Die Sache mit der Objektivität
Zwei Tage nach dem Staatsstreich kehrt der venezolanische Präsident Hugo Chávez nach Caracas zurück, manche Printmedien werden schnell vergessen wollen, was gestern war
Unter dem Jubel Tausender Demonstranten ist der gewählte Präsident Venezuelas, Hugo Chávez, einen Tag nach dem Putsch am Sonntag Morgen in den Präsidentenpalast Miraflores in Caracas zurückgekehrt. Sein selbst ernannter Nachfolger und Vorsitzender des Unternehmerverbandes, Pedro Carmona, war bereits am Abend des Vortages nach eintägiger Amtszeit in Anbetracht der Massenproteste gegen den Putsch zurückgetreten. Auch der militärische Anführer des Staatsstreiches, General Efraín Vásquez, war nach dem Umsturzversuch schnell isoliert worden. Die beiden Anführer des Putsches und zwei weitere hochrangige Militärs, die am Freitag die Regierungsgeschäfte an sich gerissen hatten, sind inzwischen inhaftiert und wurden in die Militärbasis Fort Tiuna überführt. Dort war wenige Stunden zuvor noch Chávez von den Putschisten festgehalten worden.
Der Umsturzversuch wurde von den massiven Protesten aus der Bevölkerung und Widerstand im Militär selbst vereitelt. Nach der Machtübernahme durch Carmona war ein Streit unter den Organisatoren des Staatsstreiches ausgebrochen. Nach der Festnahme von Chávez hatten sich mehrere Anführer zum Präsidenten erklären wollen, darunter auch der Vorsitzende der rechten Gewerkschaft CTV, Carlos Ortega. Die CTV hatte der "Übergangsregierung" nach Carmonas Amtsübernahme die Unterstützung versagt. Auch General Vásquez geriet in die Defensive, nachdem dem Präsidenten treue Verbände rebellierten. In mehreren Kasernen soll es zu bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen sein.
Unmittelbar nach seiner Amtsübernahme hatte der Unternehmerpräsident die Rücknahme der sozialen Reformen von Chávez angekündigt und das Parlament sowie das Oberste Gericht aufgelöst. Aus Angst vor Repressionen waren zahlreiche Abgeordnete daraufhin untergetaucht. Die Rio-Gruppe, der politische Verbund südamerikanischer Staaten, kritisierte die "diktatorischen Züge" der sogenannten Übergangsregierung. Mexiko, Paraguay, Argentinien und Kuba verweigerten den Putschisten die diplomatische Anerkennung.
Die Drahtzieher selbst bemühten sich, den Schein eines demokratischen Umsturzes zu wahren. Die Version, dass Chávez aus freien Stücken zurückgetreten war, wurde jedoch von Anfang an angezweifelt. Noch aus dem Militärgefängnis hatten Soldaten ein Schreiben geschmuggelt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Darin erklärte der Präsident handschriftlich, nie zurückgetreten zu sein.
Am Sonntag Morgen (Ortszeit) kehrte Hugo Chávez mit einem Helikopter in den Präsidentenpalast zurück (Chávez wieder an der Macht). In einer einstündigen Fernsehansprache rief er die Bevölkerung zu "Ruhe, rationalem Handeln und Einheit" auf. Die Ereignisse der vergangenen Tage würden untersucht. "Wir werden keine Hexenjagd veranstalten", sagte der ehemalige Kommandeur einer Einheit von Fallschirmjägern. Allerdings könnten sich die Hintermänner ihrer Verantwortung nicht entziehen und müssten sie vor Gericht "mit allen ihnen zustehenden Rechten" übernehmen.
Die Reaktion in deutschen Zeitungen
Es ist kein Geheimnis, dass der "Linkspopulist" Chávez in den USA und ihnen solidarischen Kräften nicht wohlgelitten ist. Entsprechend waren die Reaktion auch in der deutschen Printmedienlandschaft am Wochenende. Es lohnt sich durchaus, die letzten Titel mit den Ereignissen zu vergleichen.
