Die Mär vom empathielosen Autisten
Eine Konferenz im polnischen Toruń vermittelte neue Einblicke in die Gefühlswelt von Autisten
Das Eine, was jeder über Autisten zu wissen glaubt, ist: Sie haben keine Empathie. Laut einer Umfrage ist rund die Hälfte der "neurotypischen" Befragten dieser Ansicht. Interessanterweise sind etwa drei Viertel der befragten Autisten ganz anderer Ansicht und halten sich selbst für sehr empathisch.
Das erfuhr ich durch eine Präsentation des selbst autistischen Kosma Moczek auf der Konferenz "Autismus - Licht und Schatten" ("Autyzm: Swiatlocienie") in Thorn (Toruń), bei der auch ich einen Vortrag halten durfte. Schon am ersten Tagungsabend war der angebliche Mangel an Empathie bei Autisten Thema gewesen.
Die Mitveranstalterin Joanna Ławicka hatte ein rundes Dutzend Autisten auf die Bühne gebeten und ihnen die einfache Frage gestellt: "Hast Du Empathie?" Als gefühlskalten Roboter empfand sich keiner der Diskutanden (was wohl logisch in der Natur des Empfindens liegt). Mehrere gaben eigene Erlebnisse zu hören und reflektierten über die Unterschiede zwischen neurotypischen und neurodiversen Menschen. So erzählte Marek, wie er Zeuge eines Unfalls war, bei dem sich jemand eine tiefe Schnittwunde in der Wade zuzog. Sieben, acht "normale" Menschen standen daneben, rangen die Hände und litten untätig mit dem Verletzten. Marek verband notdürftig die Wunde und sorgte dafür, dass einer der Umstehenden den Notarzt rief.
Viele weitere Redner streiften an den folgenden Tagen das Thema in ihren Vorträgen, so dass Empathie zu einer Art zweitem Motto der Konferenz wurde. Zum Beispiel Piotr Kargul, der kleine, stotternde, mäßig attraktive Autist mit dem Militärfimmel, der einen unterhaltsamen Beitrag über die Probleme hielt, die männliche Autisten bei der Partnersuche haben. Aber es gab auch Präsentationen, die auf den ersten Blick gar nichts mit Mitgefühl zu tun hatten. So stellte Michał Tadeusz Handzel, ein großer, kräftiger, vollbärtiger Mönch in weißer Kutte, einige der Philosophen vor, von denen man mit gutem Grunde annehmen kann, dass sie Autisten waren: Baruch Spinoza, Jeremy Bentham, Immanuel Kant, Ludwig Wittgenstein. Dürfte man noch Arthur Schopenhauer dazunehmen, wäre das Pantheon weitgehend komplett. Sollten die größten Philosophen des Abendlands tatsächlich Asperger-Autisten gewesen sein, dann hätte das vielleicht doch etwas mit Empathie zu tun. Aber dazu weiter unten.
Embodied cognition, wenn sie funktioniert
Ich war am letzten Tag an der Reihe. Aus meinem Vortrag zum Thema "Embodied Cognition" ist mein vorangegangener Artikel hier auf Telepolis hervorgegangen (Ich denkender Körper). Meine eigene Ahnungslosigkeit zum Thema Autismus berücksichtigend, referierte ich v.a. darüber, wie das Zusammenwirken von Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln normalerweise funktioniert: Eben nicht getrennt und sequentiell, nicht wie ein Roboter, der Sensoren hat, einen Zentralcomputer, und eine Steuereinheit. Sondern durchgängig verkörpert: Schon die Wahrnehmung erfordert Handlung durch die Erkundung der Welt. Offenkundig wird das, wenn man an den Tastsinn denkt: Ohne Bewegung der Hände liefert er keine Daten. Aber auch Sehen verlangt Augenbewegung und aktive Erforschung der Umwelt. Und was wir wahrnehmen, sind nie nackte physische Reize, sondern Handlungsmöglichkeiten. Unsere unmittelbare Umwelt ist in jedem Merkmal bezogen auf unsere Bedürfnisse und Fähigkeiten.
