Die Schatten der Vergangenheit
Anfälligkeit für chronische Erkrankungen ist nicht nur angeboren
Das Risiko, an chronischen Erkrankungen zu leiden, ist nicht nur genetisch bedingt. Heute werden vielmehr Faktoren erkannt, die aus der ersten Lebensphase stammen oder bereits vorgeburtlich ablaufen.
Der Tod von Francis Crick, dem Mitentdecker der DNS, hat noch einmal für viele das Augenmerk auf die genetischen Ursachen der Krankheiten gelegt. "Wenn erst die Genstruktur entschlüsselt ist, bereitet es keine Schwierigkeiten mehr, eine Erkrankung zu erkennen und zu behandeln". Das war und ist zum Teil noch die Losung unserer Zeit. Dennoch handelt es sich um eine vielfach irrige Annahme, weil das Wissen um den genetischen Kode zwar manche Ursachen erfassen kann, nicht aber das eigentliche Krankheitsgeschehen. Inzwischen sind die lautstarken Stimmen immer leiser geworden, die den Phänotyp über den Genotyp erklären wollen. Tatsächlich kann der einheitliche Genotyp, von dem alle Genetiker schwärmen, nicht gefunden werden. Und so sind - wenige Ausnahmen bestätigen die Regel - die hoffnungsvollen Erwartungen zunehmend gesunken. Die zur Zeit der genetischen Untersuchungen wie Pilze aus dem Boden schießenden Unternehmen haben zum Teil ihre Technik verkauft, anderen Zielen zugeführt oder schließen überhaupt.
Die Ursache mag in der Erkenntnis liegen, dass es eine "Entwicklungszeit für Gesundheit und Krankheit" gibt, die sich der allgemeinen Bewertung allzu häufig entzieht. Auf diesen Umstand machen Peter Gluckman und Mark Hanson in Science in ihrem Artikel "Living with the past: Evolution, development and pattern of disease" aufmerksam.
Was man schon wusste
Die Wissenschaftler lassen sich von der Beobachtung von D.J.P. Barker leiten, der in seinem Buch Fetal origins of cardiovascular and lung disease? aus dem Jahr 2001 die Frage stellt, ob spätere Herz- und Lungenkrankheiten bereits im Neugeborenen angelegt sind. Danach zeigen verschiedene Untersuchungen, dass ein verminderter Wachstumsschub - sei es wegen niedrigem Geburtsgewicht, sei es als Folge der verminderten Körperproportionen - Erkrankungen des Herzens und der Gefäße fördern oder das Risiko an einer Zuckerstoffwechselkrankheit (Typ 2 Diabetes) erhöhen. Damit verbunden sind Störungen in der Glukosetoleranz oder auch bei der Zusammensetzung der Fette. Deshalb ist das Risiko, an einer dieser Krankheiten zu leiden, offensichtlich desto größer, je kleiner das Neugeborene und je stärker seine Gewichtszunahme in seiner Jugend ist.
Was sozusagen am Rande beobachtet wird, ist ferner dies: Die Jahreszeit der Geburt, frühkindliche Infektionen oder Rauchen der Mutter beeinflussen das Wohlergehen des späteren Erwachsenen. Hinzu kommen Effekte auf verschiedene chronische Erkrankungen, sei es die Knochenentkalkung (Osteoporose) und Störungen der Gefühlslage.
Neue Einflüsse, alte Erkrankungen
Vieles bekommt eine neue Bedeutung, seitdem der "Gendruck" verschwunden ist. Wirklich neu ist das Wissen um komplizierte Vorgänge, die sich gerade jetzt im Verlauf verschiedener experimenteller Untersuchungen zeigen.
Dazu zählen Untersuchungen, die zwischen dem Embryo, dem Fötus oder dem Neugeborenen einerseits und seiner späteren Entwicklung zu kardiovaskulären Störungen und Einflüssen auf den Stoffwechsel prüfen. Beispielsweise kommt es zur Unterernährung des Kindes bei Behandlung der Mutter mit Glukokortikoiden. So veranlassen Allergien, Asthma, chronische Leberentzündungen und vieles mehr den Arzt, diese Therapie trotz der Schwangerschaft vorzunehmen. Die tatsächlichen Störungen werden bei der Geburt vielfach übersehen. Aber in Wirklichkeit haben sie bereits über zelluläre Umwege und unterschiedliche Hormoneinflüsse den Schaden angerichtet.
Weiterhin gibt es zahlreiche Vorgänge, die sich auf zellulärer Ebene abspielen und keineswegs so leicht zu erklären sind wie die bisherigen Beispiele. So werden die untergewichtigen Neugeborenen von übergewichtigen Rattenmüttern durch eine hohe Fettkost während ihrer Jugend stärker beeinflusst als solche von normalen Müttern, wenn sie die gleiche fetthaltige Kost erhalten. Oder am Beispiel der Schweine, deren Mütter während ihrer Schwangerschaft fettreich ernährt wurden: die jungen Schweine reagieren auf Fett in Abhängigkeit von der Einnahmezeit der Mütter.
Solche Störungen werden als "Entwicklungsplastizität" (M.J. West-Eberhard, Developmental Plasticity and Evolution, Oxford University Press, 2003) bezeichnet. Dieser neue Begriff meint ganz allgemein die Änderung von Struktur und Funktion in Abhängigkeit von der Entwicklung. Darüber hinaus laufen sie in einem Zeitfenster ab, und sind in dieser Zeit einseitig und unwiederbringlich.
Ebenfalls neu ist die Erkenntnis von dem "prädiktiven Anpassungsprozess". Dazu zählt aus dem Tierreich die unbewusste Zunahme des Fells bei Schafen, in dem Moment, wo sich die Tageszeit verkürzt. Solche Effekte entziehen sich der einfachen Beantwortung, weil sie zunächst als "sinnvoll" angesehen werden.
Zu reichhaltige Ernährung als Baby legt Grundstein für Diabetes
Erst Untersuchungen zur Langlebigkeit des Menschen zeigen, dass hier ein bemerkenswertes Wechselspiel wirksam ist. Das "scheinbar mütterliche" ist nichts anderes als die Anpassung an die Gewohnheit, die wiederum über mehrere Generationen hinweg trainiert wird. Die Situation "in der Gebärmutter" kann deshalb nur innerhalb von Generationen verändert werden. Folglich gilt auch beim Menschen: Da die Mütter heute ihre Kost energiereich gestalten, nimmt die Zahl der Kinder mit gesteigerter Insulinresistenz im Vergleich zu früher zu. Irgendwann in der Zukunft wird dieser Vorgang angepasst, das bedarf aber der Langzeitwirkung.
Betrachtet man das Geschehen aus der Sicht von Charles Darwin, bestätigt sich seine Theorie von der Evolution: "Ich kann darauf nur antworten, dass der geologische Report weit unvollständiger ist, als es die Geologen glauben" hat er einmal gesagt. Bezogen auf die heute aktuellen Ergebnisse zum Wechselspiel des Menschen und seiner Erkrankungen sind unsere Kenntnisse wahrlich erst in Bruchstücken bekannt. Die "Entwicklungszeit für Gesundheit und Krankheit" kann deshalb nur bedeuten, dass sie die Erkenntnisse dazu noch erheblich vertieft werden müssen.