Die Raketen Nordkoreas und die Politik der Nachbarn
Japan fühlt sich von den Raketentests bedroht, in den USA spricht man von einer Provokation, China, Russland und Südkorea sind vor allem wegen der neuerlichen Spannungen besorgt, aber die von Japan und anderen Staaten geforderten Sanktionen werden aller Voraussicht nicht verhängt werden
Während die USA im Irak immer tiefer in einen Krieg verstrickt wird, den sie nicht mehr gewinnen können, hat Nordkorea die Gunst der Stunde für eine kleine Provokation genutzt. Letzte Woche feuerte es sechs Rodong-Raketen ab, eigene Weiterentwicklungen der sowjetischen Scud-Raketen, die man einst von Ägypten erworben hatte. Die Rakete - 600 könnten sich in nordkoreanischen Arsenalen befinden - soll eine Reichweite von maximal 2000 Kilometer haben. Am letzten Mittwoch gingen sie jedoch nach einigen 100 Kilometern im Meer zwischen Japan und Russland nieder. Wenige Tage zuvor hatte die Regierung in Beijing (Peking), Nordkoreas einziger Verbündeter, noch versucht, den Nachbar von der Aktion abzuhalten. Doch vergeblich. Neben den sechs Mittelstreckenraketen wurde auch eine Taepodong-2-Rakete abgefeuert, die eine Reichweite von bis zu 6.700 Kilometer haben soll, womit sie vermutlich auch Alaska und Hawaii erreichen könnte. Allerdings explodierte die Testrakete am Mittwoch bereits kurz nach ihrem Start.
Untermalt hat die Regierung in Pjöngjang die Raketentests mit allerlei nationalistischen Kraftsprüchen, aber eigentliches Ziel ist es, die USA an den Verhandlungstisch zu zwingen. Seit Jahren verlangt Pjöngjang bilaterale Gespräche mit Washington, die von diesem genauso hartnäckig verweigert werden. Das nordkoreanische Ziel sind ein Friedensvertrag und eine Nichtangriffserklärung. Auch 53 Jahre nach dem Ende des Korea-Kriegs gibt es noch immer nicht mehr als einen Waffenstillstand. Insgeheim erhofft man sich im Rahmen entsprechender Verhandlungen wohl auch materielle Zugeständnisse als Gegenleistung zum Beispiel für einen Verzicht Nordkoreas auf Atomwaffen. Davon abgesehen kann man die Raketentests auch als eine Art Verkaufsdemonstration werten. 1,5 Milliarden US-Dollar nimmt das Land jährlich durch den Export dieser Waffen ein. In letzter Zeit war der Iran ein guter Kunde, in früheren Jahren standen aber auch verschiedene US-Verbündete in der muslimischen Welt auf der Abnehmerliste.
Japan hatte am Freitag, zwei Tage nach den Raketentests, Sanktionen gegen den Delinquenten verlangt und eine entsprechenden Resolutionsentwurf dem UN-Sicherheitsrat vorgelegt. Die USA, Frankreich und Großbritannien haben Unterstützung signalisiert, doch von den anderen beiden Veto-Mächten, Russland und China, kommt Einspruch. Zum Glück muss man sagen, denn betroffen wäre natürlich vor allem die Bevölkerung des Landes, die dringend auf Nahrungsmittellieferungen angewiesen ist. Mitte der 1990er Jahre war es in dem ostasiatischen Land zu einer schweren Hungersnot gekommen, nach dem die Wirtschaftsbeziehungen zu den ehemaligen Ostblockstaaten zusammengebrochen und Naturkatastrophen hinzugekommen waren. Unabhängige Beobachter, die in den 1990er Jahren Nahrungsmitteltransporte nach Nordkorea organisierten, berichten gegenüber Telepolis, dass seinerzeit zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung gestorben sein könnten, was etwa zwei bis vier Millionen Hungertoten entspräche. Auch heute noch ist ein Teil der Bevölkerung von Nahrungsmittelspenden aus dem Ausland abhängig. Unter etwaige Sanktionen könnten zum Beispiel auch eine halbe Million Tonnen Reis fallen, die Südkorea in den Norden schicken will. Fürs erste hat die Regierung in Seoul die Hilfslieferungen gestoppt. Betroffen sind davon auch 100.000 Tonnen Düngemittel. Russland und China, beides Nachbarn Nordkoreas, haben statt der Sanktionen eine Verurteilung des nordkoreanischen Vorgehens vorgeschlagen. In China hatte man sich besonders besorgt gezeigt und alle Beteiligten aufgefordert, die Spannungen nicht noch weiter zu erhöhen.
