Die Medien lügen (nicht)

Boris Groys und die "Phänomenologie der Medien" in seinem neuen Buch "Unter Verdacht"

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Der Kulturtheoretiker Boris Groys rekapituliert seine Thesen über das "Neue" und erweitert seine Kulturökonomie zu einer Phänomenologie der Medien. Herausgekommen ist eine Neuauflage der alten Frage zum Verhältnis von Sein und Schein: gründlich aufgeräumt wird mit der Illusion, mediale Bedeutung entstamme aus der Relevanz für eine außermediale Wirklichkeit.

Cover "Unter Verdacht"

Ihre Aussagen sind dumm, und gerade die dümmsten und seichtesten machen die steilste Karriere - die Rede ist nicht von den Instant-Berühmtheiten des Reality-Fernsehens, sondern von den leeren Zeichen an sich. Angesichts der berechtigten Frage, "warum in den Medien so viel Trash, so viel dummes, überflüssiges Zeug dauerhaft transportiert und gespeichert wird", verfällt Groys jedoch keineswegs in ein kulturapokalyptisches Lamento. Er zeigt in seiner subtilen Art vielmehr auf, dass aufgrund der Vermutung, hinter all diesen Oberflächlichkeiten würden doch noch ganz andere Werte verborgen sein, ein grundsätzlicher Verdacht erhoben wird: "Die Medien lügen". Und er zeigt weiter, wie die Versuche, von diesem Verdacht auf Unaufrichtigkeit ausgehend mehr Aufrichtigkeit und Relevanz von den Medien einzufordern, gründlich danebenliegen.

Alle Kritik unterliegt der allgemeinen Ökonomie des Verdachts. Auch die progressiven Kritiker, die den ganzen Trash toll finden wollen, weil er doch die Wahrheit in ihrer ganzen Banalität zeige, sitzen einem Effekt der medialen Aufrichtigkeit auf. Wahre Werte verdeckend oder Wahrheiten unbewusst entdeckend - wie immer Kritik ihren Ansatz wählt, traditionell oder progressiv, immer lebt in ihr wieder der Verdacht, unter den die mediale Oberfläche gestellt wird. Groys entdeckt darin nichts anderes als die philosophische Einsicht, dass die Dinge in ihrem Inneren anders sind, als sie sich uns zeigen. Folglich ist Medientheorie für ihn nichts anderes als die Fortsetzung der ontologischen Frage danach, was sich hinter den Erscheinungen verbirgt. Er nennt es den "submedialen Raum".

Das ist der wenig überraschende, ja sogar etwas langweilige Teil des vorliegenden Essays. Spannender ist die Herleitung der kritischen Frage nach den Botschaften des Mediums selbst. Wie kommt es, fragt Groys, dass die kulturelle Tradition mit ihrem Dualismus von den hohen und niederen Werten noch als Gespenst auf der medialen Oberfläche unendlich weiterspukt? Wie konstituiert sich die Ökonomie des Verdachts als Medium aller Medien?

Die Botschaft des Mediums

Urinal, Marcel Duchamp

Seit der Zeit des Post-Impressionismus schwelt die Debatte darüber, was denn nun Kunst sei und was eben nicht. Duchamps etwa hat eine Pissoir-Muschel ins Museum gestellt, Malevitch malt ein schwarzes Quadrat - Kunst ist nicht länger das, was etwas bezeichnet oder Bezeichnungen überhöht, sondern sie schafft Operationen jenseits einer bewussten Aussage. Bei moderner Kunst fragt nur noch der Banause nach Bedeutung. Im Readymade manifestiert sich die Ununterscheidbarkeit von Natur und Konvention, von Wirklichkeit und Kunst. Das Unternehmen der klassischen Avantgarde bestand darin, Verwirrungen auf Ebene der Signifikation in der Absicht zu stiften, das Mediale zur Offenbarung zu bringen. Groys entziffert daran den Versuch, die individuelle Botschaft radikal von der Botschaft des Mediums zu trennen.

Auch die Medientheorie wird vom Glauben genährt, die nicht intentionale Aussage ließe sich als Botschaft des Mediums dechiffrieren. Dieser Glaube zumindest ist das Erbe der klassischen Avantgarde, und tatsächlich findet sich bei McLuhan ja dort, wo er in Understanding Media vom "Medium" als der "Botschaft" spricht, der Bezug zum Kubismus. Die Botschaft des Mediums selbst aber wäre die reine Form, jenseits allen Inhalts, aller Mitteilung, aller Intentionalität.

Entgegen mancher Interpretation geht es dem medientheoretischen Ansatz also nicht um eine unterbewusste Botschaft, die vielleicht ideologiekritisch entschlüsselt werden kann. Es geht vielmehr um die nicht-menschliche Dimension, um den von der hermeneutisch ansetzenden Kommunikationswissenschaft gern ausgeblendeten Maschinen-Anteil in der Kommunikation. Dieses Thema wird in Groys' Essay ständig umkreist, und er sorgt für eine recht brauchbare Verdeutlichung: die konstitutiven Anfänge der Medientheorie folgen der künstlerischen Beschäftigung mit dem Medialen; einem Diskurs also, der Fragen des Verstehens ebenso gründlich ausgetrieben hat wie Fragen der Repräsentation.

"Erst durch den Bruch mit allem Menschlichen inklusive des menschlichen Unbewussten gewinnt die Medientheorie ihren eigenen diskursiven Gegenstand."

