Die New York Times und die neuen Klimaleugner
Niemand kann mehr behaupten, dass der Klimawandel nicht stattfindet. Jetzt argumentieren die neuen Leugner, dass wir uns dem Klimachaos anpassen können. Die schnelle Energiewende wird als "magisches Denken" abgetan.
"Ja, Grönlands Eis schmilzt ..."
Die Überschrift des Meinungsartikels der New York Times vom konservativen Kolumnisten Bret Stephens steht über einem Bild der schmelzenden Eiskappe Grönlands, die in das darunter liegende matschige Schmelzwasser stürzt. Scrollt man weiter, erscheint das Wort "Aber ..." über dem Eis, das einem schmelzenden Schneematschhaufen auf einem Parkplatz ähnelt.
Schon ein Blick auf die Überschrift machte klar, worauf dieser Artikel hinauslaufen wird. In dem 6.000 Wörter umfassenden Artikel wird Stephens' Reise nach Grönland geschildert, die er als selbsternannter "Agnostiker" der globalen Erwärmung unternommen hat. Dort änderten die dramatischen Auswirkungen des Klimawandels "seine Meinung" über das Problem, bestärkten ihn aber in seiner "Überzeugung, dass die Märkte und nicht die Regierung das Heilmittel liefern".
Stephens' Sichtweise steht für eine neue Art der Klimaleugnung: Kein vernünftiger Mensch kann mehr behaupten, dass der Klimawandel nicht durch menschliche Ursachen beschleunigt wird oder dass er keinen Schaden verursacht. Stattdessen argumentieren sie, wie Stephens, dass das schnelle, entschlossene Handeln, das die Wissenschaftler für notwendig halten, "magisches Denken", dass echte Existenzangst "alarmistisch" sei und die meisten Menschen in der Lage sein werden, sich an die Klimakatastrophe anzupassen.
Kurz gesagt, die neuen Klimaleugner sagen:
Ja, das Klima verändert sich in alarmierendem Tempo, aber die Lösung liegt im Status quo.
Gleiche Daten, entgegengesetzte Schlagzeilen
In derselben Woche brachte die New York Times zwei gegensätzliche Schlagzeilen. "Climate Pledges Are Falling Short, and a Chaotic Future Looks More Like Reality" ("Klimazusagen werden nicht eingehalten, und eine chaotische Zukunft wird wahrscheinlicher") zeigte das Bild einer vertriebenen somalischen Frau und ihrer drei kleinen Kinder, die inmitten von Rinderkadavern spielen, die durch die Dürre in der Region in diesem Frühjahr getötet wurden.
Der Reporter Max Bearak beginnt seinen Artikel auf der Titelseite wie folgt:
Länder auf der ganzen Welt kommen ihren Verpflichtungen zur Bekämpfung des Klimawandels nicht nach, so dass die Erde einer Zukunft entgegengeht, die durch stärkere Überschwemmungen, Waldbrände, Dürren, Hitzewellen und Artensterben gekennzeichnet ist, so ein am Mittwoch von den Vereinten Nationen veröffentlichter Bericht.
In dem Artikel heißt es weiter, dass sich der Planet bis 2100 um 2,1 bis 2,9 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau erwärmen wird. Das im Pariser Abkommen von 2015 festgelegte Ziel lag bei 1,5 Grad, bei dessen Überschreitung das Risiko schwerwiegender Klimaauswirkungen zunimmt, wie Wissenschaftler warnen.
Doch einen Tag später trug der beliebte Newsletter der Times, der täglich von Millionen gelesen wird, die Betreffzeile "The Climate's Improved Future" ("Die Zukunft für das Klima hat sich verbessert"). Die Daten, die der Times-Reporter German Lopez in dem Newsletter zitiert, unterscheiden sich nicht von denen in dem Nachrichtenartikel vom Vortag: Die Erde wird sich bis zum Jahr 2100 wahrscheinlich um zwei bis drei Grad Celsius erwärmen, was weit über dem Ziel liegt, das Wissenschaftler als relativ sicher bezeichnet haben.
