenseiten. Wie heikel das Ganze war, ist an Ernst Busse zu sehen, einst "roter Kapo" im Häftlingskrankenbau und 1946 zum Innenminister von Thüringen ernannt. Busse war einer von den Funktionshäftlingen, gegen die wegen ihrer Rolle in der Lagerverwaltung intern ermittelt wurde. Das geschah nach Vorwürfen anderer Gefangener und stand offenbar in Zusammenhang mit dem Buchenwaldprozess in Dachau; man wollte da keine unangenehmen Überraschungen erleben. 1947 wurde Busse auf einen Posten in Berlin abgeschoben und politisch kaltgestellt. Im September 1948 unterzeichnete er mit anderen prominenten Kommunisten eine Resolution, in der die Auslieferung Ilse Kochs nach Weimar gefordert wurde. Im Februar 1951 verurteilte ihn ein sowjetisches Militärtribunal wegen Kriegsverbrechen zu lebenslanger Lagerhaft (im Krankenbau waren russische Kriegsgefangene liquidiert worden). Ernst Busse starb im August 1952 in einem "Sonderlager" an den unmenschlichen Haftbedingungen, möglicherweise wurde er nun selbst liquidiert. Die SED rehabilitierte ihn 1956 in nichtöffentlicher Sitzung. Der einstige Held des antifaschistischen Widerstands blieb in der DDR eine Unperson.

Um vieles einfacher als die Wirklichkeit (und so schön plakativ) war der Mythos namens "Hexe von Buchenwald". Wahrscheinlich war er so unwiderstehlich, weil die unterschiedlichsten Gruppen an ihm bastelten: SS-Männer; rote Kapos; Ankläger und Verteidiger des Dritten Reichs; die DDR mit ihrer Heroenverklärung; die von Strafverfolgung auf Pragmatismus umschwenkenden Amerikaner; die BRD, in der Mitläufer, Täter und Karrieristen mit brauner Vergangenheit bald wieder in Amt und Würden waren, aber keine sexuellen Perversionen im Lebenslauf stehen hatten (nur die Beteiligung am Massenmord). Der Schlüssel zur Ilse-Koch-Story könnte in dem Satz zu finden sein, mit dem O’Donnell, der Dachau-Korrespondent von Newsweek, seinen Enthüllungsbericht über das Intimleben der Kommandeuse abschloss: "Der wirklich Grauen erregende Gedanke, der bei all diesen Kriegsverbrecherprozessen in einen hineinkriecht, ist der, dass die Beschuldigten immer so erstaunlich normal aussehen."

Familienfotos aus Ilse Kochs Alben

Also musste etwas Monströses her, die tätowierte Menschenhaut zum Beispiel. In Dachau punktete der Ankläger, indem er den Schrumpfkopf neben Ilse Koch hielt. Damit machte er aus der pummeligen Hausfrau ein Ungeheuer. Die Alben mit den Familienphotos zeigte er nicht, weil sie nicht in Menschenhaut gebunden waren wie behauptet. Als Clays Juristen das Urteil überprüften, sahen sie anstelle der Hexe wieder die Hausfrau, weil sie ein ganz normales, handelsübliches Photoalbum vor sich liegen hatten. Die Bilder von Ilse Kochs Familienglück in der SS-Führersiedlung würden belegen, heißt es in einem Schreiben an Clay (18.9.1947), "dass sie eine ihr Heim liebende Frau war, ihren Kindern eine gute Mutter, und deshalb nicht die Sorte von Mensch, der das Delikt begehen könnte, dessen sie angeklagt und wegen dem sie verurteilt wurde". Eine Hausfrau und Mutter, die den falschen Mann geheiratet und am falschen Ort gewohnt hat, muss nicht lebenslänglich hinter Gitter. Die Reduzierung der Haftstrafe löste einen der ganz großen Skandale der unmittelbaren Nachkriegszeit aus. Ilse Koch wurde nun mit aller Macht zurück in eine böse Hexe verwandelt, in eine auf dem Ettersberg ihre perversen Gelüste auslebende Domina. Mit diesem Schauermärchen für Erwachsene hielt man die NS-Verbrechen auf Distanz zur Normalität, verdrängte man das Gewesene und ging zur Tagesordnung über, weil alle Nicht-Perversen entlastet waren.

