Die Retter Europas
Seite 2: Historischer Materialismus
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Zwei Meister aller Klassen der Filmgeschichte, Alfred Hitchcock und Stanley Kubrick, der Engländer und der Wahlengländer, sind erkennbar die Vorbilder für diesen Film.
Nolans eigene Handschrift wird, vom perfekten Handwerk mal abgesehen, vor allem auf zwei Weisen sichtbar: Zum einen in der Wahl des Filmmaterials: Nolan hat auf klassischem, also analogem Filmmaterial gedreht, in monumentaler 70mm-Auflösung, die nur einem Topmann wie diesem immer interessanteren, immer erfolgreicheren Hollywood-Regiestar überhaupt zugestanden wird und die man im IMAX-Kinoformat genießen sollte, und selbstverständlich gibt es den Film nur in 2-D - Nolan wird nicht müde zu betonen, dass er 3-D für modischen Schnickschnack hält.
Die zweite unverwechselbare Nolan-Touch ist die verschachtelte Erzählstruktur: 3 grundsätzlich verschiedene, verschobene Zeitebenen - "I. the mole - one week"; "II. the sea - one day"; "III. the air - one hour" - und in ihnen mehrere Handlungsstränge werden auch noch a-chronologisch verquirlt, manchmal wird die Zeit gedehnt, sodass wir das Gleiche aus immer neuen Perspektiven sehen, und dann wird alles doch noch zusammengeführt zu einem Punkt - man kann das manieriert finden, es angesichts der Spannung für unnötig halten, aber es macht den Film zu einer noch dichteren, ungemein intensiven Erfahrung.
Denn Nolan zersplittert seine Erzählung. Es geht nicht um "Plot", schon gar nicht um eine Handlung, sondern um den Augenblick und die Bilder. In sie sollen wir eintauchen, darum das riesige IMAX-Format und darum die Textur des analogen Korns, wir sollen den Film fühlen und uns drin fühlen, wir sollen uns überwältigen lassen.
Diese Erzählstruktur ist trotzdem gar nicht weiter komplex, sondern, wenn man das Muster erstmal verstanden hat, ganz einfach. Nolan ist auch ein Poser. Er ist immer eine Spur zu kontrolliert, zu kalt. Ein Rationalist, der nicht rational genug ist, dem Zufall und den Gefühlen, ihr Recht zu geben. Einer, der auch sich selber nicht ganz über den Weg zu trauen scheint. Aber das führt auch zu guten Ergebnissen: Bei keinem zweiten Regisseur ist beispielsweise Hans Zimmer so gut wie bei Nolan. Das war bereits in "Interstellar" so.
"Wir werden niemals aufgeben"
Die FAS schrieb in ihrer an sich sehr lesenswerten Rezension am Wochenende allen Ernstes folgende Sätze: "Das Besondere an Dünkirchen war eigentlich nur, dass die Briten so große Angst hatten, sagt ein Freund, der Geschichtslehrer ist. Dass wirklich 400.000 britische Soldaten von den Deutschen getötet würden, sei völlig unrealistisch - die Eingeschlossenen hätten die Gefahr überschätzt. Das mit der Kommunikation war damals ja noch schwierig, deshalb haben sie den Flugblättern geglaubt, die zur Einschüchterung da waren."
Vom naiven Ton und der Besserwisserei mal abgesehen, ging es in "Dünkirchen" ja nicht darum, wieviel Todes-Angst die Briten hatten, sondern darum, dass sie weg wollten, dass sie nicht in Gefangenschaft kommen wollten. Und dass ihnen genau das gelang, als kaum einer mehr daran glaubte, und alles noch unter dem Schock der französischen Kapitulation stand, das war der erste Sieg gegen einen damals noch überlegenen Feind.
Das eigentlich Erstaunliche dieses durchaus pathetischen, ab und zu sentimentalen, unbedingt heroischen Films ist darum auch, dass der Heroismus und das Pathos des Films gerechtfertigt scheint. "All we did is survive" - "Thats enough."
Dies ist ein Film über das politische Imaginäre. In seiner Quintessenz erinnert "Dunkirk" daran, dass die Briten einmal die Retter Europas waren - eine eindeutige politische Botschaft in Zeiten des Brexit. Eine Botschaft, die der Engländer Nolan genauso an seine eigenen Landsleute richtet wie an die Kontinentaleuropäer.
Wie in einer Flaschenpost birgt dieser Film auch noch eine Erinnerung: Wenn wir hier die vielen kleinen Rettungsboote zeigt, wenn er zeigt, wie Boote sinken, Menschen zu ertrinken drohen und sich verzweifelt an Rettungswesten klammern, dann muss man im Jahr 2017 schon sehr ignorant und abgestumpft sein, um nicht an die Tausenden von Menschen zu denken, die derzeit gerade - jetzt, heute, gestern und morgen - im Mittelmeer ertrinken und an jene Schiffe, die heute Europas Ehre retten.
So ertappt man sich bei dem Wunsch, dass es heute einen wie Winston Churchill geben müsste, der seinerzeit die richtigen Worte fand, um aus der Niederlage einen moralischen Sieg zu formen, um eine ganze Nation umzudrehen, und aus hasenfüßigen Appeasement-Briten entschlossene Kämpfer zu formen, die sich nie ergeben würden. "We shall never surrender."
Dies ist der Film, den wir brauchen - wenn auch nicht der, den wir verdient haben.
Literaturhinweise:
Winston Churchill: "The Second World War", 6 Bände, London 1948
Karl-Heinz Frieser: "Die Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940"; Militärgeschichtliches Forschungsamt, München 1996