Die Lage im Nahen Osten eskaliert weiter
Hisbollah entführte zwei israelische Soldaten, Israel greift Ziele im Libanon an. Die ausländischen Reaktionen auf die israelische Militäroffensive im Gazastreifen werden oft von eigenen Interessen bestimmt
Am Mittwochmorgen eskalierte die Lage weiter: Kämpfer der Hisbollah überfielen einen Militärposten im Norden Israels und entführten zwei Soldaten in den Süd-Libanon. Die beiden und Gilad Schalit, der vor zweieinhalb Wochen in den Gazastreifen entführt worden war, würden erst freigelassen wenn Israel einem Austausch gegen Tausende von palästinensischen und libanesischen Häftlingen in israelischen Gefängnissen zustimme (Ungleicher Tausch). Israels Regierung warnte Beirut daraufhin vor den Konsequenzen und ließ Luftangriffe auf Ziele im Süd-Libanon fliegen. In der Nacht zuvor waren israelische Truppen in den zentralen Gazastreifen einmarschiert und hatten den Landstrich in zwei Teile geteilt. Wenige Stunden später hatten Kampfhubschrauber Raketen auf das dreistöckige Haus des Hamas-Funktionärs Dr Nabil al Salmiah abgefeuert. Das Gebäude stürzte ein; Al Salmiah, seine Frau, drei seiner Kinder und ein Nachbar wurden getötet; mehrere weitere Mitglieder der Hamas wurden zum Teil schwer verletzt, darunter auch Mohammad Deif, den Israels Regierung an der Spitze des bewaffneten Flügels der Hamas vermutet.
Den Operationen in der Nacht zum Mittwoch waren zwei Tage relativer Ruhe vorausgegangen. Die Zurückhaltung sollte internationalen Vermittlern vermutlich einmal mehr die Möglichkeit geben, einen Deal zwischen der radikalislamischen Hamas und der israelischen Regierung auszuhandeln. Das Interesse daran ist bei vielen Mitgliedern der Internationalen Gemeinschaft genauso groß, wie die Entschlossenheit, mancher arabischer Regierungen der Hamas zum Sieg zu verhelfen – meist aus Gründen, die mit Israel und den Palästinensischen Gebieten wenig zu tun haben.
Dahab/Sinai-Halbinsel, Ende Mai: Man musste schon genau hin sehen, um die Spuren des Grauens erkennen zu können: Scheiben waren schnell repariert, Straßenpflaster gereinigt, die Opfer beerdigt worden. Nur eine Behelfsbrücke, ein Blumenstrauß, den jemand an den Straßenrand gelegt hatte, deuteten darauf hin, dass hier nur einen Monat zuvor fast zeitgleich drei Bomben detoniert waren und mindestens 23 Menschen in den Tod gerissen hatten. Auch die Touristen waren schnell zurück gewesen, und räkelten sich, leicht bekleidet, an den traumhaften Stränden in der warmen Frühlingssonne. „Das Dahab-Feeling stirb nie“, hatte Mohammed, ein örtlicher Tauchlehrer, seine Besucher mit einem strahlenden Lachen begrüßt und damit die Leichtigkeit gemeint, die sich nicht nur in der Bekleidung, sondern auch in der Liebe und im Konsum berauschender Substanzen ausdrücken.
Gazastreifen, Anfang Juli: In einem Teehaus in Rafah sitzt ein Mitarbeiter der ägyptischen Botschaft und sinniert über den Sinn seines Daseins: „Letzten Endes geht es uns nicht darum, den Menschen hier zu helfen“, sagt er, „wir sind dazu da, dafür zu sorgen, dass es kein Problem in Ägypten gibt.“ Deshalb versuche ein ziemlich großes Team zwischen Israels Regierung und der radikalislamischen Hamas zu vermitteln; deshalb habe Ägyptens Präsident Hosni Mubarak seinen syrischen Amtskollegen Baschar al Assad geradezu bekniet, den in Damaskus lebenden Hamas-Chef Khaled Maschal zur Freilassung von Gilad Schalit zu zwingen, der vor etwas mehr als zwei Wochen nach einem Überfall auf einen Armeeposten in Israel in den Gazastreifen verschleppt worden war und damit den Anlass für eine groß angelegte Offensive des israelischen Militärs geliefert hatte. Doch al Assad stellt sich nach wie vor stur und Maschal will auf keinen Fall klein beigeben.