Befehlsnotstand vs. Privatvergnügen

Bereits Ferguson und seine Senatorenkollegen sahen sich zur Ehrenrettung der Hausfrau und des bürgerlichen Familienidylls aufgerufen und erklärten Ilse Koch zum widernatürlichen Ungeheuer. Wenn ein Monster im Verein mit anderen Monstern auftritt, wirkt es aber nicht mehr so monströs, das Monströse wird dann vielmehr zur Normalität. Also musste Ilse Koch auch von der SS abgegrenzt werden, die zweifellos schreckliche Verbrechen begangen hatte. Die Senatoren gerieten dadurch in eine unerwartete Nachbarschaft, denn sie bemühten die Idee vom Befehlsnotstand, den viele Täter geltend machten, um sich der eigenen Verantwortung zu entziehen. Aus dem "Zwischenbericht":

Die meisten der Beschuldigten, gegen die mit [Ilse Koch] zusammen verhandelt wurde, könnten als Entschuldigung vorbringen, dass sie Teil einer militärischen Organisation waren und somit verpflichtet, Befehle auszuführen, unabhängig davon, wie sehr sie diese persönlich ablehnten. Im Gegensatz dazu war jede von Ilse Koch begangene Handlung, wie das Beweismaterial zeigt, die einer Freiwilligen. Ein solches freiwilliges, jedem anständigen menschlichen Instinkt zuwiderlaufendes Handeln verdient die vollste Verachtung und verwehrt eine Strafmilderung. Es gibt keinen Nachweis dafür, dass irgendeine andere Offiziersfrau oder irgendeine andere Frau beim Betreiben des Lagers mitgewirkt hat. Eine Frau zu sein, machte ihre Mitwirkung unnatürlicher und vorsätzlicher.

Ilse Koch war keine Angehörige der SS gewesen, weil das für Frauen gar nicht möglich war, und sie hatte auch nicht dem "SS-Gefolge" angehört wie Irma Grese, die Aufseherin von Bergen-Belsen. Die Senatoren waren aber überzeugt, dass sie beim Erniedrigen, Foltern und Ermorden der Häftlinge mitgemacht hatte. Da sie in keine militärische Struktur eingebunden war, hatte sie - im Gegensatz zu den Befehlsempfängern von der SS - ihre Gräueltaten freiwillig und auf eigene Rechnung begangen. So etwas war pervers. Das bewies auch der Vergleich mit den anderen Frauen in der SS-Führersiedlung, die nicht "mitgewirkt" hatten (weil davon nichts bekannt war). Das von patriarchalischen Rollenklischees geprägte Bild von der treu sorgenden Hausfrau und Mutter, die keine schlimmen Sachen macht, weil Hausfrauen und Mütter das nicht tun, blieb erhalten. Ilse Koch allerdings wurde daraus entfernt, weil sie eine böse Hexe war.

Dazu ist zu sagen, dass man über die Frauen in solchen Siedlungen - trotz einiger Spezialuntersuchungen aus den letzten Jahren - sehr wenig weiß. In den Berichten im Buchenwald-Report und in anderen Quellen ist mitunter nur vom devianten Sozial- oder Sexualverhalten einer (nicht namentlich identifizierten) Frau eines SS-Führers die Rede. Das landete dann auf dem Sündenkonto von Ilse Koch, weil man "wusste", dass nur sie es gewesen sein konnte (und nicht etwa die Gattinnen ihrer mutmaßlichen Liebhaber, Frau Hoven und Frau Florstedt). Die "vier SS-Weiber", die bei Fritz Männchen (Bericht im Buchenwald-Report) und Eugen Kogon (Der SS-Staat) mit Ilse Koch am Zaun stehen, wenn sich die Häftlinge nackt ausziehen müssen, verschwanden aus späteren Nacherzählungen.

