Die Psychologie der Gewalt: Wie Angst Demokratien zerstört
Angst ist ein Werkzeug zur Kontrolle. Autoritäre Systeme nutzen sie gezielt. Doch wie genau zerstört Angst die Demokratie? (Teil 2 und Schluss)
Das Verhältnis von gesellschaftlicher und psychischer Entwicklung soll nun u. a. aus der Sicht von einigen Vertretern der kritischen Psychologie weiter beschrieben werden, die z. T. auf dem marxistischen Ansatz, den Überlegungen der Kritischen Theorie, aber auch auf Einschätzungen beruhen, die hierüber hinausgehen.
Eine Hauptthese: Die angesprochene Identifikation mit der Entfremdung im Kapitalismus könne auch für formal demokratische Gesellschaften gelten, welche die Demokratie im fassadenhaften Anspruch zum Verfassungsprinzip erklären, die aber in der Realisierung, z. B. in den Familienstrukturen, den Unternehmen, den Schulen, den Verwaltungen oder in dem Parteiensystem, nur verdeckt-autoritäre Gesellschaften darstellen würden.
Dieter Duhm zeigt in seinem 1972 erschienenen linken Bestseller ("Angst im Kapitalismus") wie Realangst, die durch körperliche Gewaltausübung im Elternhaus entsteht, sich im Laufe der menschlichen Sozialisation in neurotische Angst umwandelt. Neurosen seien die "konservierte Realangst"1, bei der die eigenen Bedürfnisse ins Unterbewusstsein verdrängt, dort neurotisch festgehalten würden und dennoch wirksam werden können.
Dies sei eine psychologische Anpassungsleistung, sodass der Mensch in hierarchischen Strukturen von sich aus funktioniere und den Kapitalismus hierdurch stabilisiere. Somit könne in der Regel auf direkte Gewaltausübung verzichtet werden, sodass das Autoritäre und die strukturelle Gewalt nicht offen zutage treten müsse.
Duhm analysiert fast 50 Jahre später, dass gerade in Corona-Zeiten noch einmal die Angstdosis erhöht und das globale Angstpotenzial gesteigert wurde. Und: Corona verschärfe die psychischen Probleme von Angst, Depression und Vereinsamung, erhöhe den ohnehin vorhandenen psychischen Druck:
Corona is the condensation of a latent field of fear through which all of humanity is moving today.
Der Psychologe und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld macht ebenfalls deutlich, dass der Aufbau latenter Angst ein effektives Machtinstrument der jeweils Herrschenden ist:
Macht und Angst gehören in der politisch-gesellschaftlichen Welt eng zusammen. Macht bedeutet das Vermögen, seine Interessen gegen andere durchsetzen zu können und andere dem eigenen Willen zu unterwerfen. Macht hat also für den, der sie hat, viele Vorteile und für diejenigen, die ihr unterworfen sind, viele Nachteile. Macht löst bei den ihr Unterworfenen häufig Gefühle aus, von der Macht überwältigt und ihr gegenüber ohnmächtig zu sein. Macht erzeugt also Angst. Da Angst selbst wiederum Macht über die Geängstigten ausübt, haben diejenigen, die es verstehen, Angst zu erzeugen, eine sehr wirkungsvolle Methode, auf diese Weise ihre Macht zu stabilisieren und zu erweitern.
Mit ängstlichen Menschen sei es schwierig, eine echte Demokratie aufzubauen. Allerdings könne eine "kapitalistische Demokratie" unter den Bedingungen einer subtil verinnerlichten Ängstlichkeit ihrer Bürger durchaus funktionieren. Kapitalismus und Demokratie würden sich in einem Grundwiderspruch befinden und können nur durch die neurotische Angst ihrer Bürger existieren, die es nicht wagen würden, die Eigentumsfrage, d. h. die Frage nach der Abschaffung der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und nach deren Demokratisierung, zu stellen.
Das Ansteigen neurotischer Angst kann als psychisches Krisenphänomen einer Gesellschaft mit einem demokratischen Eigenanspruch angesehen werden. Des Weiteren sind auch die Analysen von Adorno zur sexuell frustrierten autoritären Persönlichkeit zu berücksichtigen, deren Frustration und Triebstau sich in autoritären Gewalteruptionen niederschlagen können.