„Die Situation ist auch für uns brenzlig“, sagt der Botschaftsmitarbeiter: „Zuerst Taba, dann Scharm el Scheich und jetzt Dahab, dass waren einfach zuviele Anschläge für uns. Die vorherrschende Meinung zu Hause ist, dass die israelische Reaktion auf die Entführung ungerechtfertigt ist, und dass Israel palästinensische Gefangene freilassen sollte. Die Regierung hat Angst davor, dass die Extremisten in Ägypten unkontrollierbar werden, wenn wir dabei erwischt werden, wie wir tatenlos zuschauen.“
Die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft auf die israelische Offensive im Gazastreifen waren in den vergangenen beiden Wochen gemischt, und so wie in Ägypten liegt ihr Ursprung so gut wie immer in internen Erwägungen, die mit dem eigentlichen Kern der Sache, dem israelisch-palästinensischen Konflikt, wenig bis gar nichts zu tun haben.
Die Vereinigten Staaten halten sich mit Aussagen zur Offensive zurück, weil sie im Irak größere Schwierigkeiten denn je haben und eine zu große Nähe zu Israel dort im Moment zum Problem werden könnte; Frankreich ist hin und her gerissen zwischen den Bemühungen um die Freilassung seines Staatsbürgers Gilad Schalit und den Erwartungen seiner eigenen großen muslimischen Minderheit, und die deutsche Regierung möchte aus historischen Erwägungen nicht mit zu heftiger Kritik an Israel in Erscheinung treten. Ich glaube, es wäre allen am Liebsten, wenn sich die beiden Seiten schnell einigen würden. Allerdings kann dies letztes Ende nur von innen kommen, weil die unterschiedlichen internationalen Interessen jede Reaktion der Vereinten Nationen verhindern.
Dr. Nigel Watson, Experte für internationale Politik bei der University of London
Im Nahen Osten gebe es derweil vor allem zwei Staaten, deren Regierungen großes Interesse an der Lage im Gazastreifen haben: Ägypten und Syrien. „In diesem Zusammenhang muss man auch den Angriff auf einen israelischen Militärposten in Nord-Israel sehen“, sagt Watson. Am Mittwochmorgen hatten Kämpfer der Hisbollah sich über die Grenze geschlichen, ein Armeelager angegriffen und zwei Soldaten in den Libanon verschleppt. Die extremistische Organisation hat die Aktion mit der Entführung Schalits verknüpft und fordert nun die Freilassung von Tausenden von palästinensischen und einigen libanesischen Häftlingen aus israelischen Gefängnissen.
Es ist undenkbar, dass dieser Schritt ohne Wissen und Unterstützung der Regierung in Damaskus durchgeführt worden sein könnte. Der Hamas-Chef Khaled Maschal lebt in Syrien; Israel, Ägypten, die Vereinigten Staaten und der palästinensische Präsident Machmud Abbas üben massiven Druck aus, dem Präsident Baschar al Assad aber nicht nachgeben kann, weil die Zustimmung zu der Entführung des israelischen Soldaten in den Gazastreifen in Syrien noch größer ist als zum Beispiel in den Palästinensischen Gebieten. Aus seiner Sicht ist es also eine gute Idee, die Hisbollah zu benutzen, um den Druck auf Israel zu erhöhen. Zumal auch damit zu rechnen ist, dass Israel die libanesische Regierung ins Fadenkreuz nehmen wird, was mittelfristig den für Syrien angenehmen Nebeneffekt haben könnte, dass Beirut und Damaskus wieder näher zusammen rücken.
