Die Rückkehr des Verzichts: Ein neues Kapitel in der deutschen Politik
- Die Rückkehr des Verzichts: Ein neues Kapitel in der deutschen Politik
- Die grüne Vision: Wohlstand jenseits des Wirtschaftswachstums
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Deutschland ringt um seinen Wohlstand. Eine Neudefinition kann nicht hinwegtäuschen: Es geht zunehmend um Verzicht. Warum dieser Trend älter ist als gedacht. (Teil 1)
Die Bundesregierung hat bisher nicht entschieden, ob sie bei der Wohlstandsverteidigung mitmacht. Zumindest in außenpolitischer Hinsicht: In den USA erwartet man gespannt die Ergebnisse der Verhandlungen Deutschlands und der Europäischen Union in Bezug auf das Unternehmen "Prosperity Guardian", die Militärallianz zum Schutz von Handelsschiffen im Roten Meer, welche derzeit von den jemenitischen Houthis in Reaktion auf den Nahost-Konflikt angegriffen werden.
Deutschlands Rolle in der globalen Wohlstandsverteidigung
Innenpolitisch jedoch ist schon lange ein anderer Ton angeschlagen worden. Seinem Klang folgend ist für Deutschland nun die Zeit gekommen, sich vom Wohlstand zu verabschieden. Jedenfalls davon, was man bisher darunter verstanden hat. Das Gabler Wirtschaftslexikon definiert Wohlstand folgendermaßen:
"Wohlstand ist ein bestimmtes Maß an Wohlhabenheit (materieller Wohlstand, auch Lebensstandard) und Wohlbefinden (immaterieller Wohlstand). Man lebt im Wohlstand, wenn man in wirtschaftlicher Hinsicht zumindest abgesichert oder sogar überdurchschnittlich ausgestattet ist und eine gewisse Macht über die Umstände hat (sic!)."
Gabler Wirtschaftslexikon
Neudefinition von Wohlstand in Deutschland
Den Abschied eingeläutet hat – in der öffentlichen Diskussion jedenfalls – der Krieg in der Ukraine. Im Juli 2022 zierte das Titelblatt des Magazins Cicero ein russischer Panzer, der ein deutsches Sparschwein überrollt. Die Verantwortung für die "Wohlstandswende", so die Suggestion, lag bei Moskau. Darüber herrschte auch Einigkeit in der restdeutschen Medienlandschaft. Nicht aber über den Umgang damit. Manche hielten dafür nämlich bereits eine Formel bereit.
"Wie geht noch mal verzichten?", fragte der Spiegel schon kurz nach Ausbruch des Krieges im März, und bebilderte seinen Artikel mit dem Diptychon eines Kfz-freien Autobahn-Idylls aus den Jahren der Ölkrise 1973 und einem Foto der Proteste gegen die hohen Kraftstoffpreise 2022 (Auf die bemerkenswerten Parallelen der beiden Zeitgeschehnisse hatte auch Telepolis im Januar 2023 aufmerksam gemacht). Verbot und Verzicht, so der Tenor des Artikels, rückten nun gegenüber dem Preis als Steuerungsinstrument des Marktes wieder in den Blick.
Die Rückkehr des Verzichts in der deutschen Politik
Jenem kategorischen Imperativ des Verzichts haben die politisch Verantwortlichen seitdem kontinuierlich das Wort geredet. Von Emmanuel Macrons "Ende des Überflusses" im August 2022 bis zum "Ende der Zeit des Füllhorns", die der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, erst vor wenigen Tagen verkündete. Kretschmann sprach vom "Fluch einer langen Prosperitätsphase" und folgerte, gleich dem Spiegel 2022: "Wir sind Einschnitte nicht mehr gewöhnt".
Jedoch ist jene gleichgeartete Argumentation allerdings älter als die Sachzwänge, die "exogenen Schocks" und Notlagen, auf die sie sich beruft. Geht die Ideologie der Wirklichkeit voraus, die uns, mit den Worten des Bundeswirtschaftsministers "umzingelt"? Haben wir uns schon vorher vom Wohlstand verabschiedet?
Wirtschaftliche Herausforderungen und Wohlstandsmessung
Auch im neuen Jahr mangelt es jedenfalls nicht an Indikatoren für einen Niedergang des materiellen Wohlstands in Deutschland – Damoklesschwert Deindustrialisierung hin oder her. Die Kommunen erwarten ein Milliardendefizit. Deutsche Wirtschaftsinstitute rechnen mit einer Rezession.
Die Wirtschaftsverbände blicken entsprechend pessimistisch ins neue Jahr – von immateriellen Indikatoren wie dem zuletzt von PISA attestierten wohlstandsgefährdenden Bildungsniveau einmal abgesehen.
Aber wie lässt sich Wohlstand überhaupt messen?
BIP: Ein umstrittener Indikator für Wohlstand
Für das als arbeitgebernah geltende IW besteht kein Zweifel am Bruttoinlandsprodukt (BIP) als geeignetem Indikator. Diese Sichtweise erscheint jedoch zunehmend als isoliert. Der Grundstein dafür wurde allerdings schon vor Corona und Ukraine gelegt.
Darüber, "Warum das BIP der falsche Indikator für Wohlstand ist", hat etwa der Wirtschaftsjournalist Norbert Häring schon 2019 im Handelsblatt geschrieben. Anlass war der damalige Parteitag der Grünen und der Beschluss des Vorstands, das BIP "als vorherrschendes Maß von Wachstum und Wohlstand" abzulösen. Ein Vorschlag, der unter anderem auch beim Statistischen Bundesamt Anklang fand. Und die Argumente leuchten ein.
Denn das BIP misst bekanntermaßen ausschließlich materiellen Wohlstand ungeachtet seiner materialisierten Folgen für die soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit. Einen Indikator, der lediglich die Bereicherung weniger und eine Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen aller abbildet, mag wohl niemand gutheißen. Es ist nur die Frage, auf welche gesellschaftliche Realität diese Forderungen treffen.
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