Die Seuchen der anderen

Seite 2: Vom Krieg gegen die Bakterien zum Verstehen der Viren

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Die Geschichte der Seuchen ist auch die ihrer Behandlung. Erst im 19. Jahrhundert wandte sich die Medizin ganz von der antiken Säftelehre ab und modernen, empirischen Methoden zu.

Zuvor galten andere Gesetze. In den monotheistischen Religionen glaubte man nicht mehr, dass ein Dämon die Krankheit verursachte und durch irgendwelche Rituale des Exorzismus ausgetrieben werden konnte. Stattdessen geht es darum, die Gebote Gottes zu befolgen. Man hielt Unreinheiten für ansteckend, darum gelten solche Menschen, die die Reinheitsgebote verletzten, als "unberührbar" oder "gezeichnet". Wer einen Unreinen berührte, wurde selbst unrein. Die Verletzung der Reinheitsgebote galt oft als Erklärung für den Grund einer Erkrankung.

Die medizinische Behandlung war bei den Griechen höher entwickelt. Die griechischen Ärzte waren Hippokratiker. Ihre herrschende Lehre war die Säftelehre: Vier Säfte des Körpers mussten im Gleichgewicht gehalten werden. Jede Krankheit galt in erster Linie als eine Störung im Gleichgewicht der vier Säfte - sie konnte durch das Verhalten des Patienten oder durch die Einflüsse der Umwelt bedingt sein.

Den Hippokratikern war der Gedanke an Ansteckung fremd. Waren bei einer Seuche ganze Menschengruppen gleichzeitig und plötzlich betroffen, musste man zunächst Veränderungen im alle gemeinsam gleichmäßig umgebenden Medium vermuten: In der Luft. Diese Miasma genannte Luftverunreinigung wurde mit Lufträucherung behandelt.

Mit der Erfindung des Mikroskops kurz nach 1600 begann dann die große Zeit der Mikroskopiker. Man erkannte in Flüssigkeiten oder Schleim Bakterien und andere kleine Lebewesen. Wiederum herrschte bald ein erstaunlicher Dogmatismus vor: Alle Krankheiten wurden nun wieder aus einer jetzt allerdings neuen Ursache heraus erklärt z.B. bei Pocken und Syphilis glaubte man aus geplatzten Pusteln und eitrigen Geschwüren Würmer als Erreger nachgewiesen zu haben.

Da aber die geringe Bildschärfe und Vergrößerungsfähigkeit der damaligen Mikroskope ein genaueres Differenzieren nicht ermöglichte, wurde das Mikroskopieren mehr und mehr zum spielerischen Zeitvertreib. Mit besseren Mikroskopen entdeckte man dann die Mikroorganismen, vor allem die Milzbrand-Bazillen. Aseptische Verfahren senkten die Sterblichkeit, erste Schutzimpfungen halfen gegen Pocken.

"Ich vergesse, dass ich mich in Europa befinde"

Zwei Ärzte wurden zu den großen Helden am Beginn der modernen Medizin: Der Franzose Louis Pasteur schuf die Grundlagen der Bakteriologie und bekämpfte aufsehenerregend Infektionskrankheiten. Sein Pendant in Deutschland ist Robert Koch. Er begründete die Seuchenlehre und die experimentelle Mikrobiologie. Mit aufwendigen Reihenuntersuchungen entdeckte er unter anderem den Erreger der Tuberkulose 1882 und den Erreger der Cholera 1883.

Zu seiner Sternstunde wurde das Jahr 1892. Hier kam es in Hamburg zur letzten großen Cholera-Epidemie Europas. Mehr als 8.000 Menschen starben, was nicht zuletzt an den maroden, äußerst unhygienischen Trinkwasserleitungen lag. In einer Abhandlung über die Fauna im Hamburger Rohrnetz wurden mehrere Dutzend Tiere festgestellt, sogar Schlangen.

Ich vergesse, dass ich mich in Europa befinde", notierte der Bakteriologe damals entsetzt, nachdem er die Quartiere der Hamburger Armen besichtigt hatte. "Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie in den sogenannten Gängevierteln.

Robert Koch

Nicht nur Koch urteilte vernichtend, bald stand die Stadt unter Quarantäne. Als die Epidemie eingedämmt war, veränderte sich die Stadtplanung der Hansestadt komplett: Sozialwohnungen lösten die alten Arbeiterquartiere ab, eine neue Kanalisation und Wasserversorgung wurde geschaffen, Badeanstalten eingerichtet, die Versorgung mit Ärzten und Krankbetten derart verbessert, dass das zuvor rückständige Hamburg nun die modernste Stadt im Deutschen Reich war.

Koch übernahm auch das in England erfolgreiche "Leicester-System" von James Young Simpson. Es bestand aus drei verknüpften Prinzipien: Überwachung, Meldung, Isolierung. 90 Jahre später wurde diese Methode von der WHO übernommen und seit 1977 gilt die Krankheit als ausgerottet.

Allen Seuchen ist eines gemeinsam: Fast immer beginnt sie mit einer ungewöhnlichen Beobachtung und einer Häufung von Kranken mit seltsamen Symptomen. Ein Grundrauschen unter den Millionen, die jeden Tag überall auf der Welt krank werden. Keine Seuche hat die moderne Welt so stark verändert wie AIDS - sie hat bis heute 35 Millionen Menschen getötet.

Und ihnen ward Macht gegeben, zu töten das vierte Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger und mit dem Tod und durch die Tiere auf Erden.

Offenbarung, 6. 8

Literaturhinweise:

Richard J. Evans: "Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910"; Rowohlt Hamburg 1992

Mischa Meier: "Das andere Zeitalter Justinians: Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewaltigung im 6. Jahrhundert n. Chr."; Göttingen 2003

Laura Spinney: "1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte"; München 2018

Stefan Winkle: "Geißeln der Menschheit - Kulturgeschichte der Seuchen" Artemis & Winkler Verlag, Zürich 2005