Die Retter Europas
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Flaschenpost an die Gegenwart: Christopher Nolans "Dunkirk" ist ein Drama des Überlebens und des Widerstands im Angesicht eines überlegenden Feindes
We shall fight in France, we shall fight on the seas and oceans, we shall fight with growing confidence and growing strength in the air, we shall defend our island, whatever the cost may be, we shall fight on the beaches, we shall fight on the landing grounds, we shall fight in the fields and in the streets, we shall fight in the hills; we shall never surrender.
Winston Churchill, 4.Juni 1940
Dies ist einer der besten Filme des Jahres. Aber schon jetzt ist er der meist überschätzte. Auf der für solche Dinge immer sehr hilfreichen Website Metacritic erfährt man, dass der Film 94% von 100 Prozent Zustimmung bei den englischsprachigen Kritikern bekommt: Von 52 Kritiken sind 51 positiv.
Das ist natürlich einfach himmelweit übertrieben. Ein derart einhelliges Urteil schreit nach Protest und nach Relativierung. Während so ein Durchschnittsquatsch wie "Spiderman" hochgejazzt wird zur Offenbarung für Pubertierende, und das nicht nur von ein paar altgewordenen Buberl-Kritikern, und "Valerian" aus industriepolitischer Rücksicht nur verhalten besprochen wird, ist dann in den USA und in old europe "Dunkirk" unisono ein "Masterpiece" - aber vor allem in den Augen von Kritikern, die darüber in einem "Deutsch" schreiben, als wäre man bei "Auto, Motor Sport" ("ein Kriegsfilm der Sonderklasse"), und bei denen keinerlei erkennbare Reflexion darüber stattfindet, warum gerade jetzt so ein Film gemacht wird. Der Film ist sehr gut, that's it, aber erst diese zweite Frage beantwortet das einhellige Lob.
Die Retter Europas (18 Bilder)
Die totale Unsicherheit
Es ist mitten in der Nacht, ein Sanitätsschiff fährt durch die See, aber das kümmert den Torpedo nicht, der fast lautlos unter der Wasseroberfläche auf das Boot zu rauscht. Gerade noch hat es "tea and sympathy" gegeben, warmen Tee und ein paar menschliche Worte für die Verwundeten, Erschöpften. Die Klügeren von ihnen sind trotzdem in der Nähe des Ausgangs geblieben, in Sichtweite der Türen, die aus dem Schiffsrumpf nach draußen führen. Voller Vorahnung: "in case of". Man weiß ja nie ...
Den meisten von ihnen nutzt auch das nichts - als der Torpedo mit lautem Krachen einschlägt, dauert es nur ein paar Sekunden, dann bricht die Hölle los. Schnell sind die meisten schon unter Wasser, kämpfen verzweifelt darum, doch noch heraus zu kommen - nur den wenigsten gelingt es. Und jetzt erinnert man sich wieder, dass es im Krieg ja ums Töten geht ...
Diese Szene, etwa aus der Mitte des Films, ist besonders eindrucksvoll, weil sie das Massenhafte des Sterbens im Krieg deutlich sichtbar macht, die totale Unsicherheit der Situation, und weil sie zeigt, dass das Überleben oft nur von Zufällen abhängt, aber auch davon, etwas wachsamer zu sein, als andere.
Drama des Überlebens
"Dunkirk" ist ein Drama des Überlebens. Es geht natürlich um "Dünkirchen", jene lange Woche Ende Mai, Anfang Juni 1940, als Adolf Hitlers Wehrmacht, nach dem Sieg im zum Blitzkrieg gewordenen "Westfeldzug" das britische Expeditionskorps in Frankreich eingeschlossen hatte.
Während die Uhr für die Belagerten tickte, immer neue Sturzkampfflieger die wehrlosen Bodentruppen auf dem Strand mit Bombenteppichen überzogen und weitgehend unbewaffnete Boote versenkten, versuchten die Briten zu retten, was zu retten war - mit unzureichender Luftunterstützung und vor allem hunderten von kleinen zivilen Booten, die die überforderte britische Kriegsmarine unterstützten, versuchte man möglichst viele Soldaten zu evakuieren - am Ende gelang es, den Großteil der Soldaten zu bergen; 330.000 von 400.000 Mann, eine einzigartige, merkwürdige Schlacht, die den Verlauf des Krieges vielleicht nicht entschied, aber veränderte.
Aus der Verzweiflung im Angesicht eines gnadenlosen Feindes, der auf Weltherrschaft und Vernichtung aller Gegner aus war, wurde das "Wunder von Dünkirchen".
Wie und warum das möglich war, ist aber nicht das Thema von Christopher Nolans neuem Film. Oder vielleicht doch, aber auf ganz andere Weise als erwartet. Der Regisseur von so unterschiedlichen Werken, wie dem Gedächtnissthriller "Memento", der "Batman"-Trilogie und dem atemberaubenden Science-Fiction "Interstellar", zeigt keine Generäle, die über Karten gebeugt Divisionen hin und herschieben, er zeigt keine Truppenbesuche Winston Churchills und spekuliert auch nicht über Ursachen von Hitlers berüchtigtem "Haltebefehl", über den bis heute die Militärhistoriker rätseln, weil er den Briten die existentiell notwendige Atempause verschaffte.
