Die Masernimpfpflicht überzeugt noch immer nicht
In der Diskussion um Corona-Impfungen ist sie deshalb ein schlechtes Vorbild. Das Gesundheitsministerium will aber zu einer wissenschaftlichen Fundamentalkritik nichts sagen
Seit März 2020 gilt in Deutschland das Masernschutzgesetz. "Alle nach dem 31. Dezember 1970 geborenen Personen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung betreut werden, müssen den Masernschutz nachweisen", erklärt das Robert-Koch-Institut (RKI), das dem Gesundheitsministerium untergeordnet ist, in seinem Internetauftritt.
Das gilt nicht nur für Kindergärten und Schulen, sondern auch für Flüchtlingsunterkünfte, und zudem für das Personal der Gemeinschaftseinrichtungen, Krankenhäuser, Arztpraxen und anderen Gesundheitseinrichtungen.
Auf das Masernschutzgesetz bezog sich Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am 12. Januar, als er über Corona-Impfungen sprach. Er sagte, es bestehe "schließlich auch für die Masern eine Impfpflicht, die auf gesetzlichen Grundlagen beruhe", wurde von der Südwest Presse gemeldet.
Söder betonte zudem, dass es sich um eine "Pflicht", nicht um einen "Zwang" handele. Er sinnierte über eine Corona-Impfpflicht für bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Am selben Tag sagte Söder im ZDF:
"Die Freiheit, die wir uns alle wünschen, kommt nur zurück, wenn wir uns alle impfen lassen."
Doch die Masernimpfpflicht ist ein sehr zweifelhaftes Vorbild. "Die von Söder gewählte Analogie zu den Masern beweist nur das fehlende Verständnis für die Komplexität der zu Grunde liegenden Zusammenhänge", schreibt etwa der Verein Ärzte für individuelle Impfentscheidung in einer Stellungnahme vom 14. Januar.
Ein wesentliches Argument der Politik selber für das Masernschutzgesetz war und ist der durch die Impfung entstehende Herdenschutz, da erfolgreich gegen Masern Geimpfte nicht nur selber einen Impfschutz aufweisen, sondern die Erkrankung auch für längere Zeit nicht mehr weiterverbreiten können. Ob diese Herdenimmunität durch die aktuellen COVID-19-Impfstoffe gewährleistet ist, ist derzeit völlig offen - die vorliegenden Daten aus den Zulassungsstudien lassen nicht von einem Schutz Anderer durch die Impfung ausgehen (Arzneimittelbrief 2020). Die von Söder erhobene Forderung entbehrt damit jeder wissenschaftlichen und ethischen Grundlage.
Ärzte für individuelle Impfentscheidung
Gutachten liefert vernichtendes Urteil
Im Auftrag dieses und eines weiteren impfkritischen Vereins hatte schon 2019 der mittlerweile sehr bekannte Alexander Kekulé, der an der Universität Halle das Institut für Medizinische Mikrobiologie leitet, ein Gutachten zum Masernschutzgesetz erarbeitet. Sein Urteil fiel vernichtend aus.
Kein Wunder, denn selbst das jährliche Gutachten der zuständigen Kommission des RKI sprach 2019 von einer ausreichenden Durchimpfungsrate bei den Kindern und sah Deutschlands Problem bei den Masern bei der statistischen Erfassung der bestätigten Fälle, die zu wenige Rückschlüsse über Ansteckungsorte und mögliche Infektionsketten ermögliche.
In seinem Gutachten hält Kekulé zunächst zu einer Masernerkrankung fest:
"In 1:1000 Fällen tritt eine Gehirnentzündung (Postinfektiöse Enzephalitis) auf, die zu 10 Prozent tödlich endet und bei 20 bis 30 Prozent der Patienten bleibende Schäden hinterlässt."
Er hält dann fest, dass Deutschland drei der vier von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgegebenen Ziele bei der Masernbekämpfung erreicht habe. Das vierte Ziel, die Eliminierung der Masern, hätte mit Stand 2018 nur 60 Prozent der europäischen Länder erreicht.
Seit 2014 gälten in Europa vier Strategien, um die Eliminierung zu erreichen, erklärt Kekulé weiter. Das deutsche Masernschutzgesetz fokussiere aber vor allem eine davon: "Den Kern des Gesetzentwurfs bildet eine verpflichtende, zweimalige Impfung von Kindern bis zum Eintritt in Kindertagesstätten." Das Gutachten kommt zum Ergebnis:
Aus epidemiologischer Sicht besteht keine Notwendigkeit, die Quote der Zweitimpfungen im Kindesalter von derzeit 92,8 Prozent auf 95 Prozent zu steigern. Stattdessen wird empfohlen, die Vorschläge der WHO und nationaler Fachgremien zur Verbesserung der Surveillance und zu ergänzenden Impfprogrammen für Risikogruppen umzusetzen.
Gutachten Alexander Kekulé
Mit Surveillance ist die erwähnte statistische Erfassung für die Nachverfolgbarkeit gemeint. Kekulé nimmt mehrere Gesetzesbegründungen der Regierung auseinander. Dass sich seit 2007 vermehrt ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene infizieren, liege nicht an einer zu schlechten Durchimpfung von Kleinkindern, sondern an "einer erheblichen Impflücke bei nach 1970 geborenen Erwachsenen", an unwirksamen Impfungen und an der Einwanderung von ungeimpften Erwachsenen. "Auf diese Zusammenhänge hat das RKI in zahlreichen Publikationen hingewiesen", fügt Kekulé hinzu.