China will eine Eskalation vermeiden
Oberflächlich scheint der Grund für Chinas Opposition gegen Sanktionen klar: Formell sind die Volksrepublik und Nordkorea enge Verbündeter. Schließlich hat man einst im Koreakrieg 1950 bis 53 gemeinsam gegen die US geführten UN-Truppen gekämpft. Zwei Millionen Menschen starben seinerzeit in diesem mit viel Erbitterung gekämpften Krieg, darunter hunderttausende chinesischer Freiwilliger. Doch diese Zeiten sind längst passé, und in Beijing lässt man sich weitaus weniger von tatsächlichen oder vermeintlichen ideologischen Gemeinsamkeiten leiten, als jene im Westen meinen, die - Freund wie Feind - gerne darauf verweisen, dass die Volksrepublik von einer Kommunistischen Partei regiert wird. Pragmatismus ist angesagt, und der hat längst zu einer weit fortgeschrittenen Annäherung mit dem einstigen Erzfeind im Süden der koreanischen Halbinsel geführt.
Für Südkorea ist China heute der wichtigste Wirtschaftspartner, was sich nicht nur darin ausdrückt, dass Seouls Exportwirtschaft erheblich vom chinesischen Dauerboom profitiert. Südkoreanische Unternehmen haben inzwischen etliche Milliarden US-Dollar in der Volksrepublik investiert, und zwar keineswegs hauptsächlich in arbeitsintensive Produktionsstätten mit veralteter Technologie (derlei lässt man sich in China schon set langem nicht mehr andrehen), sondern vor allem in Hightech-Betriebe und selbst in Entwicklungslabore. Chinas Konzerne gehen ihrerseits beim Nachbarn, wie übrigens auch in Europa und Nordamerika, auf Jagd nach gestrauchelten Unternehmen. Ziel der Deals ist meist die Übernahme von Know-how und Patenten, aber auch Vertriebsnetze und eingeführte Markennamen sind von Interesse. Bereits im Jahre 2004 kaufte zum Beispiel Chinas aufstrebender Automobilhersteller Shanghai Automotive Industry Corporation für 531 Millionen US-Dollar einen 48,9-Prozent-Anteil am südkoreanischen Autobauer Sangyong Motors. Auch kulturell ist Südkorea (wieder) ganz im Bann des großen Nachbarn: Chinesisch hat Englisch vom Platz Nummer eins der Fremdsprachen verdrängt. Im Jahre 2003 studierten rund 35.300 südkoreanischer Studenten in der Volksrepublik und inzwischen dürfte diese Zahl bereits über 50.000 liegen.
In Beijing hat man also denkbar wenig Interesse daran, sich einseitig auf die Seite Pjöngjangs zu schlagen. Die Politik der chinesischen Führung ist vielmehr davon bestimmt, eine Eskalation zu vermeiden. Entsprechend hatte man Pjöngjang im Vorfeld des Raketenstarts ausdrücklich versucht, davon abzuhalten. Die Tests sind somit unter anderem auch eine Brüskierung des Bündnispartners. Beijing fürchtet nicht nur einen militärischen Konflikt vor der eigenen Haustür, in den es womöglich hineingezogen werden könnte, der aber auf jeden Fall seine Wirtschaft schwer beschädigen würde.
Nordkoreas Aufrüstung ist auch für die USA der willkommene Vorwand, ihre Pläne für ein Raketenabwehrschild voranzutreiben, das nicht nur für Interkontinentalraketen, und damit für das eigene Territorium, sondern auch für Mittelstreckenraketen entwickelt wird. Letzteres wird auch Chinas Nachbarn von den USA angedient, und in Beijing hat man allen Grund zu der Annahme, dass sich diese Politik vor allem gegen die Volksrepublik richtet. Raketenabwehrsysteme - wenn sie denn irgendwann einmal funktionieren sollten - sehen zwar auf den ersten Blick defensiv aus, aber sie ermöglichen es den so geschützten Staaten, aggressiver zu agieren, weil sie vor Vergeltung geschützt sind. Aus diesem Grund hatten sich die USA und die Sowjetunion einst zu Zeiten des kalten Krieges auf einen Stopp der Entwicklung in diesem Bereich geeinigt, um das Wettrüsten nicht noch mehr anzuheizen. Die USA haben diese Verträge allerdings zwischenzeitlich aufgekündigt.
Die chinesische Führung hat also allen Grund, sauer auf die Militaristen in Pjöngjang zu sein. Dennoch hat man ein starkes Interesse an einer Stabilisierung des dortigen Regimes. Ein Zusammenbruch der staatlichen Macht beim Nachbarn wäre sicherlich auch in China nicht ohne Folgen. Und zwar nicht so sehr, weil er Oppositionelle in der Volksrepublik inspirieren könnte, sondern vielmehr wegen der sozialen Konsequenzen. Millionen hungernder Menschen könnten versuchen, nach China zu gelangen.