Daher nehmen wir auch die Bewegungen Anderer als absichtsvolle Handlungen wahr, und nicht als motorische Abfolge: Weil wir sie in uns spiegeln. Was auch für kommunikative Signale gilt. Man kann hier ruhig das Spiegelneuronensystem im Prämotorkortex bemühen, von dessen Existenz beim Menschen ich - anders als der geschätzte Kollege Schleim - selbstverständlich ausgehe, muss es aber gar nicht, denn die psychologischen Untersuchungen sind eindeutig genug: Zwischen einem echten und einem falschen Lächeln können wir nur solange unterscheiden, wie wir keinen Bleistift zwischen den Lippen halten, der uns hindert, selbst zu lächeln. Wer seine Mimik mit Botox lahmlegt, kann Gefühle nicht nur selbst schlechter ausdrücken - er erkennt sie auch schlechter bei anderen.
Und solche Rückkopplungssignale aus dem Körper sind wiederum unabdingbar für Gefühle, und damit auch für bewusstes Denken. Antonio Damasio hat das in seiner Theorie der somatischen Marker formuliert: Die Emotion, die von einem Reiz verursacht wird, löst zuerst und blitzschnell eine körperliche Antwort aus - denn Schnelligkeit ist in manchen Fällen überlebenswichtig ("Bär! Lauf!"). Erst, indem die Kunde von den hormonellen und muskulären Veränderungen über die Selbstwahrnehmung des Körpers an die Großhirnrinde zurückgemeldet wird, erfährt das Gehirn sozusagen selbst, was es veranlasst hat, und berücksichtigt die innere Repräsentation unseres Gefühlszustands für kognitive Entscheidungen, die anders gar nicht möglich wären: "Das fühlt sich gut an, das mache ich."
Zwei Steuersysteme
Soweit in Kürze das Grundkonzept der Embodied Cognition: Unsere Kognition beruht darauf, dass wir einen Körper haben, oder genauer: dass wir Körper sind. Und dann wagte ich doch noch eine kleine Spekulation zum Autismus und der Frage der Empathie:
Man kann in unserem Zugriff auf die Welt zwei Systeme unterscheiden. Wir Menschen machen viel Wesens vom expliziten System, das vorwiegend auf den Assoziationskortizes beruht und uns den Umgang mit Symbolen und Begriffen erlaubt: Sprache, "bewusstes" Denken, Logik und Assoziationen, all die geistigen Leistungen vom Satz des Pythagoras über die Divina Commedia bis hin zu Apollo 11. Doch: So leistungsfähig ist dieses System gar nicht. Mehr als vier Einheiten und deren Beziehungen kann es nicht repräsentieren. Wohl deswegen nehmen wir meist Stift und Papier zu Hand, wenn es komplizierter wird.
Vieles, was wir leisten müssen, ist aber erheblich komplizierter als vier mühsam im Stirnhirn verschobene Einheiten. Man sieht das sehr schön an der Entwicklung der sogenannten Künstlichen Intelligenz: Großmeister im Schach schlagen - ein Spiel, das den meisten Menschen als Gipfelleistung der Intelligenz gilt - können Computer seit rund drei Jahrzehnten. Aber eine Schachfigur in die Hand nehmen und über das Brett bewegen, ohne die anderen oder das ganze Brett dabei umzuwerfen, also etwas, das jedes zweijährige Kind kann: Daran scheitern Roboter bis heute.
Dafür haben wir das prozedurale, implizite System, das auf dem Motorkortex und seinen Verbindungen zu den Basalganglien beruht, sowie auf der massiven Rechenleistung des Kleinhirns. Wir machen selten viel Aufhebens davon, aber es ist dieses System, das es uns erlaubt zu gehen, zu klettern, zu jonglieren usw. Alle diese Fähigkeiten lernt es nicht begrifflich: Es hat keinen Zweck, einem Kind, das Fahrradfahren lernen will, Vorträge über Schwerpunkte und Oszillationen zu halten. Es braucht Übung, wiederholte Übung, und Belohnung, oder besser: ein Fehlersignal. Letzteres wird von den Dopaminbahnen aus dem Hirnstamm geliefert.
Wiederholung für Wiederholung nähern sich die Synapsen einem Optimum an, bis komplexe Bewegungen wie im Schlafe laufen. Und dabei lässt man das implizite System am besten ungestört. Wer beim Jonglieren mit brennenden Fackeln anfängt, über die Formel für die Parabelbahn einer Fackel nachzusinnen, verbrennt sich die Finger.