Derart frustrierte Persönlichkeiten würden in faschistischen Systemen oftmals zu aggressiven Trägern der gesellschaftlichen Ordnung werden. Aus einer gesellschaftstheoretischen Sichtweise entsteht – zusammengefasst – eine Tendenz zum autoritären Charakter vor allem durch folgende Mechanismen:
Aus psychoanalytischer Sicht (Psychoanalyse) bildet sich der autoritäre Charakter aus, wenn aggressiv-triebhafte und andere Bedürfnisse des Kindes durch elterliche Gehorsamkeitsforderungen zu stark unterdrückt und schließlich auf andere Menschen, sozial Schwächere oder Minderheiten gerichtet werden; aus soziologischer Sicht wird primär der Anpassungsdruck repressiver gesellschaftlicher Bedingungen und hierarchischer Strukturen verantwortlich gemacht; aus sozialpsychologischer Sicht werden v. a. die von der Familie und anderen sozialen Bezugsgruppen übernommenen Denkmuster und Vorurteile hervorgehoben (autoritäre Persönlichkeiten wechseln unter Umständen ihre Ideologie, einige "kippen" sogar zw. rechtsextrem und linksextrem); entwicklungspsychologisch kann eine misslingende Ablösung von den Eltern eine unzureichende Identitätsfindung bewirken, sodass eine autoritär strukturierte Abhängigkeit fortbesteht.
In seiner Rede an den "kleinen Mann" charakterisiert der österreichische Arzt, Psychoanalytiker und Soziologe Wilhelm Reich 1948 den "kleinen Mann" als einen autoritär sozialisierten kranken Menschen, der so lange Schreckliches anrichten wird, bis es ihm gelingt, sich selbst zu erkennen und zu entwickeln. Die psychische Notwendigkeit, Feindbilder zur eigenen Persönlichkeitsstabilisierung zu entwickeln und autoritäre Vernichtungsphantasien zu propagieren, sei Ausdruck einer verbreiteten psychischen Störung – so Reich2:
…du warst ein wenig betrunken, und du warst gerade von Übersee heimgekehrt, aus dem Kriege, und ich hörte dich die Japaner als "häßliche Affen" bezeichnen. Und dann sagtest du mit dem bestimmten Ausdruck im Gesicht … "Wißt ihr, was man mit diesen Japs an der Westküste machen sollte? Jeden einzelnen aufknüpfen sollte man, aber nicht rasch, sondern ganz langsam, indem man alle fünf Minuten die Schlinge am Hals um eine Windung enger dreht" … Hast du jemals ein neugeborenes japanisches Baby in den Armen gehalten, kleiner Patriot? Nein?
Du wirst Jahrhunderte japanische Spione und amerikanische Flieger und russische Flieger und russische Bäuerinnen und deutsche Offiziere und englische Anarchisten und griechische Kommunisten aufknüpfen, erschießen, mit Elektrizität verbrennen, in den Gaskammern ersticken, doch an deiner Verstopfung des Darmes und des Verstandes, an deiner Liebesunfähigkeit, an deinem Rheumatismus und an deiner Geisteskrankheit wird sich nicht das geringste ändern. Keine Schießerei und keine Hängerei wird dich aus dem Dreck ziehen, in dem du steckst; sieh dich selbst an, kleiner Mann! Es ist deine einzige Hoffnung!
Nur Merkmale kapitalistischer Systeme?
Dies sind sicherlich wichtige psychoanalytische Erklärungsansätze aggressiven Verhaltens und fehlender Friedfertigkeit, die allerdings über eine noch komplexere Sichtweise der Entstehung von gesellschaftlicher Aggressivität, Kriegslust und Bellizismus erweitert werden müssten.
Hierbei gilt es u. a. ökonomische und politische Interessen zu thematisieren, die zu einem medial geschürten Klima der Aggressivität mit verbundenen Feindbildkonstruktionen in einer Gesellschaft führen – und dann auch wiederum entsprechende Sozialisationsverläufe prägen.