Keine Psychologie, keine Motivationen: Nolands Form von Humanismus
"Dunkirk" zeigt natürlich den Krieg, er zeigt Kampf und Sterben so realistisch, wie das eben geht in der Spielfilm-Nachempfindung. Aber dies ist kein Kriegsfilm. In seiner Form und Machart, in dem Effekt, den er auf den Zuschauer hat, und in den Gefühlen, die man empfindet, wenn man ihn sieht, erinnert "Dunkirk" viel mehr an einen Suspense-Thriller. Dies ist ein Film, der seinen Zuschauern eine Ahnung davon geben will, wie man sich das vorzustellen hat: Zweiter Weltkrieg, Dünkirchen, Stuka-Angriffe, Chaos oder Ordnung ...
Ein gutes Dutzend exemplarische Figuren, alles Männer, nur Briten und ein Franzose, werden herausgepickt - ihre Schicksale repräsentieren das Ganze. Da ist der Spitfire-Pilot Collins (großartig: Jack Lowden), der in der Nordsee notlanden muss, und sein Kollege Farrier (Tom Hardy), dem der Treibstoff auszugehen droht, und der irgendwann wählen muss zwischen der Rettung der Maschine und der eigenen Haut oder der Verteidigung eines angegriffenen vollbeladenen Schiffes.
Da sind der Fischer Dawson (Marc Rylance) und seine Söhne, die einen unterwegs aufgefischten traumatisierten Soldaten (Cillian Murphy) an Bord haben. Da ist vor allem Tommy (Fionn Whitehead), der nicht ohne Grund so heißt, wie man zusammenfassend alle der prototypische britische Soldat im Zweiten Weltkrieg nannte. Zu ihnen gehören viele mehr - "Dunkirk" ist ein Ensemblefilm, der hin und her zwischen den Schauplätzen wechselt, Querverbindungen zieht.
Nicht zu vergessen darf man Commander Bolton (Kennegh Brannagh) der Kommandeur auf dem Strand, der hier nur zwischen schlechten Optionen, zwischen Pest und Cholera wählen kann.
Der Film und das ist seine große Stärke, bleibt immer ganz Gegenwart. Nolan zeigt uns seine Figuren und in gewisser Weise erfahren wir einiges über sie. Aber genaugenommen, sind sie Stand-Ins, Stellvertreter, Figuren - keine Individuen. Wir erfahren quasi nichts über ihre Vorgeschichten, es gibt keine Psychologie, keine Motivationen. Nolan erklärt nichts, er zeigt und akzeptiert. Das ist seine Form von Humanismus.
Gleich die erste Szene gibt den Ton vor, zeigt, dass alles möglich ist: Ein Platoon von sechs britischen Soldaten geht durch eine menschenleere französische Stadt. Das Insert hat uns über die Kriegssituation orientiert. Nervosität steht in der Luft. Die sechs jungen Männer sind wachsam, zugleich in Not. Sie freuen sich über Wasser aus einem Gartenschlauch, einen Zigarettenstummel in einem offenen Fenster.
Flugblätter des deutschen Feindes werden gesammelt, denn man braucht Klopapier. Plötzlich aus dem Nichts Schüsse, eine Maschinengewehrsalve, der erste geht zu Boden, der zweite. Der Feind? Nein - friendly fire. Franzosen, die genauso nervös sind, schießen auf ihre Verbündeten, weil sie sie offenbar nicht erkennen. Permanent sind hier alle unter Stress, immer kann alles passieren - man kann sich gut vorstellen, dass man es sich genau so vorstellen muss.
Eine zweite Erfahrung, die dieser Film uns mitteilt: Der Ton des Krieges. Die Verbindung von Stille und Lärm. Richtig still ist es fast nie. Dann aber sehr laut. Der Normalzustand ist aber, dass es keine Stille gibt. Eine weitere Erfahrung: Es gibt auch keine Intimität. Keine Ruhe, keinen Rückzug. Das Problem der Briten von Dünkirchen ist nicht, dass sie viel zu wenig Platz gehabt hätten, dass es etwa zu wenige Boote gegeben hätte, sondern, dass sie viel zu wenig Zeit hatten.
Einer der bewegensten Momente des Films ist auch der deprimierendste. Es ist der, als drei der Hauptfiguren am Stand im Sand sitzen und sich ausruhen. Plötzlich sehen sie einen anderen Soldaten. Stück für Stück wirft er seine Sachen ab, und geht ins Wasser, immer weiter. Er hat kein Ziel, er kann einfach nicht mehr, und der Film begleitet ihn auf diesem letzten Weg distanziert, lakonisch.