Die Sozialdemokratisierung der Union

Ein Meisterstück an Irreführung

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Angela Merkel ist auf dem Feld der Öffentlichkeitsarbeit wahrlich eine große Strategin. Sie hat es, auch dank der Unterstützung wichtiger Publizisten, geschafft, höchst fragwürdige Botschaften über sich und ihre Politik zu platzieren. Ein erstes, großes Beispiel ist die Behauptung, die CDU/CSU und Merkels Politik seien "sozialdemokratisiert". (Das Wort meint natürlich nicht sozialdemokratisiert im Sinne der Schröderschen Agenda-Politik, sondern im ursprünglichen Sinne einer sozial engagierten und der Demokratie verpflichteten Bewegung.) Die verbreitete Botschaft von der Sozialdemokratisierung der Union glauben sehr viele Menschen, wahrscheinlich die Mehrheit.

Die strategische Bedeutung dieser Behauptung ist groß und wirkt auf zweierlei Weise: Zum einen wird damit das Wählerpotenzial der Union weit in den Bereich der ehedem sozialdemokratischen Wähler erweitert. Zum anderen wird mit dieser Parole die Koalitionsoption der Union in Richtung Schwarz-Grün erweitert. Wenn die Union und Frau Merkel sozialdemokratisiert sind, dann ist es auch für den Rest der verbliebenen linken Grünen kein Problem, mit der Union eine Koalition einzugehen.

Zu den wichtigsten Zeugen und Stützen der Behauptung gehört der große Kommentator der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl. "Die CDU hat seit 2005 ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik erfolgreich sozialdemokratisiert", schrieb er am 7. Oktober 2009. Cora Stephan fragt am gleichen Tag im Deutschlandfunk im Blick auf die damaligen Koalitionsverhandlungen zwischen FDP und CDU/CSU: "Rechtsruck?" und antwortet sich selbst: "Ach was. Angela Merkel hat die Wahl gewonnen, jene Frau, die es geschafft hat, die Christdemokratische Partei Deutschlands in eine aus tiefstem Herzen sozialdemokratische Kraft umzuformen."

Das war vor rund zehn Jahren und wurde immer wieder so erzählt. Die Agitation war so wirksam, dass auch der rechte Flügel der Union die These vom Linksruck der Union Angela Merkels glaubt und sich deshalb zum Widerstand in rechtskonservativen Zirkeln organisiert.

Im Juni 2019 hat sich der ehemalige Professor der Bundeswehrhochschule München, Michael Wolffsohn, in der Neuen Zürcher Zeitung geäußert. Aus seiner Sicht ist das ganze Land sozialdemokratisiert und die Mission der SPD erfüllt. Wörtlich: "Sozialdemokratisches ist längst nicht mehr das Monopol der Sozialdemokratie. Es ist Allgemeingut."

Wir leben in einer Zeit, die wesentlich von neoliberaler Ideologie und ebensolchen Taten geprägt ist, und das genaue Gegenteil wird unter die Leute gebracht. Das ist perfekte Meinungsmache und kein Zufall.

Schön zu beobachten ist, dass auch die eigentlich nicht zu glaubende Botschaft vom sozialdemokratischen Charakter der CDU und des ganzen Landes aus verschiedenen Ecken ausgesandt wird: vom linksliberalen Prantl und vom rechtskonservativen Professor Wolffsohn sowie von den rechtskonservativen neuen Zirkeln in der Union. Und sie wird sehr oft wiederholt und affirmativ vorgetragen. Was bleibt uns da anderes übrig, als die Botschaft zu glauben.

Dieser Text ist ein Auszug aus Albrecht Müllers neuem Buch "Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst", das diese Woche im Westend Verlag erscheint. Darin beschreibt Müller zahlreiche gängige Methoden der Manipulation sowie Fälle gelungener oder versuchter Meinungsmache und analysiert die dahintersteckenden Strategien.

Die These von der Sozialdemokratisierung Merkels und der Union lässt sich auf ein paar kleine fortschrittliche Reformen stützen. Angela Merkel hat zwar der "Ehe für alle" im Deutschen Bundestag nicht zugestimmt, aber sie hat die Abstimmung zur Gewissensfrage erklärt und damit laufen lassen. Das reichte schon zur progressiven Imagebildung. Merkels offene Arme für Flüchtlinge haben ein Weiteres dazugetan.

Aber von Sozialdemokratisierung kann nun wahrlich keine Rede sein: Angela Merkel hat die Rüstungspläne von Ursula von der Leyen immer gestützt. Sie hat sich im gesamten Konflikt zwischen West und Ost nie ernsthaft aus der Allianz mit den USA und der NATO hinausbewegt. Sie hat die Sanktionen gegen Russland widerspruchslos mitgemacht. Angela Merkel hat nichts getan, um die Altersvorsorge der Mehrheit der Menschen zu stützen. Sie hat Privatisierungen auch im sozialen Bereich unterstützt. Sie war nie für sozialdemokratisch geprägte Beschäftigungsprogramme und rühmte sich stattdessen der Schwarzen Null. Sie schmückt sich mit den Exportüberschüssen, ohne zu bedenken, was das für den Zusammenhalt Europas bedeutet.

Angela Merkel hat die ärgerlichen, wahrlich nicht fortschrittlichen Personalentscheidungen der letzten Zeit gedeckt und vermutlich mit eingefädelt: den Aufstieg von der Leyens zur Präsidentin der EU-Kommission, den Aufstieg von Kramp-Karrenbauer, dieser aus den 1950er Jahren übrig gebliebenen Kalten Kriegerin, zur Vorsitzenden der CDU und Bundesverteidigungsministerin.

Sich der Parole von der Sozialdemokratisierung zu widersetzen, ist ausgesprochen schwierig, weil sie in weiten Kreisen verankert ist. Und weil die SPD selbst in einem so desolaten Zustand ist, wurde von dort auch nicht widersprochen. Umso wichtiger ist es, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger diese groß angelegte Manipulation erkennen und ihr widersprechen.

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