Die Rolle der IT-Industrien in der gegenwärtigen Offensive kapitalistischer Reorganisation
In welcher Weise kann Digitalisierung zu neuen Ausbeutungsformen führen und wie können sich die Arbeitnehmer dagegen wehren? Die kapitalistische Innovationsoffensive zielt auf die Zerstörung alter Arbeitsformen ab
"Pack" und "Abschaum" nannte ein IT-Unternehmer aus Silicon Valley die Obdachlosen seines Wohnorts San Francisco in einem offenen Brief an den Bürgermeister. "Ich sollte den Anblick der Qual, des Daseinskampfs und der Verzweiflung der Wohnungslosen nicht jeden Tag auf dem Weg von und zur Arbeit ertragen müssen" (The Guardian vom 17.2.2016).
Wohlgemerkt: Er meinte die Obdachlosigkeit, die er selbst mit seinen Kollegen seit vielen Jahren durch den Vertreibungseffekt überteuerter Mieten und Hauspreise hervorgerufen hatte. Auch die Gegenwehr der Betroffenen lief seit Jahren, breit gefächert und zum Teil in drastischen Formen. So wurden unter anderem die Luxuskarossen der reichen Vertreiber vandalisiert. In einem Flugblatt des "Projekts zur Beseitigung der Yuppies" hieß es beispielsweise:
Diese Yuppie-Machtergreifung kann rückgängig gemacht werden … Zerstöre Yuppie-Autos: BMWs, Porsches, Jaguars. Mach das Glas kaputt, zerkratze den Lack, schlitz’ die Reifen und Polster auf, mach’ sie alle zu Müll. Wenn der Yuppie-Abschaum merkt, dass ihre kostbaren Autos nicht mehr sicher auf der Straße sind, verschwindet er, und seine trendigen Restaurants, Bars und Geschäfte gehen pleite.
Woher kommt die mitleidlose Abwertung der Vertreibungsopfer zu "Pack"? Ging es denn nicht um die Entwicklung nützlicher Technologien zum Segen für die ganze Gesellschaft? Eine derartige Einschätzung wird dem grundlegenden Charakter des Einsatzes der Informationstechnologien nicht gerecht. Denn diese bilden den Kern einer historischen Innovationsoffensive, den Kern eines technologischen Angriffs. Er zielt auf die "schöpferische Zerstörung" der überkommenen Arbeits- und Lebensbedingungen.
"Schöpferische Zerstörung" ist ein Begriff, mit dem der neben Keynes bedeutendste Ökonom des 20. Jahrhunderts, Joseph Schumpeter, derartige Innovationsoffensiven charakterisiert hat. Das hieß Zerstörung der überkommenen Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Auf dem ersten Höhepunkt der IT-Offensive in den Neunzigerjahren hat der Vorsitzende der US-amerikanischen Zentralbank Alan Greenspan dies aufgegriffen und die "schöpferische Zerstörung" zum Programm seiner Geldpolitik gemacht, indem er die Offensive durch ihre Versorgung mit einer gigantischen Welle von Geldmitteln vorantreiben half. Sie würde, so die Absicht, Silicon Valley zum globalen Machtzentrum machen, eine neue Machtelite von Gewinnern schaffen und die Beschäftigten der tradierten Arbeitsverhältnisse in "Loser" verwandeln. Loser, wie sie das oben zitierte Mitglied der neuen Machtelite zu "Abschaum" abwertete. Deren Aggressivität ist also alles andere als eine nur persönliche Einstellung oder eine bloße Begleiterscheinung. Sie gehört zum Kern des innovatorischen Projekts.
Wie ist sie zu erklären? Der Verweis auf Geld- und Machtgier der neuen Eliten allein reicht nicht aus. Es lohnt sich, einen Blick in die Zeit vor 120 Jahren zurückzuwerfen. Greenspan und andere Ökonomen sehen die von ihm mitbetriebene, aktuelle Innovationsoffensive als Erneuerung der damaligen Bewegung, auf neuem historischem Niveau. Ende des 19. Jahrhunderts war die US-amerikanische Volkswirtschaft, bis zu diesem Zeitpunkt die am weitesten entwickelte, in die Krise geraten. Zeitzeugen sahen die USA am Rande einer Revolution. Das Kapital fand sich konfrontiert mit einer Arbeiterschaft, die ihre Gegenmacht auf ihre Autonomien im unmittelbaren Arbeitsprozess gründete.
Die Unternehmer konnten zwar über den Lohndruck Einfluss auf das Verhalten der Arbeiter ausüben. Auf die Steuerung des Arbeitsverhaltens hatten sie jedoch keinen Zugriff. Die Arbeiter konnten langsam oder schnell arbeiten, Schwierigkeiten oder Ermüdung vortäuschen, ohne dass die Kontrolleure der Unternehmer auf dem shop floor direkte Einflussmöglichkeiten hatten. Damit stagnierten die Profite.
Dem aus der Autonomie im Arbeitsprozess fließenden Selbstbewusstsein der Arbeiter entsprach das Selbstwertgefühl der proletarischen Familien in den Quartieren, das sich auch in Widerstand und Streikgeschehen niederschlug. Hier wirkte sich auch die Macht der "moralischen Ökonomie" aus, die die hunderttausenden Arbeitsmigranten aus den osteuropäischen Dörfern in die großstädtischen Fabriken trugen.
Der Begriff der "moralischen Ökonomie" bezeichnet die Vorstellungen von Gleichheit, Eigentumslosigkeit und gegenseitiger Unterstützung, mit denen die Bauern der Subsistenzökonomie im permanenten Konflikt mit den gutsherrlichen Ausbeutern weltweit über viele Jahrhunderte hinweg bis heute dörfliches Leben und Arbeiten autonom geregelt haben. Aus allem resultierte eine tiefe Krise des sozialen und produktiven Kommandos und der Ausbeutung.
Dies ist ein Auszug aus Detlef Hartmanns Beitrag in dem neuen Buch "Digitalisierung" - Sirenengesänge oder Schlachtruf der kannibalistischen Weltordnung", welches u.a. von Klaus-Jürgen Bruder herausgegeben wurde. Digitalisierung ist Staatsaufgabe höchster Priorität. Das Feld ist bereits gut vorbereitet. Dennoch regen sich Kritik und zum Teil auch Widerstand gegen einen weiteren, intensivierten Ausbau der Digitaltechnologie: Die Möglichkeit einer digitalen Totalüberwachung wird ebenso vorstellbar, wie der Verlust von immens vielen Arbeitsplätzen, von Privatheit, persönlicher Freiheit und demokratischer Teilhabe, psychischer und physischer Unversehrtheit. Der Band stellt sich dem Thema der Digitalisierung in unterschiedlichen Facetten und Bereichen, geht auf den Aspekt der Überwachung und die Perspektiven des Widerstands dagegen ein.
Der amerikanische Kapitalismus antwortete auf die Krise und das Herannahen einer sozialen Revolution mit einer umfassenden Innovationsoffensive. Ihr Kern lag im tayloristischen Rationalisierungsangriff: Im zentralen Feld der Produktion wurde der Arbeitsprozess in wohldefinierte Einzelteile zerlegt. Diese wurden seriell zu Verhaltensketten reorganisiert, wie sie auch dem Fließband zugrunde gelegt wurden. Dadurch zog das Management die Herrschaft und Kontrolle über das Arbeitsverhalten an sich.
Die späteren Organisationswissenschaften sahen in dieser seriellen Struktur bereits das Kommando des Algorithmus. Die Arbeiter begegneten diesem technologischen Angriff mit massivem Widerstand, der ein ganzes Zeitalter anhielt. Taylor selbst bezeichnete sein "scientific management" ausdrücklich als "Krieg" gegen die Arbeiter, der auf eine ganze Ära angelegt sei und auf eine totale mentale Revolution von oben ziele.
Schnell begann die Rationalisierungsoffensive nach allen Bereichen der Gesellschaft zu greifen, wie Städte- und Wohnungsbau, Verkehr, Erziehung - sie zielte auf eine Totalrationalisierung aller Lebensbereiche ab. In Max Webers Worten wurde das Leben in "stählerne Gehäuse" eingepfercht, oder besser, in der amerikanischen Übersetzung, in "eiserne Käfige".
In den späten Fünfziger- und Sechzigerjahren begannen die Menschen, aus diesen Käfigen auszubrechen und die Zwänge des tayloristischen Disziplinarnetzes in allen gesellschaftlichen Bereichen auf der Suche nach Freiheit und Selbstverwirklichung zu bekämpfen. Die Stränge ihrer komplexen Bewegung materialisierten sich in den Familien gegen die von den Eltern aufgezwungene Disziplin (in Westdeutschland die spätnazistische), in ähnlicher Weise bei den Lehrlingen in der Fabrik gegen das verhasste Fließband, im öffentlichen Raum gegen das Zwangsregime der Siedlungen, Einkaufszentren, Fußgängerzonen, im Feminismus gegen das tayloristisch/fordistisch reformulierte Patriarchat und so weiter. Sie nahmen bald sozialrevolutionären Charakter an und brachten das Kommando des kapitalistischen Regimes erneut in die Krise.
Die Flucht aus dieser Krise suchte der Kapitalismus wie schon vor hundert Jahren in einer Innovationsoffensive, um das kapitalistische Kommando auf neuem historischem Niveau zu reorganisieren und zugleich weitere Quellen von Wertschöpfung und Profitabilität zu erschließen. Im Wege der "schöpferischen Zerstörung" wurden die alten Arbeitsformen in den Metropolen zertrümmert und die Jobs systematisch in die Peripherien verlagert. Damit wurden zugleich die damit verbundenen Existenzgarantien und Lebensformen, deren Basis sie gebildet hatten, erodiert.
Zwang zur (Selbst)Optimierung
Die Innovatoren begegneten der Sehnsucht nach Selbstverwirklichung mit dem Zwang zu Selbstunterwerfung und -optimierung. In Abkehr von der strikten tayloristischen Befehlsstruktur wurden hierzu kleine Freiheitsspielräume eingeräumt. Ähnlich wie schon vor hundert Jahren mit neuen Schlüsselindustrien, so wurden auch heute diese Zugriffe auf Verhalten mit der Entwicklung der Informationstechnologien verbunden. Auch jetzt wieder ist die Offensive auf eine ganze Ära angelegt. Wir befinden uns gerade an ihrem Anfang. Doch ihre Entwicklungslinien sind bereits heute gut erkennbar. Ich möchte einige von ihnen hier nachzeichnen.
Auf dem Gebiet des Gesundheitswesens gibt es markante Vorstöße im Zwang zur Selbstoptimierung. Einige Versicherungen haben begonnen, den Preis ihrer Leistungen an Bemühungen zur Selbstoptimierung zu knüpfen, die zum Teil unter Anwendung von Fitnesstrackern durchgeführt werden sollen. Der Datenzugriff über die Gesundheitskarte soll genutzt werden, um mithilfe von Mitteln der audiovisuellen Übertragung direkte Arztkontakte überflüssig zu machen. Inzwischen werden die Datenbestände von Millionen Menschen in Systeme der Gesundheitsüberwachung und Forschung eingespeist.
Es sind nicht nur Zwecke der Werbung, denen die Verfolgung der Bewegungen der Smartphone-Nutzer dient. Vielmehr zeichnen sich inzwischen Strategien einer totalen Überwachung ab, so wie es jüngst in Israel am Objekt der Corona-Infizierten bekannt geworden ist.
Nicht nur der Überwachung dient die Einrichtung von Kreditsystemen, wie etwa das vom chinesischen Amazon-Konkurrenten "Alibaba" für tendenziell alle Bewohner entwickelte "Sesame"-Kreditsystem. Das Unternehmen bewertet unter Einsatz von Algorithmen seine Kunden durch Vergabe von Punkten ("scoring") auf fünf Ebenen: Online-Verhalten, Kaufkraft, Zahlungsmoral, Informationen über Wohnsitz, Bildung, Arbeit und schließlich das soziale Umfeld. Smartphones sind die Hauptdatenquelle. Die Bewertungen haben Folgen für Vergabe von Krediten, Wohnungen, Arbeitsplätzen, Reisemöglichkeiten. Die Bewertung des sozialen Umfelds hat Ausgrenzungen zur Folge, und insgesamt zielt das System auf Erzwingung des von der Regierung gewünschten Verhaltens und der Selbstoptimierung.
In den westlichen Ländern sind Systeme von Rating und Scoring auf privatkapitalistischer Ebene und zur Bewertung der Kreditwürdigkeit von Ländern seit Langem in Gebrauch, sodass ein Lernen von China möglich und technologisch vorbereitet ist.
Eine Speerspitze bei der Entwicklung neuer Ausbeutungsformen unter Verwendung der Digitalisierung bildet Amazon. Der Konzern reproduziert die Strategien tayloristischer Unterwerfung und verschärft sie. Auch hier wird das Arbeitsverhalten der "Picker", die die Ware aus den Regalen holen, und der "Packer" zerlegt und seriell organisiert. Am Körper tragen sie GPS-Geräte, die sämtliche Schritte und Bewegungen erfassen. Sie überprüfen, ob die einzelnen Arbeitsschritte, Bewegungen und Wege wie vorgeschrieben exakt eingehalten wurden. Sie werden genau protokolliert, Abweichungen werden, selbst wenn sie eine Zeitersparnis mit sich bringen, sanktioniert, um die Austauschbarkeit der Beschäftigten zu sichern.
Die Normen werden unerreichbar hoch angesetzt, um die Arbeiter zur Optimierung zu zwingen. Die gesamte Laufleistung von bis zu zwanzig Kilometern wird sekundengenau gemessen und protokolliert. Wer sie nicht bringt, muss mit Entlassung rechnen. Die Ruhezeiten werden so knappgehalten, dass der Weg zur Kantine samt Rückweg in den gigantischen Lagerhäusern fast die komplette Zeit auffrisst. Für das Essen bleibt kaum Zeit, für den Besuch der Toilette auch nicht.
Der Fahrdienstorganisator Uber als Paradebeispiel der "on-demand"-Vermittlung zeigt ebenfalls alle Merkmale der digitalisierten Ausbeutung. Über ihre Plattform sprengt das Unternehmen mit anderen ähnlich organisierten Firmen das alte Taxigewerbe auf. Fahrer müssen ihr eigenes Auto benutzen und gelten daher als Selbstständige. Sie werden über die Plattform mit Kunden vermittelt, haben aber keinen Anspruch auf Vermittlung. Daher müssen sie sich gefallen lassen, niedrige Entgelte hinzunehmen, ein Grund für die Verdrängung der Taxis.
Der Zwang zur Optimierung richtet sich auf Geschwindigkeit und Routenwahl. Uber-Fahrer müssen ihr Auto aus eigenen Mitteln instand halten und ersetzen. Sie leben oft am Rande des Existenzminimums und wohnen oft in ihren Autos. Der enorme Ausbeutungsdruck hat sich jahrelang in extrem hohen Börsenbewertungen des Unternehmens niedergeschlagen.
Die Schockwirkungen der digitalen Offensive haben sich auch in grundlegenden sozialräumlichen Veränderungen ausgedrückt. Cluster, Unternehmenszusammenballungen wie Silicon Valley, haben sich zu Zentren entwickelt, die ihre Umgebungen radikal verändern. In konzentrischen Kreisen werden sie umlagert von Kordons, in die Dienstleistende und Zulieferer mit geringen Verdiensten hinausgedrängt wurden. Diese Strukturen bilden nunmehr die Macht- und Entwicklungskerne im nationalen Rahmen und sind Ausdruck einer neuen Heterogenisierung der Entwicklungsbedingungen, auch im globalen Maßstab. Denn das durch die neuen Technologien herbeigeführte globale Produktivitätsgefälle hat in den Entwicklungsländern ganze Regionen ins Elend gedrängt.
Einen drastischen Ausdruck findet die Offensive in der aggressiven Vertreibung der ärmeren Bevölkerungssegmente aus ihren angestammten proletarischen Vierteln, die ich eingangs schon berührt habe. Die reichen Tech-Unternehmer und Mitarbeiter können exorbitante Hauspreise und Mieten zahlen und vollziehen dadurch die in der Offensive angelegte Logik der Vertreibung der "Loser". Mithilfe einer willfährigen Justiz werden unter rechtlicher Einräumung großzügiger Kündigungsmöglichkeiten die ärmeren Bewohner hinausgeworfen. Weil sie das Recht auf ihre Stadt zu behaupten suchen und nicht wissen, wohin sie sonst gehen sollen, bleiben sie als Obdachlose unter elenden und zum Teil lebensbedrohlichen Bedingungen.
In San Francisco verbietet ihnen das sogenannte "Sit-Lie"-Gesetz bei Strafe das Sitzen und Liegen auf dem Boden. Auch das Kochen, Schlafen, Betteln, ja inzwischen auch das Zelten sind verboten. In der Bay Area belief sich die Zahl der Obdachlosen Anfang 2019 bei rund 6,8 Mio. Einwohnern auf, zurückhaltend geschätzt, 35.000, davon 10.000 allein in San Francisco. Im Bundesstaat Kalifornien wurden über 130.000 Obdachlose gezählt, die höchste Anzahl unter den US-Bundesländern, ein Viertel aller Obdachlosen in den USA, bei nur zwölf Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung. Dieses Verhältnis drückt auch das Ausmaß der Vertreibungsintensität und der zerstörerischen Wucht der in Silicon Valley zentrierten und von hier ausgehenden Innovationsoffensive aus. Einer mörderischen Offensive, denn die Todesraten steigen aufgrund der schlechten Lebensbedingungen stetig.
Klaus-Jürgen Bruder u.a. (Hg.): "Digitalisierung" - Sirenengesänge oder Schlachtruf der kannibalistischen Weltordnung, 350 Seiten, Westend Verlag.