Die Psychopathen sind unter uns
So mancher cholerisch die Mannschaft anbrüllende Chef und so manche ständig intrigierende Schreibtischtäterin könnte den Ruf, ein "Macher" zu sein, einer kranken Psyche verdanken
Bisher war das Bild des Psychopathen geprägt vom Serienkiller, dem gewalttätigen Irren. Aber unter uns leben angeblich viele unerkannte Kranke, die unter dieser psychischen Störung leiden. In so manchem Karrieristen könnte sich eine psychopathische Persönlichkeit verbergen, behauptet jedenfalls das Wissenschaftsmagazin New Scientist in seiner aktuellen Ausgabe und stellt Psychologen vor, die sogar in Kinderseelen nach anti-sozialen Merkmalen suchen.
Vorab muss als erstes gesagt werden, dass die Bezeichnung Psychopath in der Psychologie überhaupt nicht mehr verwendet wird. Der Begriff stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde 1941 von dem Psychiater Hervey Cleckley genauer beschrieben. Nach dieser Definition handelt es sich um eine intelligente Person, deren Emotionen verarmt sind und die kein Schamgefühl besitzt. Psychopathen sind demnach oberflächlich charmant, aber verlogen, manipulativ und rücksichtslos. Es fehlt ihnen an menschlichen Bindungen, andere bedeuten ihnen im Grunde nichts, sie kreisen nur um sich selbst.
Seit den 50er-Jahren wurde der Begriff Psychopath nach und nach durch soziopathische Persönlichkeit ersetzt. Heute ist in den Kriterienkatalogen von anti-sozialer oder dissozialer Persönlichkeitsstörung die Rede:
Eine Persönlichkeitsstörung, die durch eine Missachtung sozialer Verpflichtungen und herzloses Unbeteiligtsein an Gefühlen für andere gekennzeichnet ist. Zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen besteht eine erhebliche Diskrepanz. Das Verhalten erscheint durch nachteilige Erlebnisse, einschließlich Bestrafung, nicht änderungsfähig. Es besteht eine geringe Frustrationstoleranz und eine niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten, eine Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das Verhalten anzubieten, durch das der betreffende Patient in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist.
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
Psychologen sind sich der Stigmatisierung, die in dem Wort "Psychopath" steckt, normalerweise sehr bewusst. Im allgemeinen Sprachgebrauch hat es sich gehalten und es erweckt in den Köpfen (Film-)Assoziationen von kaltblütig mordenden Verrückten wie dem duschende Frauen erdolchenden Norman Bates in Psycho oder dem Kannibalen Hannibal Lecter in Schweigen der Lämmer. Umso erstaunlicher ist es, dass jetzt Psychologen antreten, um das angeblich unerkannte Potenzial solcher gestörten Persönlichkeiten in der Gesellschaft aufzuspüren, zumal diese Art von Störung nicht heilbar ist.
Schlangen in Anzügen
Im New Scientist schildert der Wirtschaftspsychologe Paul Babiak den Fall eines rücklichtslosen Karrieristen namens Mike, der in seiner Firma zunächst als kreativer, ehrgeiziger Mitarbeiter galt, wie geschaffen für eine Führungsposition. Anti-soziale Züge und kräftige Ellbogen sind in Konzernen ja durchaus gefragt. Erst mit der Zeit stellte sich heraus, dass er komplett teamunfähig war und selbst mit seiner eigenen Sekretärin nicht auskam. Babiak bezeichnet ihn als "Corporate Psychopath", der aber nie gewalttätig wurde und auch künftig wahrscheinlich nie gegen die Strafgesetze verstoßen wird.
Babiak hat zusammen mit Robert Hare von der University of British Columbia in Vancouver einen Fragebogen entworfen, der künftig Firmen davor bewahren soll, Schäden durch solche Angestellten zu erleiden. Noch ist der so genannte B(usiness)-SCAN 360 in der Erprobungsphase, aber er hat sicher gute Marktchancen. Arbeitssuchende in den USA müssten dann künftig neben einer Urinprobe auch noch einen Test zu ihrem sozialen Verhalten absolvieren, um eine Anstellung zu bekommen. Derartige "freiwillige" Screenings sind auch für deutsche Unternehmen durchaus attraktiv (Big Brother Awards Arbeitswelt 2002).
