Die Loslösung des Bewusstseins von der Materie

Seite 2: Das Organisationslabyrinth der Evolution

Hatten sich die Menschen schließlich daran gewöhnt, als Homo sapiens im Evolutionsbaum ihren Platz gefunden zu haben, so verstößt Lem sie aus dieser Position, indem er die These aufstellt, dass vom Standpunkt der Evolution nur die Reproduktion des genetischen Codes relevant ist, nicht seine Ausprägung in Myriaden von Existenzformen.

Evolutionär gesehen gibt es keine letztendliche Privilegierung. Es ist aber dazu gekommen, dass die Evolution ein selbstreflexives Bewusstsein hervorgebracht hat – dazu unten mehr. Die Darwin'sche Enttäuschung wird bei ihm ergänzt um den Faktor Zufall5; sie wird dadurch noch ungeheuerlicher.

Der Planet Erde, die Biosphäre, schließlich die Entität Mensch – alle sind Produkte von langen Zufallsreihen und in ihrer Existenz auch weiterhin durch solche auf verschiedenen Skalen gefährdet (die Biosphäre mit Tieren und Pflanzen beispielsweise durch Supernova-Explosionen).

Zudem ist die Evolution konfus, so wie sie organisiert ist; sich "mästet", sich bloß an ihrer eigenen Komplexität. Ein Organismus wie die Alge ist, was die Energieverwertung angeht, höher organisiert als der Mensch – von einer direkten Nutzung der Sonnenenergie zu einer ineffizienten Verkomplexisierung der Boten, den Trägern der DNS.

Die Menschen haben die Evolution bisher immer vom Standpunkt des Boten, also ihrer selbst, interpretiert. Und sie haben die Beschränkungen durch die biologische Entwicklung nicht anerkannt: Die ineffektive Evolution hat lauter menschliche Einzelbewusstseine erzeugt, die in anfälligen kurzlebigen Gehirn-Körper-Systemen verstreut sind. Sie müssen sich auf komplizierte Weise energetisch versorgen und über Kulturleistungen umständlich vermitteln.

Das Überleben des genetischen Codes ist für Lem entscheidender als das seiner konkreten Produkte, die durch ihn "programmiert" sind. Die meisten Menschen waren in der bisherigen Geschichte allein Boten für diesen Code, sie hinterließen sonst keine Spuren.

Die Menschheit als Ganzes muss sich als Konsequenz aus dieser Sicht auf den evolutionären Code also fragen, woraus sie ihr Selbstbewusstsein schöpft: aus ihrer evolutionär überschätzten Besonderheit, aus ihren kulturellen Leistungen oder aus der reinen Existenz?

Eine weitere Implikation dieser Sicht liegt darin, dass der Tod als evolutionäres Prinzip überflüssig wird. Wir sind historisch an der Bruchstelle angelangt, dass der Tod (theoretisch) nicht mehr als "Korrekturmöglichkeit" der Evolution dienen muss; er ist aber noch eine millionenfache Realität.

Zum ersten Mal greifen die Menschen seit wenigen Jahrzehnten direkt in den Code mittels der Biotechnologie ein. Diese ist aber noch primitiv. Sie reicht noch längst nicht an die "bewirkende Sprache" der DNS heran. Von der "Beherrschung der Photosynthese" oder der "Technik der Sprache der Vererbung" kann, wie Lem sagte, noch keine Rede sein.

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