Die Schurken von London

War der Anschlag unausweichlich?

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"..Der Zug fuhr in einen Tunnel. Wir wurden durchgeschüttelt wie immer in der U-Bahn, wenn sie die Gleise hinunter rattert. Da hörte ich einen lauten Knall. Der Zug entgleiste und rumpelte den Tunnel hinab. Er war nicht zu halten und rollte einfach weiter. Eine Serie von Explosionen folgte, als ob ein Motor nach dem anderen explodieren würde. Jede Explosion riss den Zug in die Höhe und ließ ihn an einem Punkt weiter unten landen. Ich fiel wie fast alle anderen zu Boden und rollte mich zusammen, um größere Verletzungen möglichst zu vermeiden. Zu diesem Zeitpunkt fragte ich mich, ob der Zug denn jemals zum Halten kommen würde. Ich dachte, "Bitte, mach, dass das Ding hält!", aber die Fahrt ging weiter. Am Ende wünschte ich, dass er nicht auf irgendetwas treffen und es einen Crash geben würde. Es gab ihn nicht. Als der Zug dann still stand, schrieen die Leute, aber vor allem aus Panik, denn die Wagons füllten sich schnell mit Rauch und der Geruch der brennenden Motoren machte uns klar, dass irgendwo Feuer brannte..."

London in Alarmbereitschaft; weitere Anschläge können nicht ausgeschlossen werden

"Schicksal ist eine seltsame Sache". Mit diesen Worten fängt der eben zitierte Bericht eines Londoners an, der einen der gestrigen Terroranschläge überlebt hat. Sein Blog heißt: "Pfff. A response to anything negative".

Justin ist nicht der einzige Zeuge der dramatischen Ereignisse, welcher von seinem Horrortrip online erzählt. Außer ihm haben noch andere Blogger sehr schnell reagiert. Interessant in seinem Bericht ist eine Stelle, in der Justin von einem Phänomen spricht, das sich für die BBC als eine "machtvolle neue Art" erwiesen hat, von Ereignissen zu berichten, bevor TV-Kameras am Ort des Geschehens eintreffen:

Die Opfer wurden am Eingang der U-Bahnstation...in Empfang genommen. Als ich die Treppen hochkam, wetteiferten Leute mit Kamera-Handys darum, Bilder von den Opfern mit den schlimmsten Verletzungen zu schießen. In Krisensituationen sind einige Menschen brutal.

Hunderte von Kamera-Handy-Fotos und -Videos sollen schon Minuten nach den Anschlägen ins Netz gestellt worden sein, berichtet die BBC. Der britische Mediengigant hat nach eigenen Angaben selbst geschätzte 1000 Fotos, 20 Amateurvideos und unzählige Berichte zugesandt bekommen, ebenfalls innerhalb kürzester Zeit - nachdem man das Nachrichtenpublikum dazu aufgefordert hatte.

Indessen suchen die Fahndungsbehörden noch nach der heißen Spur. Zwar scheint sich alle Welt darin einig, dass die Anschläge die deutliche Handschrift der Al-Qaida-Organisation tragen und die britischen Behörden machten auch deutlich, dass sie das im Internet veröffentlichte Bekennerschreiben der Geheimorganisation der Al-Qaida in Europa ernst nehmen (vgl. Die Website des Bekennerschreibens). Doch nicht nur für hartnäckige Bastler von Verschwörungstheorien, die einmal mehr den Westen selbst dafür verantwortlich machen, bleiben ein paar Ungereimtheiten. Der zitierte Koranvers in der veröffentlichten Erklärung enthalte Fehler, wird angemerkt, unüblich bei derartigen Erklärungen der Qaida. Außerdem hätten sich inzwischen mehrere Bekennerschreiben im Netz gefunden.

Sowohl die arabische Zeitung Al-Hayat wie al-Sharq al-Awsat deuten mit einiger Plausibilität auf terroristische "Zellen" in London selbst, die für die Anschläge in Frage kommen könnten. Ernsthafte Warnungen über mögliche Anschläge in London gab es schon letztes Jahr (vgl. Das Erwachen der Dschihadis auf dem Planeten Venus). Die Geheimdienste vermuteten damals, dass die Gefahr dafür von einem Netzwerk radikaler Islamisten, die in England im Exil leben, ausgehen könnte, da diese nachweislich für den Dschihad rekrutieren würden und sich ausdrücklich mit der Planung eines möglichen Anschlags in England brüsteten.

Zwei zentrale Figuren in dieser Szene sind zum einen der notorische Hass-Prediger von Finsbury Park in Nord-London, Abu Hamza al-Masri, welcher sich seit Dienstag vor einem Gericht wegen Beteiligung an terroristischen Vereinigungen verantworten muss und Scheich Omar Bakir, ebenfalls ein unermüdlicher Prediger eines Islam, der sich mit dem "gottlosen Westen" im Kampf befindet. Scheich Omar Bakir soll, wie das britische Boulevardblatt The Sun heute berichtet vor drei Monaten einem portugiesischen Magazin offenbart haben, dass "eine sehr gut organisierte Gruppe in London große Anziehungskraft auf junge Moslems ausübt." Er wisse, dass sie bereit sind, eine große Operation durchzuführen. "Das ist unausweichlich."

Mit solchen angeberischen, agitatorisch-verächtlichen Worten, wie sie Scheich Omar bei nahezu jeder Gelegenheit geäußert hat, ist den zwei Millionen Muslimen in England am wenigsten gedient. Man weiß, wie schnell sich ein Verdacht zum Generalverdacht entwickeln und das Klima verschärfen kann – London ist seit langer Zeit eine traditionelle Heimstatt für Asyl suchende Muslime, die in ihren despotisch geführten Heimatländern verfolgt werden. Große Teile der irakischen Opposition hielten sich zur Zeit der Herrschaft Saddam Husseins ebenfalls in London auf.