"Die SPD ist längst keine Volkspartei mehr"

Heiner Geißler, der ehemalige Generalsekretär der CDU, über die innerparteiliche Kritik am Kurs Angela Merkels, den Zustand des Koalitionspartners SPD - und die Frage, wie man am besten mit der AfD umgeht

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Herr Dr. Geißler, haben Sie Verständnis dafür, wenn Kollegen aus dem konservativen Lager Ihrer Partei sagen, sie könnten es nicht mehr vertreten, den Bürgern ihres Wahlkreises immer wieder das Gegenteil dessen zu sagen, was noch vor wenigen Jahren im Regierungsprogramm stand?

Heiner Geißler: Nein, dafür habe ich überhaupt kein Verständnis. Die CDU ist ja nicht die katholische Kirche. Die CDU ist eine Partei, die den Anspruch hat, konkrete Probleme zu lösen und auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen zu reagieren. Und zwar klug und verantwortlich auf der Grundlage eines ethischen Fundaments. Man kann doch nach Fukushima, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht dieselbe Energiepolitik vertreten wie zuvor.

Ausstieg aus der Atomkraft, Abschaffung der Wehrpflicht, Kurswechsel in der Sozialpolitik - was antworten Sie all jenen CDU-Mitgliedern, die sagen, die Partei habe sich in den vergangenen Jahren zu schnell verändert?

Heiner Geißler: Das ist eine Frage der Intelligenz und der argumentativen Führungskraft. Es wird immer Leute geben, die auf der Bremse stehen und sich grundsätzlich gegen jegliche Veränderung sträuben. Andere wiederum brauchen nur etwas länger. Eine Parteiführung sollte darauf Rücksicht nehmen. Das heißt allerdings nicht, dass sie auf unbegründete Sorgen und dumme Argumente eingehen muss.

Heiner Geißler. Bild: privat

Können Sie ein Beispiel nennen?

Heiner Geißler: Die Wirtschaftswelt hat sich verändert, die meisten Familien kommen inzwischen nur dann über die Runden, wenn beide Eltern arbeiten; früher dagegen reichte häufig ein Einkommen. Die logische Folge: Die Politiker müssen eine andere Familienpolitik machen, die auch die berufstätigen Frauen umfasst. Ich kann von jedem CDU-Mitglied erwarten, dass er dies erkennt und entsprechend handelt. Ein anderes Beispiel: Wir haben es mit einer Flüchtlingswelle zu tun, die ausgelöst wurde durch Bürgerkriege und ein globales System der Ausbeutung. Da kann man als verantwortlicher Politiker doch nicht eine Ausländerpolitik machen wie vor dreißig Jahren!

Im Regierungsprogramm 2006 heißt es unter anderem "Mehr Zuwanderung ist nicht verantwortbar (…) "sie würde den inneren Frieden gefährden" - "Liebe zu unserem Land" - "Identifikation mit der Nation" - "Gegen die multikulturelle Gesellschaft." Herr Geißler, was ist falsch daran, wenn AfD-Politiker sagen, sie verträten viele Kernpositionen der "alten CDU"?

Heiner Geißler: Wir leben nicht mehr im Jahre 2006. Die Welt hat sich verändert. Zur Nation gehören schon lange nicht mehr nur "Bio-Deutsche", sondern alle, die eingebürgert sind. Alle müssen sich auf den Boden des Grundgesetzes stellen. Mit anderen Worten: Keine Parallelkulturen, in denen andere Regeln gelten; die Scharia darf nicht über dem Gesetz stehen.

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