Dies sind u. a. Interessen der besitzenden Klasse wohlhabender Staaten an Bodenschätzen und Ressourcen anderer Regionen und Staaten, Interessen an der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zum Zwecke der Profitmaximierung sowie geostrategische Interessen, ökonomische Vorteile über die militärische Sicherung von Einflusszonen durchzusetzen.
Natürlich stellt sich hierbei sofort auch die Frage, ob der Zusammenhang zwischen Gesellschaftsstruktur und Massenneurose tatsächlich ein psychisches Phänomen ist, das nur spezifisch für den Kapitalismus gilt. In den realsozialistischen Ländern wurde ebenfalls aus einer Kombination aus Realangst sowie aus neurotischen Ängsten gearbeitet. Die Realangst, verhaftet, eingesperrt, gewalttätig, verhört, umgebracht zu werden, entwickelte sich zu einer latent neurotischen Angst, zur psychischen Ausrichtung und auch dort in Richtung auf eine erzwungene Systemanpassung.
Angst ist somit für alle hierarchischen und autoritären Herrschaftsformen – in diesem Fall dem hoch entwickelten Kapitalismus und den staatsbürokratischen und oligarchischen Systemen – ein geeignetes Mittel ihrer Machtsicherung, solange hier keine echte Demokratie, also eine maßgebliche Partizipation in allen gesellschaftlich wichtigen Fragen für die Mehrheit der Gesellschaft, vorhanden ist.
Mit ängstlichen Menschen, die zudem ihrerseits wiederum bemüht sind, Amtsautorität und Angstinduktion in den gesellschaftlichen Institutionen selbst zu entwickeln, ist es problematisch, eine echte Demokratie aufzubauen und weiterzuentwickeln. Mit autoritär sozialisierten und neurotischen Persönlichkeiten ist es zudem sowohl schwierig, eine friedliche Gesellschaft aufzubauen, als auch den Frieden in der Welt zu bewahren.
Hierbei stellen insbesondere die militärisch gedrillten und national eingeschworenen jungen Menschen in den Armeen der Welt ein hochproblematisches Potenzial autoritär disziplinierter Persönlichkeiten und instrumenteller Vernunft dar, die es gewohnt sind, ohne Zweifel äußern zu dürfen, Gehorsam zu leisten und Befehle auszuführen, die über Tod oder Leben entscheiden.
Dies gilt sowohl für Armeen kapitalistischer Systeme unterschiedlichstem Entwicklungsstand als auch für das Militär staatsbürokratischer und offen diktatorischer Systeme.
Die narzisstisch gestörte Persönlichkeit und Friedensfähigkeit
Eine erst in den vergangenen Jahrzehnten häufiger thematisierte psychische Erkrankung liegt im Narzissmus begründet. Narzissmus ist eine Form übertriebener und extremer Selbstliebe.
Natürlich sollte eine psychisch gesunde Persönlichkeit sich selbst akzeptieren und sich selbst zugeneigt sein. Dennoch gibt es eine Grenze bedingungsloser Selbstakzeptanz. Wenn diese überschritten wird, zählen nur noch egozentrisch die eigenen Bedürfnisse und Interessen.
Hiermit verbunden ist die Unfähigkeit zu lieben, sich einem/r Partner in achtungsvoller Verbundenheit zuzuwenden, eine tragfähige Verbindung über einen längeren Zeitraum einzugehen.
Auch neuere Arbeiten des Psychoanalytikers Hans-Joachim Maaz zur narzisstischen Persönlichkeit und ihrem überhöhten Wunsch nach Anerkennung machen deutlich, dass bei der aufgrund defizitärer Kleinkind-Erfahrungen narzisstisch gestörten Persönlichkeit – insbesondere auch bei verantwortlichen Politikern – der Versuch vorliegt, ihre eigentliche Verunsicherung mit Machtstreben und kriegerischem Gebaren bis hin zur "Kriegslust" zu kompensieren.
Erwachsene Persönlichkeiten mit einem aggressiven Gefühlsstau, der sich funktional im Rahmen der Vorbereitung eines Krieges und in der Kriegsdurchführung nutzen lässt, würden ungelöste Konflikte in der Kindheit verbunden mit einer entsprechenden "Kriegslust-Erkrankung" aufweisen3:
Zugrunde liegen immer die psychosozialen Entfremdungen der Frühtraumatisierung durch die beschriebenen mütterlichen und väterlichen Beziehungsstörungen. Der damit verbundene Gefühlsstau, wenn Zorn, Wut und Hass durch die erlittene Bedrohung, Ablehnung, Abwertung, Kränkung in der traumatisierenden oder defizitären Frühbetreuung nicht zum Ausdruck gebracht werden können oder dürfen, bedeutet ein permanentes energetisches Stress- und Druckpotenzial, das entladen werden möchte und soziale Wege der Entladung sucht.
Hans-Joachim Maaz
Verbunden mit dem Narzissmus ist der Wunsch nach beständiger Bestätigung und der beständigen Spiegelung des Selbst in den Augen der anderen. Das US-amerikanische DSM (Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders) führt für die narzisstische Persönlichkeitsstörung folgende Merkmale auf: Allwissens- und Allmachtsfantasien, Anspruchsdenken, Mangel an Empathie und Neid, leicht gekränkt.
Um Kränkungen zu verarbeiten und das innere Gleichgewicht wiederzuerlangen, neigen narzisstisch gestörte Persönlichkeiten häufig entweder zu autoaggressivem Verhalten oder zu Aggressivität gegenüber anderen.4
Wenn Kinder im Säuglingsalter – so die Psychoanalytikerin Benigna Gerisch – nicht die nötige Zuwendung der Mutter bekämen, würde dies sich für sie traumatisch auswirken. Dann würden sie ihr Leben lang hinter dieser Zuwendung hinterherlaufen, indem sie sich diese Zuwendung und die Bestätigung ersatzweise im Rahmen des sekundären Narzissmus beständig besorgen müssen.5
Wie gesellschaftlich relevant sind Aussagen über den Narzissmus?
Gefährlich wird es tatsächlich, wenn narzisstische Persönlichkeiten eine dominante Machtstellung in Partnerschaftsbeziehungen oder in der Gesellschaft bekommen – sozialen Gemeinschaften, die auf einem hohen Maß an solidarischer Verantwortlichkeit basieren.
Hier gibt es gegenwärtig in der internationalen Politik genügend Beispiele narzisstisch gestörter Persönlichkeiten mit einem gefährlichen Hang nach repressiver Durchsetzung ihrer Machtbedürfnisse und ökonomischen Interessen nach innen und außen, gekoppelt mit einem übersteigerten Maß der Selbstverliebtheit und Egomanie. Probleme und Konflikte werden nicht verantwortlich gelöst, sondern vor allem aus der eigenen egozentrischen und affektiv beeinflussten Bedürfnislage heraus bearbeitet, ohne die legitimen Interessen der anderen zu sehen.
Narzisstische Verhaltensweisen und Störungen in dem vorhandenen Umfang sind allerdings auch Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen. Während in konventionellen Gesellschaften der Einzelne hinter der Gesellschaft zurückzutreten hat, ist die individualisierte und sich selbst inszenierende Persönlichkeit in post-konventionellen Gesellschaften das über Sozialisationsprozesse vermittelte Idealbild gesellschaftlicher Entwicklung.
Wilhelm Reich sieht den Ausweg für den einsichtigen und vom Narzissmus betroffenen Menschen zu Recht in einer Bewusstwerdung ("sieh dich selbst an"). Erst, wenn sich Menschen zum Bezugspunkt ihres kritischen Nachdenkens machen, haben sie die Chance, aus den vorgegebenen normativen Grenzen herauszutreten und auch psychisches Neuland zu betreten.
Hier müssen sich strukturelle Veränderung im Sinne eines Abbaus gewalttätiger Strukturen und (auch z. T. professionell unterstützte) Selbstarbeit auch gemeinsam mit anderen wechselseitig entwickeln und ergänzen. Schwere psychische Störungen müssen jedoch zusätzlich therapeutisch behandelt werden.