"Die WHO und die Nationale Verifizierungskommission Masern/Röteln (NAVKO) fordern schon länger ergänzende Impfprogramme für Risikogruppen, was jedoch nicht umgesetzt wurde."
Die von der Regierung zur Begründung des Gesetzes angeführte Behauptung, dass 95 Prozent eines Jahrgangs immun sein müssten, um Herdenimmunität zu erreichen, also die Weiterverbreitung der Infektion zu verhindern, hält Kekulé für falsch. Zum einen sei dieser Zahlenwert veraltet, zum anderen mache die WHO ihn nicht zur Voraussetzung.
Auch bei der jetzigen Durchimpfungsrate könnten die Masern in Deutschland nicht nennenswert zirkulieren, meint der Epidemiologe. Seine Kritik deshalb:
Der Gesetzentwurf kann de facto nur eine Erhöhung der Quote für die zweite Masernimpfung bei Kleinkindern bewirken. Davon profitiert jedoch nur etwa ein Tausendstel eines Jahrgangs, weil bereits die erste Impfung zu 95 Prozent Immunität verleiht. Dadurch wird weder die Herdenimmunität verbessert, noch werden Ausbrüche verhindert.
Gutachten Alexander Kekulé
Zum Schluss führt Kekulé noch das Verhältnismäßigkeitsgebot an. Die gesetzliche Impfpflicht scheint übertrieben zu sein, denn:
"Nur etwa einer von 1000 Fällen endet mit schweren Folgeschäden oder tödlich, das heißt es sind in Deutschland statistisch weniger als zehn Personen im Jahr davon betroffen."
Das Ministerium wiederholt die kritisierten Begründungen
Das Gutachten wurde laut "Ärzte für individuelle Impfentscheidung" dem Gesundheitsausschuss des Bundestags zugeleitet. Kekulé teilte auf Telepolis-Anfrage mit, er habe es damals "mit dem Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses ausführlich besprochen". Zudem vertrat er seine Position in einem Gastartikel in der Berliner Tageszeitung Tagesspiegel. Aber eine größere Diskussion darüber gab es wohl nicht. Auf die Frage, wie die Fachwelt auf sein Gutachten reagierte, antwortet Kekulé:
"Die Fachwelt reagiert auf Gutachten der Kollegen in der Regel nicht. Unter Fachleuten war die Notwendigkeit der Masernimpfpflicht ohnehin umstritten."
Von Telepolis auf Kekulés Kritiken angesprochen, teilt das Gesundheitsministerium schriftlich mit, "dass die Bundesregierung grundsätzlich keine Kommentare oder Meinungsbeiträge in den Medien kommentiert oder bewertet." Zur Rechtfertigung des Gesetzes führt das Ministerium unter anderem an:
Mit den zahlreichen bereits ergriffenen Maßnahmen konnten die zum sog. "Herdenschutz" - also dem Schutz vor der Ausbreitung und Ansteckung für nicht immune und nicht geimpfte Personen - erforderlichen Impfraten in Deutschland nicht erzielt werden. Daher waren trotz grundsätzlich hoher Masern-Impfraten in Deutschland weitere Schritte notwendig, um zumindest bei den besonders Schutzbedürftigen, in diesem Fall vor allem Kindern, das Schutzniveau zu erhöhen.
Gesundheitsministerium
Diesen Erklärungen widerspricht aber schon Kekulés Kritik von 2019. Die Ärzte für individuelle Impfentscheidung weisen in ihrer zitierten Stellungnahme darauf hin, dass "die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Masernimpfpflicht derzeit noch offen ist - dem Bundesverfassungsgericht liegen hierzu mehrere Beschwerden vor, die bislang nicht abschließend entschieden wurden". Die Klagen und sonstigen Aktivitäten des Vereins in dieser Sache sind im Internet dokumentiert.
Alexander Kekulé nimmt gegenüber Telepolis auch Stellung zur Diskussion über eine Corona-Impfpflicht:
"Im Pandemiefall ist eine Pflichtimpfung eher zu vertreten als bei Masern. Allerdings geht es bei Covid vorrangig um den Schutz bestimmter Bevölkerungsgruppen (insbesondere Hochaltrige), was mit milderen Mitteln erreichbar ist. Deshalb sehe ich die Eingriffsschwelle des Staates für eine Impfung unter Zwang nicht gegeben."
In Sachen Privilegien für Geimpfte - also dass sie zum Beispiel Veranstaltungen besuchen dürfen oder Reisefreiheit genießen - gibt der Epidemiologe zu bedenken:
"Es gibt wesentlich mehr durch Infektionen Immunisierte als Geimpfte. Diese können ihren Status jedoch nicht nachweisen, weil die Antikörper zum Teil verschwinden."
Söders Initiative für einen Impfzwang für bestimmte gesellschaftliche Gruppen stieß auf viel Ablehnung, aber die war manchmal darin begründet, dass niemand verschreckt werden soll und erst mal breit für die Impfungen geworben werden soll. Das Thema ist heikel, denn die gesetzliche Grundlage für eine Impfpflicht existiert längst.
Paragraf 20, Absatz 6 des Infektionsschutzgesetzes gibt dem Gesundheitsministerium das Recht, anzuordnen, "dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist".