Die Revolution wäre twitterisiert gewesen

Seite 3: Trägheit der Nutzer-Gewohnheiten

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Die Umorientierung auf neue Informationsquellen im Internet bedeutet für Einzelne die Nutzung bestimmter Tools wie RSS-Feeds einer Vielzahl einzelner Websites, die Wahrnehmung von Newslettern und die Verwendung etwa der Abonnement-Funktion auf YouTube. Vor Letzterer scheuen sich manche aus Datenschutz-Gründen - und entziehen sich ggf. vollkommen einem selbst organisierten Programm-Bukett, das doch möglich wäre.

Die Informationsfülle ist derart groß geworden - da man zumindest englischsprachige Angebote hinzunehmen kann und muss -, dass ein professioneller Internet-Leser und -Gucker wahlweise stundenlang Ergebnislisten durchscrollen kann, die sich täglich erneuern, statt auch nur ein einziges Video von 5-10 Min. oder einen kürzeren Artikel zu lesen.

Davor bewahrt nur die selbstgewählte Beschränkung: Man weiß, dass es noch anderes gibt, aber schaut kaum einmal hin. Der quantitative Vorsprung der Anlaufstellen von Tageszeitungen und Wochen-Magazinen der großen Medienhäuser ist nach wie vor immens. Die Zersplitterung insgesamt wachsender neuer Diskurs-Gebiete ist derzeit wohl allenfalls in internen Auswertungen der Plattformen deutlich sichtbar. Sie haben noch nicht so viele Teilnehmer wie die etablierten Bereiche. Sie haben eigene Leser- und Anhängerschaften - Abonnenten, Empfänger von Link-Empfehlungen durch das persönliche Umfeld, in der Masse am meisten über Facebook-, Whatsapp- oder Snapchat-Botschaften vernetzter Individuen.

Alleine Facebook und YouTube ist es bisher gelungen, hierbei ausreichend Masse zu machen - Inhalte Produzierender und Teilender, dabei einen Teil gebührenfinanzierte mit austragend.

Stigmatisierung und Löschung im Politischen

Es bleibt abzuwarten, welche weiteren Konsequenzen der größte Streit über neu entstehende Medien-Öffentlichkeiten haben wird: jener über "Populismus", Hate Speech und sog. Verschwörungstheorien, die ihren Anhängern Anlass für Distanzierungen von bisher relativ allgemeinverbindlichen Standards sind.

Sie sind schließlich eine offizielle Richtschnur dafür, Inhalte etwa auf Facebook und Twitter nach bestimmten Merkmalen zu filtern und - teils unter Mitwirkung von anderen Nutzern und Administratoren in Gruppen - zu löschen. Neben nach intransparenten Kriterien ausgewählten bezahlten Lösch-Komitees arbeiten freilich Etablierte an der Verteidigung ihrer Pfründe, indem sie ihre Konkurrenz im Netz so weit wie möglich in Misskredit bringen.

Bleiben im eigenen Verhalten vielerlei moralische und medienethische Fragwürdigkeiten (bis hin zu den Gebühren für den eigenen Lebensunterhalt), setzt man Normalbürger maximal unter Druck, möglichst wenig im Netz zu teilen, was nicht aus den großen Medienhäusern kommt. Ob Kriegshetze oder Kumpanei mit Industrien oder religiösen Vereinigungen, die ein Pädophilie-Problem haben - erlaubt ist in diesem Mainstream nur, was Medienkonzerne und öffentlich-rechtliche Anstalten für anständig und politisch opportun halten. Den Rest erledigen (nicht nur selbst-)ernannte Gesinnungswächter und Nachplapperer, über die kaum schon ausreichend nachgedacht wäre.

Es ist schwierig, zu allem hier Gesagten allgemeine Befunde zu Veränderungen des Politischen abzuleiten. Eine erste größere Welle in Europa, die scheinbar von außerhalb der Mainstream-Medien stammt, sind die französischen Gelbwesten. Anderswo ist Netz-Aktivismus nicht in diesem Maße in eine Praxis des dreidimensionalen sozialen Raums überführt worden (oder flaute als Piraten-Partei nach wenigen Jahren vorerst ab).

Die Politisierung durch soziale Netzwerke und Internet-basierte Öffentlichkeiten befindet sich also in einem Zustand der erhöhten Diversifizierung und Prekarität. Alternative Archivinhalte können bei sensationsbasierter Aufmerksamkeit einiger Zehntausend Zuschauer schnell wieder abgeschaltet werden, Strafen werden in unterschiedlicher Nachvollziehbarkeit verhängt.

Man kann demgegenüber allenfalls popkulturelle Ansammlungen und Interaktionen der Fans von Internet-Prominenz und, wohl an erster Stelle, die äußerst rege betriebenen Computerspiele mit ihren Multiplayer-Varianten (virtuell und im selben Realraum) nennen. Ihre Nutzerzahlen sind weit jenseits dessen, was politische Parteien und Verbände sich derzeit von ihren menschlichen Gemeinschaften an Mitwirkung erhoffen können.

Interaktivität und Entpolitisierung

Einstweilen bleibt dadurch ein erneutes Vermerken von Entpolitisierung im klassischen Sinn. Essenzen der neuen Medien-Landschaften ist Sozialität in bestimmten Formaten von Kontakt und Austausch sowie das "Teilen" (digital ohne Abnutzung einer physischen Kopie). Dafür existieren neben Inhalten, die formal v. a. als Computerspiel über die Art bisheriger Medienformate hinausgehen, neuartige Tools für Gruppen-Vernetzung und individuelle Nachrichten-Übermittlung.

Ein Trend weg von primär politischen und wirklichkeitsbezogenen Darstellungen kann wohl nicht bestritten werden. Dies sieht man an den Quoten und Sendeplätzen bestimmter TV-Formate wie politischer Magazine. Geschichts-Darstellungen sind zwar keine bloße Nische, leiden aber offensichtlich unter einem Generationen-Bruch. Man kann es schlicht aus den mehrstündigen durchschnittlichen Nutzungsdauern - am meisten: der jungen Männer - von Computerspielen ersehen, dass in diesen Freizeiten jedenfalls nicht jene Medieninhalte Platz haben, die es in früheren Jahrzehnten taten. Ein TV-Sender wie das ZDF, das häufig mit Geschichts-Formaten aufwartet, hat deutlich überdurchschnittlich ältere Zuschauer. Ansonsten findet man solche Inhalte bei Sparten-Sendern vom Nachrichten- und Kulturkanal zum Pay-TV. Auf YouTube räumen bei tendenziell Jüngeren gänzlich andere Formate der Computerspiel-, Musik- und Blödel-Fraktion ab.

Eine hauptsächlich neo-hippieske Gemeinschaftsseligkeit ist am Internet ablesbar und setzt sich fort in einer Protestkultur wie "Fridays for Future". Als Multikulti-Ideal prägt sie mittlerweile größere Bereiche der visuellen Werbung oder ein auf YouTube 108 Mio. Mal geklicktes Musik-Video von Marshmello, betitelt schlicht: "Together". Der Macher entzog sich zunächst der Öffentlichkeit durch jenen weißen Plastik-Behälter, den er über seinem Kopf trägt und den nur ein schematischer Smiley als kleinster gemeinsamer Nenner visueller Kommunikation ziert.

Im Sinne einer Kritischen Theorie sind heute die Domänen eines solchen (Rest-)Politischen eher der privatistische Rückzug und die regressiven Gefilde des Spiels. In Letzteren ist ein serielles Abschlachten technoider Spielfiguren wie in "Fortnite" der bei Jüngeren offensichtlich größtmögliche Konsens als gemeinschaftliches Vergnügen. 2018 war dieses bei angeblich über 200 Mio. Spielern weltweit das beliebteste seiner Art.

Der Abschluss dieses Gedankengangs führt also zur nächsten Groß-Debatte, geradezu traditionell in der Computer-Domäne: jene über das Spiel als kulturelle Kompensation oder doch Simulation bevorstehender Ernstfälle?

Im Internet ist dies der Zwischenstand: Kollektives Pixel-Gemetzel ist unter den Kommenden die heute ultimative Form der Vergemeinschaftung gegenüber eher marginalen Diskursen, die ins praktisch Politische oder Weltanschauliche führten. Jene 200 Mio. Fortnite-Spieler, die zeitgleich Multikultur-Utopien "feiern" (so eines ihrer Lieblingsworte), widmen sich ansonsten virtuell liebend gern dem sog. "Battle-Royale-Genre", in dem schließlich nur einer überleben kann.

Über andere denkbare Auswirkungen digitaler Wühlarbeiten im Diskurs-Gestöber, langsam, aber stetig tropfender Tropfen ist damit ein letztes Wort nicht zu sprechen. Nicht einmal ist zu entscheiden, ob dies gut oder schlecht ist.

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