Doch ein anderes psychisches Problem scheint noch den Narzissmus als Massenphänomen zu überlagern. Millionen Menschen erkranken z. B. in Deutschland jedes Jahr an Depressionen. Der Verlust authentischer zwischenmenschlicher Kontakte – gerade auch in der digitalen Mediengesellschaft über die Abhängigkeit von KI-gesteuerten digitalen und virtuellen Medien – führt zu Einsamkeit und Isolation und damit verbunden oftmals zu einer depressiven Erkrankung, vor allem dann, wenn noch weitere Faktoren einer psychischen Schwächung vorliegen.
So können frühkindlich entstandene oder im Laufe späterer Biografie sich entwickelnde Verluste, Niederlagen oder Überforderungen sich gegen sich selbst wenden. Gehemmte Aggressionen und nicht bearbeitete Wut können zu Depressionen und unter anderem zur Selbstaggression führen.
Wenn Menschen aufgrund eines Zusammenspiels aus defizitären und problematischen frühkindlichen Erfahrungen, biografischen Niederlagen und subjektiv empfundener gesellschaftlicher Auswegs und Sinnlosigkeit an schweren Depressionen erkranken, dann hilft neben einem zugewandten und sensibilisierten sozialen Umfeld nur noch eine geeignete professionelle psychotherapeutische Betreuung, um das Schlimmste – den Suizid – zu verhindern.
Kriege benötigen autoritär sozialisierte und psychisch gestörte Persönlichkeiten
Friedensfähigkeit enthält einen Friedensbegriff, der mehr als den zeitweiligen Verzicht auf Aggression im Sinne eines erzwungenen Waffenstillstands meint. Frieden kann – im Sinne des norwegischen Friedensforschers Johan Galtung – erst entstehen oder nachhaltig gesichert werden, wenn gewaltförmige Gesellschaftsstrukturen weitgehend beseitigt worden sind.
Psychische Erkrankungen mit gesellschaftlichen Ursachen sind zu ihrer Heilung – neben der gezielten therapeutischen Bearbeitung – ebenfalls auf die Beseitigung gewaltinduzierter Strukturen in der Familie, in den Schulen und Universitäten, in der Wirtschaft, in den öffentlichen Verwaltungen sowie im gesamten Gesellschaftssystem angewiesen.
Menschen, die sich psychisch den auf Ausbeutung, Entfremdung, Gewalttätigkeit und Kriegstreiberei ausgerichteten Strukturen über Identifikationsprozesse unterwerfen müssen, können nicht zum historischen Subjekt friedfertiger Welt- und Gesellschaftsentwicklung werden.
Erst Menschen, die ihr humanes Potenzial zu entdecken und im gesellschaftsverändernden Engagement entfalten gelernt haben, können letztlich Träger einer auf Emanzipation, Gerechtigkeit und Friedfertigkeit gerichteten gesellschaftlichen Bewegung werden.
Die neurotische psychische Struktur erscheint als Hindernis für eine echte Demokratisierung von Gesellschaft, die mehr als eine Schein- bzw. eine Fassadendemokratie sein will. Auch das die Psyche dominierende instrumentelle Denken und der damit verbundene Habitus des Homo oeconomicus, der prioritär im Sinne seiner egozentrischen Nutzenmaximierung entscheidet, stellen ein Hindernis für eine gesellschaftliche Neuordnung dar, die an Solidarität, Ökologie und Gemeinwohl orientiert ist.
Ebenfalls die narzisstische Persönlichkeitsstörung stellt eine Behinderung für solidarisches und verantwortungsvolles Verhalten sowie eine Voraussetzung für aggressives Verhalten dar. Der depressiv gewordene Mensch, der für sich aufgrund seiner biografischen Erfahrungen keinen Lebenssinn mehr konstruieren kann, wiederum kehrt seine Aggression oftmals gegen sich selbst und verfällt in Antriebslosigkeit und im schlimmsten Fall in Selbstzerstörung.
Die zunehmende Remilitarisierung der Welt und die Wiederkehr soldatischer Disziplin und nationalchauvinistischen Denkens durch die derzeit anwachsenden nationalen Armeen und militärischen Koalitionen prägen wieder vermehrt auch über staatlich gelenkte Maßnahmen die Jugend der Welt. Dies hängt – neben den davon Überzeugten und Freiwilligen – vor allem entweder mit staatlicher Repression, mit psychischer Manipulation oder mit gesellschaftlicher Perspektivlosigkeit und fehlendem Lebenssinn zusammen.