Der Unterschied besteht darin, dass Lopez eine neue Titelgeschichte von David Wallace-Wells für das Times Magazine zusammenfasst, in der der Autor seinen neu entdeckten Optimismus zum Ausdruck bringt, dass die Welt den worst-case "Weltuntergang" von fünf Grad Erwärmung nicht erreichen wird, den er fünf Jahre zuvor in einem Artikel im New York Magazine untersucht hatte. Wallace-Wells schreibt nun:
Das Fenster der möglichen Klimazukunft wird immer kleiner, und so bekommen wir ein klareres Bild davon, was auf uns zukommt: eine neue Welt voller Störungen mit Milliarden von Menschen, ein Klima, das weit über das Normale hinausgeht, und doch glücklicherweise kurz vor einer echten Klimaapokalypse stehen bleibt.
Im Vergleich zu fünf sind zwei bis drei Grad natürlich besser. Aber man darf nicht vergessen, dass selbst ein Anstieg der Erdtemperatur um 1,5 Grad immer noch schädlich ist. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 lagen die Temperaturen etwa 1,1 Grad über dem vorindustriellen Ausgangswert.
Im Jahr 2021 breiteten sich tödliche Hitzewellen über Nordamerika und das Mittelmeer aus; katastrophale Überschwemmungen verwüsteten die Europäische Union, China, Indien und Nepal; und der Meeresspiegel erreichte Rekordhöhen (World Economic Forum; FAIR.org; US News). Angesichts des noch bevorstehenden Anstiegs um 1,5 Grad kosten die Folgen des Klimawandels auf der ganzen Welt bereits jetzt Menschenleben und Existenzgrundlagen.
In The Morning nannte Lopez Gründe für eine möglicherweise weniger katastrophale Klimazukunft: Die Kohle ist auf dem Rückzug, die Preise für erneuerbare Energien sinken, und die Weltmächte beschließen Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels. Lopez schreibt:
Zu diesen Ländern gehören auch die Vereinigten Staaten, die vor kurzem mit dem Inflation Reduction Act umfassende Anreize für saubere Energie geschaffen haben.
Das stimmt, aber nur einen Tag zuvor hatte Bearak an gleicher Stelle Folgendes berichtet:
Das neue Gesetz wird die Vereinigten Staaten nur etwa 80 Prozent dessen erzielen können, was an Emissionsreduktionen versprochen wurde.
Wieder einmal ist der Kontext wichtig.
Lopez weist darauf hin, dass "besser nicht gleichbedeutend mit gut" sei und die Länder ihre Klimazusagen nicht eingehalten haben.
Selbst nach den optimistischsten Klimavorhersage-Modellen werden Wetterextreme in den kommenden Jahrzehnten schlimmer und häufiger werden.
"Überschaubar" für die Reichen
Lopez kommt zu dem Schluss, dass "die Aussichten durchwachsen sind":
Hätte man vor 30 Jahren einen politisch zynischen Menschen gefragt, wie die Zukunft des Klimas aussieht, hätte er vielleicht geantwortet, dass wir auf einem Temperaturniveau landen, das für die reichen Länder der Welt schwierig, aber beherrschbar ist, während es für die Entwicklungsländer viel, viel schwieriger ist. Und das ist es, worauf wir zusteuern.
Anhaltende und sich verschlimmernde Wetterextreme, die das Leben "schwierig, aber beherrschbar" für die reichen Länder und "viel, viel schwieriger" für die Entwicklungsländer machen, veranlassen die New York Times zu einer Schlagzeile, in der sie die "verbesserte Zukunft" des Klimas feiert, nur einen Tag nachdem sie gewarnt hatte:
Mit jedem Bruchteil eines Grades Erwärmung wären weltweit Dutzende Millionen Menschen zusätzlich lebensbedrohlichen Hitzewellen, Nahrungsmittel- und Wasserknappheit sowie Überschwemmungen an den Küsten ausgesetzt, während Millionen weiterer Säugetiere, Insekten, Vögel und Pflanzen verschwinden würden.