Triumph der medialen Oberfläche

Kasimir Malevitch: Carré noir, ca.1913

Aber auch McLuhan unterläuft seinen eigenen Anspruch und tendiert zur "Wiedervermenschlichung" des Diskurses, indem er andeutet, es wäre letztlich doch noch ein Understanding von Media möglich. Und die ästhetische Avantgarde konnte auch nur eine Zeit lang auf die reine Medialität verweisen, bevor sie am Kunstmarkt zugrunde gegangen ist. Nun überrascht Groys mit der schlüssigen Behauptung, dass keine Aktions-, Performance- oder gar Netzkunst das Erbe der ästhetischen Avantgarde antritt, sondern gerade eben der mediale Trash:

"Denn nur solche Zeichen, die arm im Geiste sind, verweisen am radikalsten auf das Medium selbst, anstatt auf etwas Außermediales zu verweisen."

So also triumphiert die mediale Oberfläche. Kunst mag weiterhin die Topografie der medialen Oberfläche thematisieren, sie offenbart aber auch nichts. Wie Kritik und Theorie schafft aber auch sie es nicht, den medienontologischen Verdacht auszuräumen: dass sich etwas hinter der Oberfläche verberge, das uns zwingt, ständig danach zu fragen, ob die Zeichenverschiebungen eine bewusste oder eine natürliche Ursache haben. Ist etwas passiert oder wurde manipuliert?

Den gesamten zweiten Teil seines Buches widmet Groys der Theorie vom symbolischen Tausch als kulturstiftendem Akt. Genauer gesagt: der Rezeption der anthropologischen Thesen von Marcel Mauss bei Claude Lévi-Strauss, Georges Bataille, Jacques Derrida und Jean-François Lyotard. Wer die Mühe eines lesenden Nachvollzugs nicht scheut, bekommt eine brillante Rekonstruktion des zentralen poststrukturalistischen Arguments: der Sinn eines Zeichens wird nicht durch sein Verhältnis zur sogenannten Realität bestimmt, sondern durch seine Stellung in einem Zeichensystem (System der Signifikation).

Ein Zeichen ist ein Zeichen ist ein Zeichen

Insgesamt wird damit die grundlegende These von "Unter Verdacht" gestützt, dass es sinnlos bzw. ein Missverständnis ist, den Medien Lüge und Manipulation vorzuwerfen. Doch Vorsicht, diese These ist wohl auf die Medientheorie gemünzt, nicht auf den Alltagsgebrauch (der wohl noch einiges an empirischer Überprüfung zulässt). Was aber ist dann die Position des Theoretikers? Kann ein Autor noch das Signifikat seines Schreibens beschreiben? Wenn nicht, ist dann nicht der philosophische Anspruch aufzugeben, eine verallgemeinerte Perspektive anzubieten? Auch der poststrukturalistische Analytiker wahrt noch die Rolle des Botschafters, der die Nachricht von der Differenz überbringt: dass individuelle Botschaften nämlich das nie sagen können, was sie sagen wollen. Wenn nun das, was beispielsweise Derrida uns sagt, von Groys für uns nochmals verdeutlicht wird, welche Position nimmt dann Groys selber ein? Es kann wohl nur eine metatheoretische sein, und nicht nur in diesem Sinn ist die Ankündigung, bei "Unter Verdacht" handle es sich um "Eine Phänomenologie der Medien" schlicht eine Irreführung.

In der dürftigen Landschaft medientheoretischer Analysen scheint Groys Ansatz, der mit Fragen nach der Wahrheit im Zusammenhang mit den Medien endgültig aufräumt, dennoch fruchtbar zu sein. Fassen wir zusammen: Unsere Kultur hat die Neigung zur Rückprojektion auf einen Idealzustand, in dem die mediale Aufrichtigkeit - Ausdruck und Bedeutung sind deckungsgleich und daher immer "authentisch" - noch der Fall gewesen ist. Gott lässt den Menschen am Schöpfungsakt teilhaben, indem er Adam die Namensgebung der Tiere gestattet. Alles weitere ist Verlustgeschichte, Kulturentwicklung nach der Logik des Zerfalls. Über die partikularen kulturellen Verluste erhebt sich die Theorie, weil sie die Verbindlichkeit einer Bibel oder eines absoluten Geistes nie mehr erreichen kann, aus denselben Motiven durch Annahme einer unendlichen Perspektive - oder eben einer Art von Verdacht, der sich in der Differenz von Ausdruck und Bedeutung in ganz ähnlicher Weise einstellt wie im Fall von Oberfläche und submedialer ‚Tiefe'.

Der Verdacht ist nicht real, aber seitdem die Schrift das Wort entkörperlicht hat, sorgen die "frei flottierenden Signifikanten" für Transzendenz einerseits, für die Perpetuierung des Verdachts andererseits. "Der Bruch", schließt Groys daraus, "der beim Übergang von den ‚idealistischen' Medien wie Gott oder Geist zu den ‚materialistischen' Medien wie Sonne, Unbewusstes, Leben, Computer oder Internet stattfindet, erweist sich damit als gar nicht so tief, wie man oft denkt."

Mediale Aufrichtigkeit gibt es hier wie dort nicht wirklich. Die Authentizität, zu der sich vermeintlich zurückkehren ließe, ist Illusion. Der Kontext entscheidet über den Text, nie zeigt sich das Mediale wirklich. Nur Zeichenoberfläche hier, der im submedialen Raum vermutete Zeichensouverän dort. Dass uns der submediale Raum verschlossen bleibt, sorgt für den fortgesetzten Verdacht. Das ist fatal, vielleicht aber auch nicht: Solange die Werte gelten, die zum Verdacht geführt haben, solange werden wir den Verdacht nicht los. Der Verdacht ist aber auch das Medium der Kunstkommunikation. Solange wir aber den Verdacht nicht loswerden, solange wird er unweigerlich immer wieder neue (Medien-)Kunstwerke hervorbringen.

Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. Hanser Verlag 2000