Wo Jugendliche sich in weitgehend wohlhabenden Gesellschaften noch frei entscheiden können, z. B. in Deutschland, haben Armeen Rekrutierungsprobleme.
Militär benötigt autoritär sozialisierte Persönlichkeiten, die sich bereitwillig unterwerfen, wirkt aber auch in diese Richtung hin. Eigenart und Kritikfähigkeit sind in der Befehlssituation nicht gefragt. Der Soldat im Einsatz wird gezwungen, seine Individualität aufzugeben und zu einem Rädchen im militärischen Getriebe zu werden.
Soldaten müssen sich zum Instrument in der Befehlskette degradieren lassen. Sie müssen die zivilisatorisch erworbene Tötungshemmung ablegen und bereit sein zu töten, aber auch selbst das Risiko einzugehen, sich erschießen, verbrennen oder in die Luft sprengen zu lassen.
Der Preis, den sie für ihre militärische Existenz zu zahlen haben, ist hoch. Die Folgen ihres Verhaltens für andere sind ebenfalls tödlich.
Nach einem zu Ende gegangenen Krieg müssten eigentlich alle an dem Töten und Zerstören beteiligten Soldaten – sowie ihre politischen und militärischen Befehlshaber – eine tiefgehende psychotherapeutische Behandlung durchlaufen, um einerseits die während des Kriegs entstandenen Traumata und andererseits die psychischen Voraussetzungen zu bearbeiten, die zum Kriegseinsatz führten.
Doch wo sind der politische Wille für eine derart umfassende Heilungsabsicht sowie die Ressourcen und die psychotherapeutische Infrastruktur, die dies leisten könnten? Dieser Anspruch dürfte wohl eine Überforderung von Gesellschaftssystemen darstellen.
Kriege und deren traumatische Erfahrungen lassen sich kollektiv und auch subjektiv in der noch lebenden Generation, die getötet und zerstört hat, nicht vollkommen heilen. Dies überschreitet die menschlichen Verarbeitungsfähigkeiten. Oft zerstört sich der im Krieg Tötende dann auch später mit seiner Tat selbst.
Perspektiven kollektiver Friedfertigkeit – ein Hoffnungsschimmer?
Der eingangs zitierte Anspruch bzw. Wunsch der im Artikel 1 formulierten normativen Festlegungen der UN-Menschenrechte, dass alle Menschen "mit Vernunft und Gewissen begabt" seien und sich solidarisch begegnen sollen, ist längst bisher nicht eingelöst und scheint aufgrund der zahlreichen und sich zunehmend ausweitenden Kriege mit immer gefährlicheren Waffentechnologien gefährdeter den jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit zu sein.
Pathogene Strukturen in unterschiedlich gearteten Gesellschaftssystemen und gewalttätige, machtbesessene politische Führer dürfen jedoch nicht die Oberhand gewinnen, wenn sich die menschenrechtlichen Normen des UN-Grundrechtskatalogs sowie der damit in Verbindung stehenden UN-Charta durchsetzen sollen.
In Verlängerung des Artikels 1 der Menschenrechte steht in der UN-Charta dementsprechend im Artikel 1, dass es zukünftig der Anspruch sein müsse, "freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen".
Menschen, die sich im sozialen und politischen Engagement weiterentwickelt haben, können über ihre Organisierung und Vernetzung zum einen in ihren psychischen Dispositionen resilienter gegenüber Vereinsamung und Isolation sowie deren Folgen für psychische Erkrankungen werden. Auch ein Leben in alternativen Lebensgemeinschaften mit kommunitären Ansätzen bietet einen anderen lebensweltlichen Rahmen, auch im Versuch mit sozialen Konflikten anders umzugehen.