Dr. Nigel Watson
Ägypten und Israel vereint gegen Islamisten
Noch größer ist das Interesse an der Lage in Gaza jedoch in Kairo: Bei den vergangenen Parlamentswahlen schaffte sie es nur noch mit einem Übermaß an Kreativität, sich die immer stärker werdenden Islamisten vom Hals zu halten. „Jeder weiß, dass dies nicht auf Ewigkeit möglich sein wird“, sagt Watson: „Man kann Opposition nicht auf Ewigkeit durch Unterdrückung und Wahlfälschung klein halten.“
Von Dahab, Scharm el Scheich oder Taba bis ins stockkonservative Gaza scheint es räumlich und geistig ein weiter Weg zu sein. Doch Gaza liegt gleich in der Nachbarschaft der drei Orte: In den unwegsamen Bergen der Sinai-Halbinsel, in den herunter gekommenen Armenvierteln der Hauptstadt Kairo und in den Städten und Dörfern Süd-Ägyptens. Hier ist die Heimat der radikalislamischen Moslem-Bruderschaft und der „Dahab-Effekt“ ein Dorn im Auge: Man pflegt eine islamische, also konservative Lebensweise, in der man sich dezent kleidet, als Mann so wenig Haut wie möglich zeigt, und als Frau gar keine. Alkohol bleibt selbstverständlich im Laden. So es denn einen gibt, der derartiges verkauft.
Mit Argusaugen verfolgen die Menschen hier den Umgang der eigenen Regierung mit dem jüdischen Nachbarland: Es war ein Frieden zwischen Politikern, nicht zwischen Bevölkerungen, den der israelische Ministerpräsident Menachem Begin und der ägyptische Präsident Anwar al Sadat 1978 im amerikanischen Camp David aushandelten und der einen Wendepunkt in der Geschichte der Moslembruderschaft darstellte: Bis dahin eine Organisation, deren Engagement sich auf soziale Arbeit und wohltätige Zwecke in den Armenvierteln beschränkte, nahm die Moslembruderschaft nun auch politische Positionen ein. Das Ergebnis war die Gründung des Islamischen Dschihad, einer militanten Gruppe, die auch bereit war, mit Gewalt gegen den Friedensprozess zwischen Ägypten und Israel vorzugehen. Eine schwere Wirtschaftskrise verschaffte den beiden Organisationen aber auch vielen anderen Oppositionsgruppen zusätzliche Unterstützung.
Als Präsident al Sadat versuchte, auch unter dem Eindruck der Islamischen Revolution im Iran, die zunehmende Opposition gegen seine Amtsführung aufzuhalten und Anfang September 1981 eine brutale Razzia gegen Islamisten, aber auch Feministen, Kommunisten, Nasseristen und viele andere Aktivisten anordnete, ließ die Gegenreaktion nicht lange auf sich warten: Am 6. Oktober 1981 wurde al Sadat bei einer Militärparade in Kairo von Mitgliedern des Islamischen Dschihad ermordet. Zuvor hatte Scheich Omar Abdel Rachman das Attentat mit einer Fatwa genehmigt. Dabei handelte es sich übrigens um den gleichen Geistlichen, der später in den Vereinigten Staaten wegen seiner Beteiligung am ersten Anschlag auf das World Trade Center in New York am 26. Februar 1993 verurteilt wurde.
Einst war der Gazastreifen Teil von Ägypten und damit einer der Aktionsbereiche der Moslembruderschaft. Als die ägyptischen Truppen im Sechs-Tage-Krieg 1967 den Landstrich verloren, blieben die Islamisten da. Trotz der Abtrennung vom einstigen Mutterland unterhielt die Moslembruderschaft in Gaza weiterhin enge Bindungen nach Ägypten. Dies, aber auch eine Vergleichbarkeit der Situationen im Gazastreifen und in Ägypten, führte dazu, dass die Entwicklung, wenn auch mit Verzögerung, ähnlich verlief: Wirtschaftliche Not und die daraus resultierende Hinwendung vieler Bevölkerungsteile zu einer tiefen Religiosität machten die Moslembruderschaft beliebt; die interne Diskussion über die Frage, wie mit der israelischen Besatzung umzugehen sei, setzte auch hier einen Politisierungsprozess in Gang, in dessen Rahmen dem israelisch-palästinensischen Konflikt ein religiöser Unterton gegeben wurde. Am Ende dieses Prozesses stand 1987 die Gründung der Hamas, ein Akronym, das für „Islamische Widerstandsbewegung“ steht und als Wort unter anderem Eifer, Enthusiasmus und Feuer bedeutet. Da die Organisation die soziale Arbeit der Moslembruderschaft fortsetzte, sich aber gleichzeitig dem bewaffneten Kampf gegen Israel verschrieb, überstieg ihre Bedeutung die des Islamischen Dschihad, der ungefähr zeitgleich mit dem Islamischen Dschihad in Ägypten gegründet wurde und sich unter dem Einfluss der Entwicklungen im Iran ausschließlich der islamischen Revolution verschrieben hat.
Der zunehmende Einfluss der Hamas in den Palästinensischen Gebieten, der im Januar im Wahlsieg der politischen Liste „Wechsel und Reform“ bei den Parlamentswahlen seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, habe auch in Kairo große Sorge hervor gerufen, sagt der Mitarbeiter der ägyptischen Botschaft in Gaza: „Wenn die Hamas jetzt auch noch durch einen bedeutenden Sieg über Israel gestärkt werden würde, könnte dies auch den Islamisten in Ägypten Appetit auf mehr machen.“ So versucht Kairo zwar, einen Deal auszuhandeln, ist aber auch gleichzeitig bemüht zu verhindern, dass dies wie ein Sieg der Hamas aussehen könnte: „Wirkliche Ergebnisse gibt es aber bis jetzt nicht.“
Verhandlungen finden im Hintergrund statt
Allerdings haben die ausländischen Befindlichkeiten, vor allem jene Kairos und Washingtons, dafür gesorgt, dass die israelische Militäroffensive bisher weniger massiv ausfiel, als sie hätte sein können: „Jerusalem will auf alle Fälle verhindern, dass die amerikanische Position im Irak leidet, weil eine weitere Verschlechterung der Lage dort sich auch auf den Rest des Nahen Ostens auswirken könnte – Israel kann es sich im Moment nicht leisten, zusätzliche Fronten zu eröffnen“, sagt Politik-Experte Dr. Nigel Watson: „Auf der ägyptischen Seite wäre eine Destabilisierung des Landes für Israel fatal.“ Denn Jerusalem müsse sich auf eine starke Staatsmacht dort verlassen können, die auf der anderen Seite der Grenze dazu beitrage zu verhindern, dass Waffen, Sprengstoff und Kämpfer in den Gazastreifen geschmuggelt werden.
Das Ergebnis war, dass „Operation Regenbogen“ in den vergangenen beiden Wochen immer wieder gestoppt wurde, um den Vermittlern die Möglichkeit zu geben, weiter mit der Hamas zu verhandeln. So herrschte Anfang der Woche relative Ruhe, während dem Vernehmen nach ein von unbekannter Seite eingeflogener Verhandlungsexperte erste Kontakte knüpfte. Gerüchten zufolge soll es dabei nicht mehr allein um den entführten Soldaten, sondern um eine sogenannte „Hudna“ einen langfristigen, beiderseitigen Waffenstillstand, gehen, der einen Abzug aus dem Gazastreifen, ein Ende des Kassam-Beschusses, die Übergabe des entführten Soldaten und die Freilassung von palästinensischen Häftlingen aus israelischen Gefängnissen beinhalten soll. Ein Sprecher der israelischen Regierung wollte dies am Mittwochmorgen nicht bestätigen.
Wie weit die Tragweite einer solchen Übereinkunft wäre, ist ohnehin unklar: Zwar hatte sich der palästinensische Ministerpräsident Ismail Haniyeh am Dienstag in einem Beitrag für die amerikanische Zeitung „New York Times“ relativ moderat gezeigt und einen Frieden im Gegenzug für einen israelischen Rückzug auf die Waffenstillstandslinien von 1949, die Lösung der Flüchtlingsfrage und die Gründung eines palästinensischen Staates mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt angeboten.
Doch inwieweit dies die Haltung der Hamas-Führung in Damaskus und der militanten Hamas-Anhänger widerspiegelt, ist äußerst fraglich: Während sich die politische Führung in den Palästinensischen Gebieten ob der durch die Übernahme der Regierungsverantwortung entstandenen Notwendigkeiten langsam an die politischen Realitäten gewöhnt, sind Hamas-Führer Khaled Maschal und die Mitglieder der Essedin al Kassam-Brigaden, der bewaffnete Flügel der Hamas, diese Zwänge fremd. „Wir haben längst eine Situation, in der die Führung in Damaskus Entscheidungen, wie zum Beispiel die Entführungsaktion, fällt, ohne zum Beispiel Regierungschef Ismail Haniyeh zu informieren“, erläutert Amnon Rubinstein von der israelischen Zeitung HaAretz: „Die beiden hatten schon lange Differenzen gehabt und es scheint, als seien diese nun noch größer geworden.“