Wirtschaftliche Verflechtungen
Die Volksrepublik hat daher 2002 ihre bis dahin fast sprichwörtliche außenpolitische Zurückhaltung aufgegeben, die für die Beijinger Führung charakteristisch war, seit Deng Xiaoping 1978 nach Maos Tod und der Entmachtung der Parteilinken die Reformpolitik eingeleitet hatte. Nun ergriff man die Initiative und lud zu Sechs-Parteiengesprächen ein, um die Krise zu lösen, die durch das Atomprogramm Nordkoreas ausgelöst worden war und durch den Austausch immer neuer Drohungen zwischen Washington und Pjöngjang weiter angeheizt wurde. Russland, Japan, die beiden Koreas und die USA folgten der chinesischen Einladung. In mehreren Runden hat man seitdem mit wechselndem Erfolg zusammen gesessen. Beim letzten Treffen im Spätsommer 2005 einigte man sich immerhin darauf, dass die koreanische Halbinsel atomwaffenfrei gemacht werden soll. Pjöngjang hat sich in einer Erklärung am Donnerstag, wie die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua berichtet, ausdrücklich zu diesem Ziel bekannt, kann allerdings auf die erdrückende Militärmacht der USA verweisen, die in Südkorea und auf den nahen japanischen Stützpunkten (vor allem auf Okinawa) stationiert ist.
Gleichzeitig zur diplomatischen Offensive wirbt China in Nordkorea für ökonomische Reformen. Der neue "geliebte Führer" Kim Jong Il, der vor einigen Jahren seinen Vater Kim Il Sung beerbte, besuchte in den vergangenen Jahren mehrfach die Boom-Zentren der Volksrepublik, um sich über den Erfolg der marktwirtschaftlichen Reformen zu informieren. Als Ergebnis beginnt man auch in Nordkorea, mit der Marktwirtschaft zu experimentieren. An der Grenze zu China im Norden soll eine ökonomische Sonderzone eingerichtet werden, in der nordkoreanische Arbeiter für den Weltmarkt produzieren werden. Frühere Pläne aus dem Jahr 2002 waren gescheitert, nach dem der für die Wirtschaftszone vorgesehene chinesische Leiter in der Volksrepublik wegen Korruption verhaftet worden war. In Süden, an der Grenze zu Südkorea, ist man daher mit ähnlichen Plänen schon weiter. In der Grenzstadt Kaesong arbeiten derzeit 6.500 nordkoreanische Arbeiter für 15 Firmen aus dem Süden. Bis nächstes Jahr sollen es 300 Unternehmen aus dem Süden werden, die die billigen Löhne im Norden ausnutzen. Aber auch das ist erst die erste Ausbauphase. Bis 2012 plant man die Ansiedlung von 2000 Unternehmen des ehemaligen Erzfeindes, für die dann 350.000 nordkoreansiche Arbeiter beschäftigt werden. Natürlich ohne das Recht, sich in unabhängigen Gewerkschaften zu organisieren. Ihre Kollegen im Süden hatten sich dieses Recht einst unter einer Militärdiktatur erstritten, die sie schließlich auch zu Fall brachten.
Für Südkoreas Konzerne sind die Aussichten auf Produktionsstätten im Norden daher außerordentlich verlockend. Entsprechend tut sich inzwischen ein tiefer Riss in der Elite des Landes auf. Während die konservative Rechte unbedingt am Bündnis mit den USA festhalten will und ganz auf eine harte Linie gegenüber dem Norden setzt, will die gegenwärtige Regierung an der schrittweisen Annäherung festhalten, die im Jahre 2000 eingeleitet wurde. Auch wenn Präsident Roh Moo-hyun ansonsten eher unpopulär ist, hat er in dieser Frage doch die Mehrheit der Südkoreaner hinter sich.
In der dortigen Öffentlichkeit ist man nicht allzu sehr über die Drohgebärden des Nordens besorgt. Mehr Empörung lösten da schon die Drohungen des japanischen Premierministers Junichiro Koizumi aus, der einen Tag vor den Raketentests Südkorea gewarnt hatte, in der Nachbarschaft der Dokto- bzw. Takeshima- Inseln Untersuchungen durchzuführen. Die Inselgruppe ist zwischen den beiden Ländern umstritten und der Streit bestens geeignet, die ohnehin schon belasteten koreanisch-japanischen Beziehungen weiter zu verschlechtern. Korea ist fast 50 Jahre lang japanische Kolonie gewesen und hat die japanischen Kolonial- und Kriegsverbrechen noch lange nicht vergessen. In jüngster Zeit hat Koizumi zusätzlich durch jährliche Besuche im Yasukuni-Schrein, in dem auch hochrangiger Kriegsverbrecher gedacht wird, Salz in die Wunden gerieben. Seoul wird daher kaum die japanische Forderung nach Sanktionen unterstützen. Wahrscheinlicher ist, dass Südkoreas Bündnis mit den USA brüchiger wird, während Washington und Tokio enger zusammenrücken. Gut möglich, dass das der Hauptzweck der nordkoreanischen Übung war.