Verkörperte soziale Kognition
Auch soziale Kognition gehört zu den Leistungen des prozeduralen Systems. Wir nehmen die mimischen Signale unseres Gegenübers wahr, spiegeln sie unbewusst (im Prämotorkortex), spüren ebenso unbewusst eine Wertung, und wissen automatisch, welche Handlung richtig ist. Denn was bei einem Gesprächspartner noch einfach sein mag, wird schnell viel komplizierter als Jonglieren, wenn mehrere zusammenkommen. Ein Neuankömmling in einer kleinen Gruppe muss nicht nur die nonverbalen Signale ihm selbst gegenüber auswerten, sondern auch alle zwischen den anderen Mitgliedern, und jede seiner Handlungen wirkt wieder auf diese zurück, ebenso wie natürlich jedes Signal jedes anderen. Sprachlich detailliert zu fassen, was in einer interagierenden Fünfergruppe in wenigen Sekunden abläuft, würde vermutlich Seiten füllen.
Aber neurotypische Menschen können das. Problemlos. Weil sie nicht darüber nachdenken. Theoretiker der Embodied Social Cognition haben die gewagte Idee geäußert, dass die vielgerühmte "Theory of Mind", also die Fähigkeit, über innere Zustände anderer Menschen nachzudenken, im Alltagsleben kaum eine Rolle spielt. Wenn wir stets intuitiv, per Spiegelung und somatische Marker, wissen, wie es dem Gegenüber geht, und ebenso implizit wissen, wie wir darauf richtig reagieren: Dann brauchen wir darüber nicht nachzudenken. Neurotypische Menschen schaffen das alles mit Links ganz ohne Denken. Man könnte provokant sagen: ohne Empathie.
Aber wenn dieser Automatismus nicht funktioniert, weil er an irgendeiner Stelle unterbrochen ist, dann muss man das explizite System bemühen und Theory of Mind betreiben: Was will der Andere vermutlich? Wie würde er reagieren, wenn ich so oder so antworte? Was ist angemessen?
Ein Autist fühlt die Mimik, die Situation des Anderen vermutlich genauso wie ein Neurotypischer. Aber aus unklaren Gründen, aus irgendeiner Verirrung der Hirnentwicklung, sattelt darauf kein prozeduraler Automatismus. Die Masse der Sinneseindrücke, insbesondere der Tsunami an sozialen Signale fallen für ihn nicht in einfache, erlernte Muster. Sie überfordern ihn, weil sie bewusst verarbeitet sein wollen. Darum denkt ein Autist vermutlich erheblich mehr über das Innenleben seines Gegenübers nach als umgekehrt. Er hat vermutlich eine bei Weitem bessere Menschenkenntnis. Ist das dasselbe wie: mehr Empathie? Oder was meinen wir mit diesem Wort überhaupt?
Und ist dies der Grund, warum die größten Philosophen Autisten waren? Weil ihnen das scheinbar Selbstverständliche rätselhaft war? Weil sie von Jugend an gezwungen waren, Automatismen durch Denken zu ersetzen? Weil sie die Welt nicht unwillkürlich auf sich bezogen, nicht als Raum ihrer Handlungsmöglichkeiten wahrnahmen, sondern an sich, als etwas, das man Verstehen möchte?
Licht im Schatten
Die Konferenz endete mit dem Schatten: Mit Vorträgen über die Schwierigkeiten und Stigmata, unter denen Autisten nach wie vor zu leiden haben. Im letzten Beitrag ging es um den hohen Anteil von Selbstmorden und Selbstmordversuchen in der autistischen Population.
Danach bat Joanna Ławicka um Fragen. Es gab keine, aber ein autistischer Teilnehmer, eine hagere, eigenwillig gekleidete Gestalt, ergriff das Mikrophon. Auf der Treppe zur Bühne langsam hin und her schreitend, abgehackt und sichtlich nach Worten ringend, haderte er mit dem Schicksal: "Warum war mein eigenes Leiden nicht genug? Warum müssen immer noch so viele leiden? Warum hört es nicht auf? Wir müssen dafür sorgen, dass das Leiden aufhört!" Er weinte dabei, offenkundig überwältigt von der Erinnerung an sein eigenes Leid, mehr aber noch vom Gedanken an das Leiden anderer.
Der Teilnehmer Stiof, der in seinem eigenen Vortrag gerade noch hingewiesen hatte auf die Narben auf seiner Stirn, die er davon hat, dass er als Jugendlicher den Kopf gegen die Wand schlug, wenn die Reizüberflutung zu viel wurde, ging stracks durch den Saal zu dem jungen Mann in Schwarz und nahm ihn in den Arm.
So viel zur Empathielosigkeit der Autisten.