Politische Erfolgserlebnisse im gemeinsamen solidarischen Engagement, z. B. in Bürgerinitiativen oder in gewerkschaftlichen Gruppen, können zur positiven Beantwortung der Sinnfrage beitragen. Die existenziellen Fragen für ein zufriedenstellendes und Frieden bringendes Leben lassen sich vielleicht von hier aus gesünder beantworten:
"Wer bin ich? Wer will ich sein – in meinem Selbstkonzept in Beachtung meiner Bedürfnisse und der legitimen Erwartungen der anderen?‚Welchen Lebenssinn konstruiere ich mir im Zusammenleben mit den anderen, um eine Ich-Identität zu entwickeln, die stabil und an universalen Werten, wie Gerechtigkeit und Frieden, orientiert ist?"
Gemeinsame Zusammenarbeit zur konstruktiven Veränderung und neuordnender Weiterentwicklung von gesellschaftlichen Strukturen und Systemen, auch in der Abwehr destruktiver und die Psyche erreichender Tendenzen verweisen auf eine zukünftige gesellschaftliche Entwicklungsphase, in der nicht neurotische und narzisstische Persönlichkeiten im Rahmen von entsprechenden Systemstrukturen diesen Planeten regieren, sondern die darin lebenden und partizipierenden Menschen, die sich hiervon Schritt für Schritt befreien.
Derartige gesellschaftliche Zusammenschlüsse und Solidargemeinschaften könnten aus dem Zusammenschluss und dem gemeinsamen Wirken von Umwelt- und Friedensbewegung sowie gewerkschaftlichen Initiativen und nonkonformistischen Parteien entstehen.
Sie könnten das zivilgesellschaftliche Widerstandspotenzial bilden, das dazu führt, dass Regierungen ihren bellizistischen Kurs verlassen, größere Verantwortlichkeit gegenüber der Natur entwickeln und Arbeitnehmerrechte ernster nehmen als bisher.
Wenn die Menschheit als Zivilisation auf diesem Planeten eine Zukunft haben möchte, muss sie das Töten und die Zerstörung an vielen Orten beenden, muss sie sich endlich mit vereinten Kräften gegen die bereits eintretende Klimakatastrophe stemmen.
Noch immer liegen in der Weiterentwicklung der Vereinten Nationen, die demokratisiert und gestärkt werden müssten, die Hoffnungen vieler Völker der Welt, diesen Planeten zu einem gemeinsamen Ort zu gestalten, in dem Menschen in freien, gerechten, ökologisch orientierten und stabilen Gesellschaften miteinander in Frieden leben könnten.
Der im Jahr 2024 stattgefundene UN-Zukunftsgipfel und der "UN-Pakt für die Zukunft" könnten ein Ansatzpunkt für die Reform der Vereinten Nationen sein – auch wenn nicht an der entscheidenden Regelung im UN-Sicherheitsrat gerüttelt wurde – dem Veto-Recht der fünf ständigen Mitglieder und Nuklearmächten, die gleichzeitig verantwortlich für die meisten Kriege in der Nachkriegszeit waren.
Der Weg zu einer globalen Neuordnung ist sicherlich noch weit, ist immer wieder und gerade jetzt gefährdet, dennoch haben wir keine Alternative, als an den Hoffnungen festzuhalten, welche verantwortliche Menschen vor 80 Jahren veranlassten, die Vereinten Nationen zu gründen.
Der Artikel ist in einigen Passagen angelehnt an das Kapitel 1.7 des von Klaus Moegling veröffentlichten Buches "Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich". Die 5. aktualisierte und erweiterte Auflage ist inzwischen auch im open access lesbar.
Klaus Moegling, Jg. 1952, ist habilitierter Politikwissenschaftler i.R., er lehrte an verschiedenen Universitäten und Institutionen der Lehrerbildung, zuletzt an der Universität Kassel als apl. Professor im Fb Gesellschaftswissenschaften, er engagierte sich in der Friedens- und Umweltbewegung sowie in Bildungsinitiativen. Er unterstützt u.a. als Erstunterzeichner den Appell auf Change.org gegen die 2026 vorgesehene Hyperschallraketenstationierung und gegen die nukleare Aufrüstung sowie den Berliner Appell: "Gegen neue Mittelstreckenwaffen und für eine friedliche Welt".