"Die Mafia gibt es nicht"
Seite 2: Ein dichter Dschungel aus Tatsachen und Beziehungen
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Vor allem aber interessiert sich der Regisseur dafür, warum dieser knallharte, auch in der Haft nicht gebrochene Gangster überhaupt das eherne Gesetz des Schweigens, die "Omertà" brach, und sich gegen seine Komplizen wandte.
Buscetta selbst machte kein Geheimnis aus seiner Sicht der Dinge: "Ich war und bin auch immer noch ein Ehrenmann. Diese Herren sind es, die die Ideale der Cosa Nostra verraten haben. Und deshalb halte ich mich nicht für einen Verräter."
Nicht er habe die Cosa Nostra verraten, die Cosa Nostra sei von ihren neuen Anführern verraten worden. Als er begann, Namen zu nennen, hatten Mafiaboss Totò Riina und sein Corleone-Clan bereits Frauen und Kinder ihrer Konkurrenten ermordet, was für Buscetta einen Schritt zu weit ging und mit dem alten Ehrenkodex der Mafia brach.
Bellocchio war in den über fünf Jahrzehnten seiner Karriere immer auch ein Chronist der italienischen Gesellschaft und Italiens Politik - selbst wenn er Horrorfilme drehte. Dieser Film ist, wie gesagt, ganz einfach, nüchtern und gradlinig, so nüchtern und gradlinig, wie italienische Politik nie sein wird, aber er ist dabei auch genau so kompakt und komplex, wie italienische Politik immer ist: Ein dichter Dschungel aus Tatsachen und Beziehungen, kaum durchschaubar für den Außenstehenden.
Und Bellocchio schlägt keine wüsten Schneisen in diesen Dschungel, er arbeitet eher mit Skalpell, Nagelschere und Rasiermesser: Ein Film der Feinheiten also über die unfeinen Herren, dabei von einer bewundernswerten Souveränität. Und auch hier taucht die Politik mit ihren Mafia-Verstrickungen auf.
Ein bitterer Witz liegt in der Entscheidung, die Toten in dem eskalierenden Bandenkrieg der Mafia durch einen Todesticker im Bild zu zählen. Auch darin, in dem Zynismus dieser nackten Zahlen - aber man erinnere sich: Der Zyniker ist ein enttäuschter Moralist - liegt ein weniger romantischer Blick, als ihn Martin Scorsese in "The Irishman" auf die Mafia warf. Auch das war ein Desillusionierungsfilm, aber eben doch auch ein letzter Auftritt der Band, in der noch mal alle "Greatest Hits" gespielt wurden.
Bellocchio ist besser in Form. Sein Film über das Leben und den Tod der Mafia, vor allem über ihr Altern ist der Film eines durchtrainierten Regisseurs in seinen besten Jahren - minimalistisch, ohne ein Gramm Fett. Bellocchio überspringt Buscettas Blütezeit als Fürst der Mafia fast komplett. Er feiert nie den Glamour des Verbrechens - wobei es auch nicht schlimm wäre, wenn er es täte. Aber ihn interessiert das nicht. Seine Entscheidung ist eine ästhetische, keine moralische.
Verräter wie wir
Als alles vorbei war, schloß sich Buscetta unter dem Deckmantel des Zeugenschutzprogramms seiner Familie in den USA an, aber nachdem Falcone 1992 ermordet wurde und Riina 1993 schließlich selbst vor Gericht gestellt wird, kehrte er nach Palermo zurück, um seinen Feind zu Fall zu bringen. Aus Rache, oder um seine Familie zu schützen? Es ist diese Zweideutigkeit, die Buscetta zu einer schillernden, faszinierenden Figur macht, die in all ihrer Unergründlichkeit auch sympathische Seiten hat.
Marco Bellocchio hat einen auch unterhaltsamen Film gedreht, einen dynamischen, nie langweiligen Mafia-Gangsterthriller mit Elementen des Gerichtsdramas, mit einer kraftvollen Kamera und hervorragendem Musikeinsatz, der mit der Attraktivität und den flamboyanten Seiten dieses Gangster-Playboys spielt. Zugleich ist dies am Ende eine Reflexion über Verrat und Loyalität und darüber, wann das eine besser ist, wann das andere; es ist dies auch ein Film über die Reue und die Wahrheit, über die Kraft und Erleichterung, die beide geben,
Was ist Verrat? Wer kann Loyalität verlangen? Wer Gefolgschaft? Ist es Verrat, seine innere Haltung zu ändern? Oder passt man sie den Verhältnissen an? Kann man sich überhaupt wandeln?
Sein Selbstbild scheint bei Buscetta bis zum Ende nicht angeknackst zu sein. Am Ende singt er nochmal. Wortwörtlich, Karaoke. Sie gehen über in einen Homemovie des echten Buscetta, ein gutaussehender Mann, der noch wesentlich charmanter wirkt als im Film. Friedlich starb er in seinem Bett, so wie er es gewünscht hatte, verfolgt nur von seinen Träumen. Ein Verbrecher ohne verlorene Ehre.