Wie Aktivisten für Klimagerechtigkeit seit Jahren betonen, sind es die armen Länder und Menschen, die am meisten von der Klimakatastrophe betroffen sind. Die zentrale Bedeutung des Themas "Verluste und Schäden" auf der COP27-Konferenz ist ein weiterer Beweis dafür.
Ein Bericht der International Disaster Database für das erste Halbjahr 2022 listet die zehn Länder auf, die am stärksten von Naturkatastrophen betroffen sind, und zwar nach der Zahl der Todesopfer, der Zahl der betroffenen Menschen und der wirtschaftlichen Schäden. Alle Länder auf dieser Top-Liste sortiert nach "Todesfällen" und "betroffenen Menschen" liegen im globalen Süden und keines in Europa oder Amerika.
Fossile Brennstoffe als Argumente
Wir steuern nicht nur auf einen Anstieg um mindestens 1,5 Grad zu. Ein neuer UN-Bericht vom 27. Oktober besagt, dass es derzeit nicht einmal einen ernsthaften Plan gibt, wie die Länder dieses Ziel erreichen können. Die derzeitigen Reduktionszusagen der Staaten werden die Erdtemperatur um mindestens 2,5 Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts ansteigen lassen.
Inger Andersen, die geschäftsführende Direktorin des UN-Umweltprogramms (UNEP), sagte dem Guardian:
Wir hatten unsere Chance, schrittweise Veränderungen vorzunehmen, aber diese Zeit ist vorbei. Nur eine tiefgreifende Umgestaltung unserer Wirtschaft und Gesellschaft kann uns vor einer beschleunigten Klimakatastrophe bewahren.
Dennoch argumentiert Stephens in seinem ausführlichen Meinungsbeitrag, dass die Antwort auf die Klimakatastrophe im "Markt" liegt, obwohl der uns erst in die derzeitige Krisensituation gebracht hat. Wie Judd Legum und Emily Atkin in Popular Information aufzeigen, ist der Vorschlag, die Probleme, die der Kapitalismus hervorgebracht hat, durch mehr Kapitalismus zu lösen, nichts anderes als ein Argument der fossilen Brennstoffindustrie.
Das gilt auch für andere Aspekte des Problems:
Viele Menschen denken bei fossilen Brennstoffen vor allem an den Transport, die Stromerzeugung und das Heizen. Aber wie oft denken wir an die Notwendigkeit fossiler Brennstoffe für die Produktion von Stickstoffdünger, ohne den es, wie der kanadische Autor Vaclav Smil feststellt, "unmöglich wäre, mindestens 40 bis 50 Prozent der heute rund acht Milliarden Menschen zu ernähren"?
Stephens argumentiert im Wesentlichen, dass die vollständige Abkehr von fossilen Brennstoffen "gegen die menschliche Natur" sei und die bisherigen Klimaschutz-Lösungen wie eine Krebsbehandlung mit schmerzhaften Nebenwirkungen seien.
Okay, bleiben wir bei dieser Metapher: Wenn die derzeitigen Lösungen wie eine Chemotherapie für Lungenkrebs sind, dann sind fossile Brennstoffe wie Zigaretten. Man gibt jemandem, der sich einer Krebsbehandlung unterzieht, nicht ständig Zigaretten. Es wäre absurd zu behaupten, dass Zigaretten eine notwendige Zwischenlösung für die Behandlung von Krebs sind.
Wenn die, fossilen Brennstoffen zugeneigte New York Times Argumente, wie die von Stephens, veröffentlicht und auf der Grundlage derselben Klimadaten mit der Frage Pingpong spielt, ob die Lage erschreckend oder beruhigend sei, trägt sie dazu bei, die Öffentlichkeit zu verwirren und uns selbstgefällig und mitschuldig zu machen. Es ist diese Unternehmenspropaganda – nicht die "menschliche Natur" –, die unsere Kultur davon abhält, die notwendigen Veränderungen vorzunehmen, um eine unkontrollierbare und tödliche Zukunft zu vermeiden.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Common Dreams. Übersetzung: David Goeßmann.
Olivia Riggio ist US-Journalistin, Autorin von Fairness & Accuracy In Reporting (FAIR) und seit April 2021 Leiterin der Verwaltung und des Fundraisings von FAIR.
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