Die Revolution wäre twitterisiert gewesen
Seite 2: Die Crux algorithmischer Filterungen
- Die Revolution wäre twitterisiert gewesen
- Die Crux algorithmischer Filterungen
- Trägheit der Nutzer-Gewohnheiten
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Es ist an erster Stelle der Spam-Filter, der eine massenbasierte direkte Teilhabe an Kommunikationen wiederum ausschließt. Er bevorteilt bestimmte Spieler, die immer noch allermeistens über etablierte Kanäle an ein Massenpublikum ausgespielt werden, um anschließend im Internet die meisten "Follower" zu haben. Ausnahmen werden sicherlich kontinuierlich zahlreicher und spielen sich wiederum fast ausschließlich in Teil-Öffentlichkeiten auf Facebook, Twitter, YouTube oder Instagram ab. Sperrungen führen einige Publizisten dann noch auf Alternativ-Plattformen wie das russische VK.com, das Video-Netzwerk Bitchute oder den Instant-Messaging-Dienst Telegram.
Während bei Letzteren in letzter Konsequenz bisher meist nur noch ein Teil eines Nischenprogramms Fortsetzung findet, werden auf den aktuell deutlich größeren Plattformen Algorithmen aktiv, um zu starke Häufungen identischer Inhalte zu filtern. Dabei kommen jedoch auch noch quantitative Aspekte zur Anwendung. Auf Twitter einen beliebigen Tweet mit Suchwort oder Hashtag unmittelbar nach seiner Publikation zu finden, wird von Suchfunktionen der Plattform selbst mindestens auf die zweite Ebene der Nutzung verlegt. Sie ist zunächst noch einfach zu erreichen - aber ein Schritt hin zu aktiver Mediennutzung, den viele Konsumenten aus jahrzehntelangen Gewohnheiten heraus nur schleppend einmal zu gehen beginnen.
Studien zu Nutzergewohnheiten zeigen als Gewissheit, dass jeder zusätzlich notwendige aktive Schritt des Nutzers den Produzenten Sichtbarkeit kostet: auf Twitter über die Eingabe in eine Suche hinaus dann noch zu dem Reiter "Neueste", um nicht nur die als "Top" empfohlenen zu sehen. Als diese "Neuesten" dann schon deutlich mehr Doppelte - aber längst nicht alles, was irgendwo auf Twitter erscheint. Hierfür sind Tools wie Hootsuite geeigneter (das gratis eine beliebige Zahl von Channel-Streams und Suchlisten ermöglicht). Es erfordert ein weiteres Login, das viele normale Nutzer im Umgang mit einem Internet-fähigen Rechner vermeiden, und den Umgang mit einer relativ nüchternen, höchstens klein bebilderten Oberfläche.
Vergleichbares gilt weitgehend für die schlichte Anfrage bei Suchmaschinen, die das Netz weitreichend durchforsten, aber ebf. algorithmisch auswählen und hierarchisieren. Eine Platzierung von Ergebnisseite 2 abwärts bedeutet bekanntermaßen statistisch fast schon Unsichtbarkeit.
In der Anwendung wie den Inhalten aber müssen Angebote "niedrigschwelliger" sein, um bisher irgendeine kritische Masse zu erreichen. Über den derzeit mächtigsten Aggregator, die nach individuellen Kriterien zusammengestellte, nach unten hin endlose Startseite von Facebook, wird bekanntlich viel gestritten hinsichtlich der algorithmisch priorisierten Inhalte und der Vermischung mit Werblichem.
Selbstverstärkung durch die Gewohnheit der Vielen
Man mag vieles erwägen oder mutmaßen zu verdeckten Kontroll-Mechanismen etwelcher Plattformen. Was sie als einziges Selbstbild bestätigen, wirft eigene soziologische Fragen danach auf, wie in sog. sozialen Medien ein Zusammenspiel von möglichst Vielen zu etwas führt, das mehr Selbstverantwortlichkeit und demokratisch fundierte Partizipation bedeutete.
Hier ist nicht der Ort, über die weitläufigen sozialen Sub-Strukturen zu räsonnieren, die dennoch keinesfalls aus der Betrachtung ausgeschlossen bleiben können: Was sollten praktisch Medieninhalte bewirken, die freiwillig bisher nur eingeschränkt von Publika angenommen werden, wenn sie z. B. einzelne Vorgänge in der EU-Zentrale Brüssel betreffen? Bis auf wenige Skandalfälle vollzieht sich eine dortige Politik noch mehr unter Ausschluss einer eigentlich umso größeren internationalen Öffentlichkeit. Experto- und Lobbykratie sind die kritischen Leitbegriffe dafür.
Wo öffentliche Äußerungen getätigt werden, müssen sie einerseits von Vielen aufgegriffen und z. B. retweetet und geteilt werden. Wird der Einzelne aber nicht gefunden, wenn er sich zu etwas äußert, was (fast) niemand sucht, trägt er andererseits teilweise durch sein Teilen zu einer Inflation der eigenen Äußerung bei, die abermals zu seinem eigenen individuellen Verschwinden führt: Der Algorithmus der Plattformen blendet wg. redundanter Information aus oder sortiert zumindest ganz weit nach unten im Findbaren. Tatsächlich verschwindet ein Spam-Kriterien erfüllender Tweet schon heute weitgehend auch unter den pauschal als "Neueste" bezeichneten Suchergebnissen. Es sind nur ausgewählte Neueste.
Die Teilhabe des Einzelnen dürfte dabei einstweilen v. a. sein, auf hoch gerankte Inhalte unterstützend zu wirken. Insofern ist es ein Abstimm-Mechanismus, der mit dem Lockmittel allseitig zugänglicher Selbst-Präsentation gefördert wird - oder auch nur werden soll, wenn dennoch ein nicht geringer Anteil der fast vollzähligen Internet-Nutzer "soziale Medien", also betreffende Plattformen, gar nicht nutzt. Dies soll laut neuerer Umfragen noch ein Viertel der deutschen Internet-Besucher sein.
Weitere Fragen führen schnell zu Image-relevanten Aspekten der Netzwerk-Nutzung. Hier wäre man zudem auf dem relativ unwägbaren Terrain einer objektivierenden Bewertung dessen, was eine selbstbestimmte Mediennutzung denn sein sollte. Die bestehende aktive Nutzung orientiert sich am direkten menschlichen Kontakt, baut innerhalb der begrenzten Lebenszeit nur für professionelle Projekte größere aktive Netzwerke auf. Und diese sind dann immer noch längst nicht praktisch ebenbürtig mit jenen Medien-Redaktionen, die in extremer Arbeitsteilung permanent digitale Paletten befüllen, die auf einer wachsenden Zahl von Wegen ihre Adressaten erreichen. Sie bestimmen neben der rein privaten Statusmeldung wesentlich das Geschehen in sozialen Netzwerken als geteilter Inhalt. Es ist darin eine Zeitung (kuratiert aus mehreren, aber oft den gleichen Quellen) in einem anderen Layout mit Teil- und Kommentar-Funktionen.
Hier aus einem Korridor von allgemein zugänglichen Nutzungsdaten und der persönlichen Erfahrung heraus allgemein auszusprechen: Das populäre Internet ist nur in Schnittmengen und Randbereichen etwas genuin Anderes als das vorherige Medien-Konzert. Erhöhte Bereitschaft zur eigenen Äußerung und Vernetzung erfordert wohl in den meisten Fällen eine Art von Leidensdruck (eigener, öffentlich sonst wenig präsenter Erfahrungen und des Ausschlusses von anderen sozialen Beziehungen oder Arbeitsanforderungen).
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