Nehmen wir als Beispiele für die Diskurs bestimmende Presse in der Bundesrepublik die Tageszeitungen Die Welt und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Beide jubilierten am Samstag. Auf die vermeintliche Objektivität bedacht hielt sich letztere auf der Titelseite bewusst zurück: "Chávez tritt nach Rebellion des Militärs ab", heißt es in der "FAZ" unter dem Aufmacher über den Powell-Besuch in Israel. Nun sprechen die Aussagen des Protagonisten selbst zwar gegen diese Version, aber entspricht die Aussage dem Großteil der Korrespondenzen führender Nachrichtenagenturen. Auf der dritten Seite stellt sich dann schon ein anderes Bild, auf prominentem Platz findet sich ein Korrespondentenbericht. Der Autor weiß aus Caracas zu berichten: "Am Ende hatte er alle gegen sich" - und deswegen ende "für die Venezolaner eine weitere traumatische Phase ihrer Geschichte". Links ist so schlimm wie rechts, lautet die Botschaft, denn der "vom Volk erzwungene Rücktritt" erinnere an den Fall des Diktators Pérez Jiménez im Jahr 1958.
Auch im Spiegel wusste man es schon genau:
"Mit seiner Politik wollte Chávez eine "soziale Revolution" herbeiführen und bei alten Freiheitshelden wie Simon Bolivar, der Anfang des 19. Jahrhunderts den größten Teil Lateinamerikas von der spanischen Kolonialherrschaft befreit hatte, anknüpfen. Doch er verunsicherte nur die Wirtschaft, Unternehmer bremsten ihre Investitionen, die Gewerkschaften warteten vergeblich auf Verbesserungen. Auch im Ausland stieß Chavez auf tiefe Skepsis. Seine Ansammlung von Machtbefugnissen und der Bruch aller demokratischen Spielregeln wurde zunehmend kritisch beobachtet. Vor allem die USA - den größten Handelspartner seines Landes - verärgerte Chávez mit seinen engen Kontakten und Besuchen in Kuba, Libyen und Irak. Nun ist die politische Karriere des 47-jährigen Demagogen endgültig am Ende." (Abschied eines Demagogen)
Einem ähnlichen Schema folgt man bei "Die Welt". Eine nachrichtliche Aufmachung, Fortsetzung hier auf Seite 5. Und da geht es gleich mit zwei Artikeln und einem Interview zur Sache. "Venezuela befreit sich von Chávez", frohlockt ein Redakteur. In hämischen Ton wird berichtet, wie "der Verrückte" mit "attestiertem Größenwahn" und "ständiger, latenter Gewaltbereitschaft" in Anbetracht von "stündlich immer mehr (protestierenden) Venezolanern (...) das Handtuch warf". Ein Gegner Chávez' prognostiziert im Spalteninterview: "Dieser linkspopulistische Diktator wird nicht ohne Strafe bleiben". Nach dieser Analyse bleibt die Frage: "Was macht man mit einem Land, das einen verrückten, größenwahnsinnigen, linkspopulistischen und latent zur Gewalt bereiten Diktator mit Massenprotesten in den Regierungspalast zurückholt? Besonders in den USA dürfte es Strategen geben, die auf diese Frage Antworten parat hätten. Und auch dann hätten "Die Welt" und die "FAZ" wohl passende Titel parat.
So wie 1973. Heute wissen wir, dass unter dem chilenischen Diktatur Agosto Pinochets Tausende Oppositionelle ums Leben kamen und für die Organisation des Putsches die CIA maßgeblich verantwortlich zeichnete. Nach seiner Festnahme wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit 1998 sprachen sich beide erwähnten Zeitungen für einen Prozess gegen Pinochet aus. Doch das war nicht immer so. Als die rechtsextremen Militärs im September 1973 den gewählten Präsidenten Salvador Allende stürzten und den Präsidentenpalast bombardierten, frohlockte "Die Welt": "Junta schickt das Parlament in Ferien". Schließlich handelten die Militärs, "als sonst niemand mehr dazu in der Lage war". Die FAZ, damals wie heute staats(streich)tragender: "Im Augenblick der höchsten Gefahr konnten sich die Streitkräfte ihrer Verantwortung nicht mehr entziehen." Eine humanitäre Großtat mithin. 1998 sieht die Welt anders aus. Nach der Festnahme des einstigen Helden schrieb "Die Welt": "Sie (die Diktatoren) bekommen nun zu spüren, was es bedeutet Angst zu haben." Man hat dazugelernt. Oder nicht? Manchmal jedenfalls bekommen sie (die Redakteure) zu spüren, was es bedeutet, vorlaut zu sein.
Auch die US-Regierung, die zunächst die Putschregierung unterstützte, hat sich schnell den neuen Fakten wieder angepasst und verlangt nun von Chávez, was der von ihr akzeptierte Putschunternehmer missachtet hat: "The people of Venezuela have sent a clear message to President Chavez that they want both democracy and reform. The Chavez administration has an opportunity to respond to this message by correcting its course and governing in a fully democratic manner."