Die Neue Mitte

Probleme einer nationalen Ethik - eine halbe Abtreibung?

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n den Niederlanden hat die Regierung beschlossen, daß Transplantationen tierischer Organe in Menschen zulässig sind (Xenotransplantationen). In Belgien hat die Animal Liberation Front Fast-Food-Restaurants angegriffen (Eco-terrorists Declare War On Belgium's Burger Bars). In Deutschland hat Gerhard Schröder angekündigt, daß es in der Wirtschaftspolitik keine "linke" und "rechte" Politik gibt. Was ist all dem gemeinsam?

Man stelle sich vor, Schröder hätte gesagt, es gebe keinen Unterschied in der Einstellung zur Abtreibung. Dann wäre das Problem deutlicher. Für ihn wäre es schwierig, das zu sagen, weil Abtreibung allgemein als ein Thema angesehen ist, das ethisch umstritten ist. Es gibt keine halbe Abtreibung, und damit ist kein Kompromiß hinsichtlich dieses Themas möglich. Doch ein zentrales Schlagwort der Politik der Neuen Mitte oder des Third Way ist, daß es keine Spaltungen in der Gesellschaft und bei gesellschaftlichen Werten gibt.

Die neue Links-Mitte-Politik setzt hingegen "Gemeinschaft" mit der Nation gleich. Schröders Aussage zur Wirtschaft ist keineswegs einzigartig, denn Tony Blair hat bereits genau dasselbe geäußert. Die Politik der Neuen Mitte oder des Third Way ist nichts anderes als ein Konkurrenzkampf, wer der beste Manager der Nation ist. Die Werte, nach denen der Manager beurteilt wird, sollen angeblich von der ganzen nationalen Gemeinschaft geteilt werden. (Diese Annahme ist übrigens auch unter den Theoretikern der digitalen Demokratie verbreitet, die Demokratie als einen mathematischen Prozeß für die Bildung eines Konsens betrachten. Sie glauben, daß Abtreibungsbefürworter und -gegner den Wunsch nach 0,5 Abtreibungen gemeinsam haben, und daß die Online-Wahl diesen verdeckten Konsens offenbaren wird.)

Diese Politik nimmt logischerweise an, daß es bereits eine nationale Ethik, also eine Reihe von nationalen Werten gibt, die von der ganzen Nation getragen werden. Das eröffnet die Möglichkeit einer Themenpark-Ethik der Politik der Neuen Mitte ("Celebrate the Family Knowledge Millennium!"). Die Vorstellung eines nationalen ethischen Konsenses ist allerdings älter als Tony Blair: sie ist ein Merkmal der europäischen Nationalstaaten im allgemeinen. Wenn die Menschen in den Niederlanden nicht sicher sind, ob das Herz eines Schafes in ihren Körper gehört, dann lassen sie Wim Kok und sein Kabinett das entscheiden. Für Regierungen oder von der Regierung benannte nationale Ethikkommissionen ist die Formulierung ethischer Richtlinien, deren Umsetzung in Recht und deren Verbreitung durch das Ausbildungssystem das normale Vorgehen. Der Nationalstaat hat den Großteil der früheren Rolle der Kirche als ethische Beratungsinstanz übernommen. Abtreibung und Euthanasie sind die Ausnahmen: die meisten medizinisch-ethischen Fragen werden durch nationale Regierungen "gelöst". "Nationale Werte" sind eine Realität, aber es gibt für diesen geschichtlichen Prozeß des Nationalismus Grenzen.

Einige nationale Werte werden explizit in der Verfassung genannt, doch für die meisten ist dies nicht der Fall. Die belgische Verfassung sagt nicht explizit, daß man Tiere töten und essen darf. Das wird einfach als normal oder selbstevident unterstellt. Zumindest war es dies bis vor 30 Jahren, als die "Tierethik" Gestalt annahm. Angriffe auf Fast-Food-Restaurants in Belgien erinnern daran, daß eine totale nationale ethische Einheit eine Illusion ist.

Der typische europäische Nationalstaat hat einen allgemeinen politischen und sozialen Konsens über Hunderte von moralischen Themen erreicht. Das aber heißt nicht, daß dieser Prozeß abgeschlossen oder permanent ist: es gibt kein "Ende der ethischen Unterschiede". Tatsächlich kann jedes dieser vorliegenden Ethikthemen einen Bürgerkrieg verursachen, der mit den Religionskriegen zu Beginn des modernen Europa vergleichbar ist. Angriffe auf McDonalds-Filialen oder auf US-amerikanische Abtreibungskliniken weisen auf diese mögliche Gewalt hin, die unterhalb des scheinbaren einheitlichen Konsenses der liberalen Nationen lauert. Es gibt manche Menschen in Europa, die glauben, daß die Verwandlung von Rindern in Big Macs ein moralisches Äquivalent zu dem von Juden in Seife sei, und manchmal handeln sie in Übereinstimmung mit dieser Überzeugung.

Viele Menschen in Europa finden diesen Vergleich absurd. Diese Mehrheit in Belgien und den meisten anderen Nationen achten die Überzeugungen nicht, an denen solche Gruppen eisern festhalten, und sie sind bereit, diese zu marginalisieren. Belgien mag eine Demokratie sein, aber für eine Gruppe von nur 10 Menschen, die die Manager von McDonald's in Nürnberg wegen Genozids gehängt sehen möchten, bietet der demokratische Prozeß nichts. Zehn gegen zehn Millionen: Demokratien sind, mit oder ohne Gewalt, nicht für sehr kleine und sehr unterschiedliche Minoritäten konstruiert worden. Sie können nur Animal Liberation T-Shirts verkaufen.

Den Schritt, den Schröder und Blair ausgeführt haben, ist nicht nur eine Strategie zum Gewinnen der Wahlen. Beide haben sich selbst einer Vision der liberalen Demokratie als einem Mechanismus zur Unterdrückung von Unterschieden verpflichtet. Und weil die Unterschiede wirklich sind, kann das nur die Unterdrückung von Minoritäten bedeuten. Die belgische Regierung betrachtet die Angriffe auf Fast-Food-Restaurants als so ernst, daß die staatliche Sicherheitspolizei die Untersuchung koordiniert. Auch wenn es keine herkömmliche Unterdrückung gibt, so bedeutet eine nationale Standardethik eine Gesellschaft mit einer extremen Konformität. Man stelle sich vor, was man machen müßte, um ein Deutschland zu erhalten, in dem jeder dieselbe Meinung zur Wirtschaft hat. Man stelle sich vor, was man machen müßte, um Europa zu der (mythologischen) religiösen Einheit des Mittelalters zurückkehren zu lassen. Aber für Blair und anscheinend auch für Schröder ist die Einheit der Wert erstrebenswert, zumindest innerhalb eines Nationalstaates.

Das ist in sich selbst ein ethisches Problem. Ist der innere Frieden selbst das höchste Ziel einer Gesellschaft? Ist der politische Zweck von Europa die Prävention für "Religionskriege", wie manche Liberale glauben? Ist die Einheit der Werte ein Wert in sich? Die Politik der Neuen Mitte oder des Third Way beruht auf solchen Annahmen, doch meine Antwort auf diese Fragen lautet: Nein. Und bei diesem Theme sehe ich überdies keine Möglichkeit eines Kompromisses. Ich glaube nicht, daß es Blair und Schröder gelingen wird, Nationen aus zentristischen Zombies zu schaffen, aber sie sollten dies, wie ich meine, auch nicht einmal versuchen.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer