Die Rückkehr der Mumie
Das Gespenst des Thatcherismus beherrscht (unterschwellig) den britischen Wahlkampf
Ein Gespenst geht um in der englischen Politik. Es hatte sich längere Zeit sehr zurückgehalten und kaum von sich reden machen. Doch im Wahlkampf 2001 poltert es mit ungebrochener Kraft aus dem gruftigem Exil. Die Rede ist von Margaret Thatcher, im Lande der Queen auch als Baronin Thatcher angesprochen. Dabei ist es nicht nur der persönliche Stil der Baronin, mit dem sie immer noch Gänsehaut zu erzeugen versteht, sondern die unbewältigte politische Hinterlassenschaft des Thatcherismus.
Als Margaret Thatcher in der Vorwoche auf einer Partei-Konferenz der Tories in Plymouth sprach, hoffte deren unglücklich agierender Spitzenkandidat William Hague wohl, dass der Einsatz der Eisernen Lady an vorderster Front zumindest die Stammwähler mobilisieren würde. Das tat sie auch, aber mehr als ihm lieb sein konnte. Denn seine vorsichtige Ablehnung des Euro, begrenzt auf die nächste 4- oder 5-jährige Amtsperiode der am Donnerstag zu wählenden Regierung, wurde von Thatcher forsch zu einem "niemals" umgedeutet - zu tosendem Applaus der Parteitreuen. Den Witz mit der Anspielung auf den gleichzeitig anlaufenden Mumien-Film übrigens, den brachte Frau Thatcher bei dieser Rede selbst in Umlauf, ganz ohne jeglichen Anflug von Humor, wie ein BBC-Kommentator leicht entsetzt feststellte.
Spätestens in diesem Moment begannen gemäßigte Konservative, was meist gleichbedeutend damit ist, europafreundlich eingestellt zu sein, laut darüber nachzudenken, ob es wirklich so günstig gewesen war, die Fregatte "Thatcher" im Wahlkampf wieder an die vorderste Front zu holen. Zwar teilte sie vermeintlich tödliche Salven gegen New Labour aus, aber vor allem demonstrierte sie, wie weit rechts die Partei unter William Hague abgedriftet war. New Labour sah sich mit einer Steilvorlage beglückt, die skrupellos genutzt wurde. Am nächsten Tag erschienen neue Wahlkampfposter, die den ansonsten kahlköpfigen Hague mit Lady Thatchers charakteristischer Haarpracht, Perlenohrringen und einem Anflug von rosa Lippenstift zeigten.
Am folgenden Donnerstag dann nutzte Tony Blair eine seiner größeren Wahlreden für eine Distanzierung vom Thatcherismus. Dessen Zeit sei nun endgültig vorbei, sagte er, neue Zeiten bräuchten neue Methoden. Doch ist dem Thatcherismus wirklich das politische Lebenslicht ausgeblasen worden? Denn nicht einmal in dieser Rede schaffte er es, sich völlig vom Thatcherismus zu distanzieren. "Ich sage nicht, dass alles falsch gemacht wurde, aber vieles ging schmerzvoll daneben", lautete einer der Schlüsselsätze. Wie daraus möglicherweise abzulesen ist, werden Blair Sympathien mit der ehemaligen Langzeit-Premierministerin nicht ganz zu Unrecht nachgesagt, zu deren "Erfolgen" es unter anderem zählt, die Gewerkschaften - in blutigem Kampf mit den Minenarbeitern wörtlich - zerschlagen und die britische Industrie auf einen kümmerlichen Rest reduziert zu haben. Und was mag ihn wohl bewogen haben, am Beginn seiner ersten Amtszeit im Frühjahr 1997 Frau Thatcher zu einem Plauderstündchen in Nr.10 Downing Str. eingeladen zu haben?
Dass Blair nun ganz allgemein thatcheristische Politik betreibt, wäre eine zu pauschale Unterstellung. Doch in einigen ganz wesentlichen Punkten gab es zumindest erstaunliche Kontinuität. Das Programm "Panorama" - zwar angeschlagen aber immer noch das Flaggschiff des englischen Fernsehjournalismus - zeigte in seiner letzten Ausgabe am Sonntagabend auf, inwiefern Blair einige seiner zentralen Versprechen des letzten Wahlkampfs gebrochen oder nur zu sehr geringem Teil eingehalten hat. Von einem "Pakt mit der Bevölkerung" hatte Blair vor 4 Jahren gesprochen, wobei es insbesondere in den Bereichen Bildung und Gesundheit darum gehe, die Vernachlässigung des öffentlichen Sektors unter Thatcher und Major wieder gut zu machen. Panorama sezierte eine Stunde lang, inwiefern das der Regierung Blair in den letzten vier Jahren nur äußerst ansatzweise gelungen war und versäumte auch nicht, auf die Gründe dafür einzugehen. Die damals neue Regierung hatte sich, sozusagen als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber Wirtschaft und konservativen Kreisen, darauf eingeschworen, die Ausgabenpolitik der Tories in den ersten beiden Jahren fortzusetzen, was im Prinzip einem Investitionsstopp in hoffnungslos unterfinanzierten, öffentlichen Dienstleistungen entsprach. Im dritten Regierungsjahr wurden zwar höhere Ausgabenziele gesteckt, aber nicht eingehalten. Da die Wirtschaft zugleich wuchs, erreichten die Regierungsausgaben für Bildung und Gesundheit 1999 prozentual den tiefsten Punkt seit mehr als vierzig Jahren. Erst im Jahr 2000 kam es zu einem leichten Anstieg und die Budgetpläne für die nächsten Jahre sehen weitere Erhöhungen der Ausgaben und Investitionen vor, damit Großbritannien in den Schlüsselbereichen Bildung und Gesundheit wieder auf kontinentaleuropäisches Niveau aufschließen kann.
Was kontinentaleuropäische Leser daran interessieren könnte, ist, dass das Gespenst des Thatcherismus nicht nur in London umgeht, sondern auch in Brüssel Fuß gefasst hat. Als Finanzminister Gordon Brown oben genannte Budgeterhöhungen bekanntgab, wurde er von Brüssel prompt gerügt, weil eine schnelle Steigerung der Staatsausgaben inflationären Druck ausüben könnte und die Konvergenzkriterien der Einheitswährung nicht erfüllt - das nur so nebenbei, falls die Briten überhaupt je die Absicht hätten, dem Euro beizutreten. Die Eurokraten haben wohl noch nie eine Spitalsbehandlung in England nötig gehabt und müssen ihre Kinder auch nicht in öffentliche Schulen in Londoner Innenstadtbezirken schicken. So einseitig und überzogen der kürzlich im Stern lancierte Artikel "Der englische Patient" auch war, ganz daneben lag er nicht.
Das wahre Schaudern aber sollte uns erst befallen, wenn wir uns mit jenen Plänen befassen, welche die Regierung Blair im noch laufenden Wahlkampf erst gar nicht an die große Glocke hängt, zugleich aber als Eckpfeiler ihrer kommenden Politik betrachtet. Im Kern geht es dabei um eine "Verbesserung" öffentlicher Dienste durch ein noch nie gekanntes Ausmaß an neuen Privatisierungen. Nach der Privatisierung der Bahn mit katastrophalen Folgen sollen nun auch Schulwesen und Krankenversorgung in weiten Teilen privatisiert werden. Wie das genau aussehen soll, darauf will sich vor der Wahl kein New-Labour-Politiker festnageln lassen, doch die Tendenz besteht: von Privatfirmen gemanagte aber mit öffentlichen Geldern bezahlte Schulen, Krankenhäuser, Kliniken usw. Was das vor allem zur Folge haben wird, ist relativ leicht vorhersehbar: eine drastische Steigerung der Ungleichheit. Mangel an Lehrern, Ärzten, Krankenschwestern zählt ohnehin schon zu den größten Problemen im Vereinigten Königreich. Betreten private Player die Szene, so können sie diese qualifizierten Arbeitskräfte ja nicht irgendwoher zaubern, sondern müssen sie aus dem öffentlichen Sektor abwerben. Es ist absehbar, dass es dann Spitzenschulen und Spitzenkrankenhäuser geben wird, mit überdurchschnitltich gut bezahltem und hochmotiviertem Personal, während die selben Strukturen in den Problemgebieten noch morbidere Zustände erleiden als ohnehin schon jetzt.
Brüssel ist leider völlig d'accord mit diesen Plänen. Das Gespenst des Thatcherismus hat seine Hand auch im Spiel bei der nächsten Runde zu den Verhandlungen um die Erneuerung des GATS-Abkommens (Government Agreement on Trade in Services) im Rahmen der Welthandelsorganisation. Europa möchte bei der Liberalisierung der Dienstleistungen die Nase wettbewerbsmäßig vorne haben. Die "Märkte" sollen sich für multinationale Bildungs- und Gesundheitskonzerne öffnen, und Spitzeninstitute wie Oxford und Cambridge positionieren sich bereits im zu erwartenden Gerangel um Marktanteile. Was macht die leibhaftige Baronin Thatcher, während Stiefenkelsohn Blair die Weichen für die nächste Runde der Privatisierungen stellt? Wahrscheinlich trinkt sie ein Tässchen Tee auf die Gesundheit ihres Freundes General Pinochet.