Ilse und die sieben Landsberger

Zur Vorbereitung auf den Prozess ließ das Landgericht Augsburg Ilse Koch Anfang 1950 in die Heilanstalt Günzburg bringen, wo man sie auf ihren Geisteszustand untersuchte. Der Spiegel nahm das im Februar 1950 zum Anlass, ihr eine Titelgeschichte zu widmen und versprach: "So unaussprechlich unanständig - Niemals besser illustriert". Das unanständigste Photo von Ilse Koch im Heft ist eines im (einteiligen) Badeanzug, aufgenommen 1935 beim Freizeitvergnügen mit ihrem späteren Ehemann. Bildunterschrift: "Schon früh auf Sex-Appeal hergerichtet." Ohne das Wissen, dass es sich da um den Kommandanten und die Kommandeuse von Buchenwald handelt, wäre das ein Allerweltsphoto von einem ganz normalen Paar. Fast könnte es aus Robert Siodmaks und Billy Wilders Menschen am Sonntag sein, wenn man das Paar auf der Seite gegenüber nicht bei der SS-Eheweihe sehen würde. Dazu gibt es eine Abbildung ("Die obszönsten Stücke") des berühmtesten der im April 1945 auf dem Buchenwald-Tisch gezeigten Hautstücke. Die Tätowierung zeigt eine nackte Vogelfrau. Der Autor des Kommentars zum in Nürnberg uraufgeführten Atrocity-Film Nazi Concentration Camps wusste offenbar noch nichts von Tätowierungen. Da wird behauptet, die Nazis hätten solche Obszönitäten aufgemalt.

Spiegel 1950 mit Ilse-Koch-Fotos: "So unaussprechlich unanständig - Niemals besser illustriert".

Titz, der mal das eine und mal das andere erzählte, wird im Artikel mit der Überschrift "Lady mit Lampenschirm" indirekt dafür gerügt, dass er angeblich nicht sagen kann, aus welchem Material Ilse Kochs Lampenschirme waren, obwohl er sie zwei Jahre lang abgestaubt habe (was suggeriert, dass sie mit tätowierter Menschenhaut bespannt waren). Froboeß, der (vermutlich) falsche Mönch, ist beim Spiegel - als "Froeboeß" - wieder Franziskaner und wird mit einer Aussage zitiert, die er 1947 in Dachau gemacht hat. Bei Ausschachtungsarbeiten habe er mit einem anderen Häftling in einem Graben gestanden, als plötzlich jemand von oben gerufen habe: "’He, Häftling, was machst du da unten?’ Wir schauten auf und erkannten Ilse Koch. Sie stand breitbeinig über dem Graben. Sie trug nur einen kurzen Rock, keine Unterwäsche. Dann schlug sie uns mit einer Reitgerte über das Gesicht, so daß uns das Blut aus der Nase quoll." Jetzt war es also raus. Die Kommandeuse zeigte sich den Männern nicht nur im kurzen Röckchen, sie hatte auch nichts drunter. So leistete der Spiegel einen weiteren Beitrag zur Pornographisierung der KZ-Erfahrung.

Der Umgang mit Ilse Koch steht in einem seltsamen Kontrast zu der verständnisvollen Milde, mit der das Nachrichtenmagazin über Leute schrieb, die viel mehr auf dem Kerbholz hatten. Die im Gefängnis in Landsberg einsitzenden Kriegsverbrecher waren für den Spiegel schlicht "die Landsberger", was gleich mal Nähe und Vertrautheit schaffte. Sechs Wochen nach dem Schuldspruch für die Witwe des Buchenwald-Kommandanten, am 28. Februar 1951, erschien der Artikel "Sie mögen schuldig sein". Er ist aufgebaut wie andere solche Spiegel-Texte auch. Zuerst wird kurz aufgelistet, was man den sieben "Landsbergern" anlastet, die da noch auf ihre Hinrichtung warten. Dann widmet sich der Autor diesem und auch jenem. Wenn man schon fast wieder vergessen hat, warum die "Landsberger" verurteilt wurden, zitiert er Leute mit rechtlichen wie moralischen Begründungen dafür, warum es nicht in Ordnung ist, dass sie jetzt sterben sollen.