Den beiden Psychologen geht es mit klarer Ansage nicht darum, gestörten Persönlichkeiten, sondern den Firmen zu helfen. Hare – der vorher bereits eine formale Vorlage inklusive strukturiertem Interview namens "Psychopathy Checklist" (PCL-R) erfunden hat – geht davon aus, dass ein Prozent der Nordamerikaner solche unerkannten, aber oft sehr erfolgreichen "Schlangen in Anzügen" sind, wie er sie nennt, und dass die Wirtschaft durch sie Verluste erleidet, vor allem wenn sie in Spitzenpositionen aufsteigen. Deshalb müssen sie aufgespürt und entfernt werden.
Das Prinzip der Rücksichtslosigkeit als Erfolgskonzept in der westlichen Gesellschaft wird von diesen Psychologen nicht hinterfragt, sondern bestätigt. Das Problem sind ausschließlich die anti-sozialen Psychopathen, die den Betrieb stören könnten.
Kleine Schlangen in Schuluniformen
Aber Hare geht noch weiter. Mit seinen Checklisten will er nicht nur kriminelle und potenziell die Ökonomie schädigende Elemente aufspüren, sondern auch den kleinen Schlangen in Schuluniformen auf die Spur kommen. Zusammen mit Paul Frick von der University of New Orleans hat er seinen Psychopathen-Test für Kinder und Jugendliche modifiziert (PCL-Youth Version). Frick wehrt sich zwar dagegen, dass es nur darum geht, Kinder mit unheilbaren Persönlichkeitsstörungen auszusieben und er nennt das Instrumentarium folglich lieber Antisocial Process Screening Device (APSD), aber seine Forschungsergebnisse helfen anderen dabei, jugendliche Mikes mit dieser Diagnose zu brandmarken.
Andere Wissenschaftler, die sich mit der menschlichen und besonders der kindlichen Seele auseinander setzen, können sich angesichts der Ansätze ihrer Kollegen nur an den Kopf fassen. Kinder und Jugendliche sind noch in der Entwicklung, ihre Identität ist noch nicht völlig ausgeformt, weswegen bei ihnen auch noch keine antisoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden kann. Sie sind in hohem Maße abhängig von ihrer Umgebung, gegen die sie sich im Prozess des Erwachsenwerdens abzugrenzen lernen müssen, was oft mit Auflehnung verbunden ist.
Experten wie James Furnell vom englischen Abbey Kings Park Hospital in Stirling, der seit 35 Jahren mit Kindern arbeitet, warnen vor einer Stigmatisierung, vor einer Diagnose, die einen Heranwachsenden für den Rest seines Lebens in eine Ecke der Gesellschaft drängt. "Ich kann mich nur an ganz, ganz, ganz wenige Kinder erinnern, denen ich begegnet bin," meint er und spricht von ein oder zwei Fällen, "von denen ich sagen könnte, ja, der ist ein Psychopath, beziehungsweise der wird später ein Psychopath." Seiner Meinung nach ist diese Bezeichnung bei Kindern völlig unangebracht. Sicher ist, dass Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung viel Unterstützung brauchen und im Zweifelsfall auch Hilfe, wenn etwas schief geht. Weltweit gibt es in diesem Bereich viele wichtige Forderungen, auch an die Forschung – das Aufspüren von psychopathischen Schülern gehört nicht dazu.
In Deutschland gibt es ein großes Defizit im Bereich der spezialisierten Psychotherapeuten. In der August-Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes PP findet der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Helmut Remschmidt klare Worte:
Es gibt Kinder, die eine Psychotherapie benötigen und lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. (...) Diesen Engpass kann man nicht dadurch beseitigen, indem man eine Psychotherapie durch Medikamente ersetzt. Hier muss etwas geschehen. Vor allem müssen die Psychotherapeuten gut ausgebildet sein und wirksame Methoden verwenden.
Weltkongress für Kinder- und Jugendpsychiatrie: "Präventiv muss weltweit der Schulbesuch gefördert werden"