Die Rechte der Arbeitssuchenden

Seite 2: Selber schuld?

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Die Behauptung, dass mindestens diese Betroffenen selbst für ihre Situation verantwortlich sind, scheint sich hier ebenso anzubieten wie im Bereich der umstrittenen, aber mittlerweile abrufbaren Bildungsgutscheine. Vielerorts machen Anspruchsberechtigte keinen Gebrauch von dem kostenlosen Service. So wurden beispielsweise im Kreis Pinneberg für 5.470 Kinder nur etwas mehr als 700 Anträge gestellt. Auch in anderen deutschen Kommunen ist die Nachfrage lebhafter als zu Beginn der Maßnahme, aber immer noch schleppend. Selbst die Verlängerung der Antragsfrist bis Sommer 2011 dürfte am Ende nur zu einer sehr überschaubaren Bilanz führen.

Für den selbsternannten "Kennedy von der Spree" ist das keine große Überraschung. "Die Bildungsgutscheine sind ausschließlich für das Wohl der Kinder. Sie lassen sich eben nicht verrauchen und versaufen", stellte der Berliner CDU-Abgeordnete Frank Steffel im April fest.

Doch mit billiger Polemik und einfachen Schuldzuweisungen ist es nicht getan. Wer über die Versäumnisse von Hartz-IV-Empfängern diskutiert, sollte auch über die rigide Ausgrenzung einer Wohlstandsgesellschaft und über zweifelhafte politische Konzepte sprechen, die von der Justiz immer wieder korrigiert werden müssen. Vor kurzem war beispielsweise das Bundessozialgericht zu der Feststellung gezwungen, dass Ein-Euro-Jobbern, die keine zusätzlichen Arbeiten verrichten, sondern eine reguläre Stelle besetzen, der branchenübliche Tariflohn zusteht.

Exkurs: In der Arbeitslosigkeitsfalle

Nicht weil rationalisiert wird, sondern weil die Arbeitslosen der Notwendigkeit, sich nach neuer Arbeit umzusehen, enthoben werden, gibt es Arbeitslosigkeit als Dauererscheinung.

Ludwig von Mises

Mit einem 80 Jahre alten Zitat des Ökonomen Ludwig von Mises versuchten die Soziologen Sonja Fehr und Georg Vobruba Anfang Mai die Langlebigkeit einer wissenschaftlichen Theorie zu dokumentieren und gleichzeitig die Wahrheit des Gegenteils zu beweisen. Fehr und Vobruba wiesen insbesondere die Annahme zurück, Arbeitslose ließen sich durch Lohnersatzleistungen bewegen, die Suche nach einem neuen Beschäftigungsverhältnis frühzeitig aufzugeben. Ein Vergleich der arbeitslosen Bezieher unbefristeter Sozialtransfers über jeweils drei Jahre (vor und nach Einführung der Hartz-Gesetze) ergibt nach Einschätzung der Soziologen nur geringfügige Unterschiede (Wildsau und Hartz IV).

Seit der Hartz-Reform haben sich die Arbeitslosigkeitsepisoden der Sozialtransferbezieher nicht verkürzt. Im Gegenteil verweilen ALG-II-Bezieher bei Berücksichtigung soziodemografischer Effekte und der Arbeitsmarktsituation eher länger in Arbeitslosigkeit als Sozial- und Arbeitslosenhilfebezieher vor der Einführung des SGB II. Letzteres gilt allerdings nur dann, wenn auch Übergänge aus Arbeitslosigkeit in Nichterwerbstätigkeit in die Analyse einbezogen werden. An der Schnittstelle zwischen Arbeitslosigkeit im Sozialtransferbezug und Arbeitsmarkt hat sich indes nichts geändert.

Sonja Fehr / Georg Vobruba: Die Arbeitslosigkeitsfalle vor und nach der Hartz-IV-Reform

Das Bündnis für ein Sanktionsmoratorium, das in den vergangen zwei Jahren gut 21.000 Unterstützer gefunden hat, sieht in diesem Zusammenhang Themenfelder tangiert, die weit über die finanzielle und sozialrechtliche Ebene hinausgehen. Sie verweisen nach Ansicht der Initiatoren auf "Fragen des Menschenbildes, der individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung von Arbeit, von staatlicher Verantwortung und von Zielen gesellschaftlicher Entwicklung".

Auch Fehr und Vobruba sehen die Notwendigkeit, im Kontext der Hartz IV-Debatte über soziale und politische Probleme zu diskutieren, etwa über: "eine Zunahme von sozialer Ungleichheit und Armut, höhere Beschäftigungsunsicherheit sowie Armut trotz Arbeit (working poor), die als soziale Reformkosten zu Buche schlagen und Gerechtigkeitsnormen verletzen."

Jobcenter: Mitarbeitern fehlt Identifikation

Vor dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales plädierte immerhin der Einzelsachverständige Norbert Maul für einen ernsthaften Perspektivwechsel. Sanktionen sollten durch einen "Rechtsanspruch auf Fördermaßnahmen" ersetzt werden, meinte Maul. Leistungsempfänger fühlten sich durch die Sanktionen "in ihrer Existenz bedroht" und neigten nicht selten zu Überreaktionen: "Die meisten Jobcenter kommen nicht mehr ohne einen Sicherheitsdienst aus."

Eine am Dienstag veröffentlichte Studie der gesetzlichen Unfallversicherung stützt diese These. Demnach sind nicht nur die Hartz-IV-Empfänger, sondern auch die Beschäftigten in den Jobcentern "vielfältigen Belastungen ausgesetzt".

Der Entscheidungsspielraum der Beschäftigten ist aufgrund der gesetzlichen Vorgaben gering, die Erwartungen der Kunden hingegen sind hoch. Die Sorgen und die Verzweiflung mancher Kunden führen auch zu Aggressionen gegenüber Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den JobCentern. Die Formen dieser Aggression reichen von Verweigerungshaltungen, über Beleidigungen bis hin zu seltenen Fällen von körperlichen Angriffen.

Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Pressemitteilung vom 7. Juni 2011

Vielen Mitarbeitern fehlt offenbar die Identifikation mit ihrer Arbeit, deren Bedeutung von ihnen selbst als "sehr gering" eingeschätzt wird.