Zwischendurch darf es auch mal gefühlig werden. Sieben Ehefrauen (das können nur brave deutsche Hausfrauen gewesen sein, weil Ilse Koch die einzige böse Hexe mit Trauschein war) besuchen sieben "Landsberger", müssen sich unter Bewachung und durch Gitter getrennt von ihren Männern verabschieden und sehen, wie schon die Gräber ausgehoben werden, bis doch noch die Nachricht vom Hinrichtungsstopp kommt. Der Artikel endet mit Meinungen aus Juristerei, Politik und Religion. Ein amerikanischer Rechtsanwalt warnt angesichts des Kalten Krieges davor, die deutsch-amerikanische Freundschaft nicht zu gefährden: "Den Schrei der Juden und Kommunisten können wir Amerikaner besser vertragen als eine Verstimmung der Deutschen." Dr. Rudolf Aschenauer, Gründungsvater des "Komitees für kirchliche Gefangenenhilfe", weiß aus zuverlässiger Quelle, dass Moskau seine Finger mit im Spiel hat und nur am eigenen Vorteil interessiert ist, nicht an Gerechtigkeit; die geplanten Hinrichtungen führen nämlich zu einer "Verstimmung gerade jener deutschen Kreise, auf die sich die Amerikaner in ihren Verteidigungsplänen für Europa stützen müssen". Der CDU-Bundestagsabgeordnete Hans Schütz sekundiert: "Die Galgen von Landsberg sind Zeitbomben der Sowjetrussen im Herzen Deutschlands." Das letzte Wort zu den sieben "Landsbergern" aber hat der Gefängnispfarrer Morgenschweiß, ein mit dem Eisernen Kreuz dekorierter Veteran des Ersten Weltkriegs: "Sie mögen schuldig sein, sie haben aber alles bereits tausendfach gebüßt."

Übrigens empfahl es sich, ein Kriegsverbrecher oder ein Rechtsextremer zu sein, damit einem von Dr. Aschenauers Gefangenhilfe geholfen wurde. Einer von den sieben "Landsbergern" war der im Juni 1951 doch noch hingerichtete Oswald Pohl, einst Leiter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes, damit Herr über das gesamte Konzentrationslagerwesen und einer der schlimmsten Schreibtischtäter des Dritten Reichs. Das ist derselbe Oswald Pohl, der ein gern gesehener Gast in der "Villa Buchenwald" war (ob da über seinen Anteil an den Unterschlagungen und dem von den Häftlingen erpresstem Geld geredet wurde?), so lange wie möglich seine schützende Hand über Karl Otto Koch hielt und Konrad Morgens Überzeugung nach Zeugen einschüchtern und ermorden ließ, um zu verhindern, dass es in der Buchenwalder Korruptionsaffäre zum Prozess kam. Darüber steht nichts in diesem Artikel.

Oswald Pohl

Dank der Forschungsarbeiten von Lutz Hachmeister weiß man, dass die Anfangsjahre des Spiegel nicht nur ruhmreich waren. Augstein verdankte die erstaunlich gute Informiertheit alten Kadern aus dem Sicherheitsdienst, die als Redakteure, Autoren und Zuträger Einfluss auf das Blatt nahmen. Wenn die Berichterstattung die Frau eines KZ-Kommandanten zum Sex- und Perversionsmonster macht, während dasselbe Magazin für einen gnädigen Umgang mit üblen Figuren wie Oswald Pohl oder Otto Ohlendorf wirbt (Leute mit klar erkennbarer und nachweisbarer Funktion in der SS-Führungsstruktur), ist der Verdacht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass da ein Mord- und Unterdrückungssystem verharmlost werden soll, indem man ein Schlaglicht auf vermeintlich schwarze Schafe wirft, um von der Herde abzulenken. Gehen wir davon aus, dass Pohl tadellos gekleidet war und selbstverständlich Unterwäsche zur Uniform trug, wenn er ins Büro kam, um den Aufbau der Todesfabriken zu überwachen.

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