Die Sperre von WWW.XS4ALL.NL

Sabine Helmers, Projektgruppe Kulturraum Internet, sprach mit Felipe Rodriquez über Internet-Traditionen, Toleranz, Zensur und die aktuelle Sperre von WWW.XS4ALL.NL durch deutsche Internet-Provider.

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1.10.1996
Sabine Helmers, Projektgruppe Kulturraum Internet

Felipe, die Aktionen von Bundesanwaltschaft und einigen deutschen Internet-Providern gegen im World Wide Web bereitgestellte Texte der Zeitschrift Radikal durch einen eurer Kunden und die daraufhin erfolgten Blockadeversuche eures WWW-Servers, haben den Namen eurer Providerfirma hierzulande recht bekannt gemacht. Vorher kannte man euch vor allem als Nährboden der digitalen Stadt Amsterdam. Ist der Name eurer Firma, Access-for-All, zugleich auch euer Motto?

Die Site xs4all wurde am 1. Mai 1993 eröffnet. Wir haben xs4all zu einer Zeit gegründet, als es in Holland noch keinen Internetzugang für Privatpersonen gab und nur Forschungseinrichtungen, Universitäten und Firmen im Internet waren. Uns war und ist sehr daran gelegen, Netzzugang für alle zu einem erschwinglichen Preis zu ermöglichen. Aus diesem Grund haben wir den Namen - Zugang für alle - gewählt.

Im Januar 1994 gründeten wir zusammen mit De Balie die Digitale Stadt Amsterdam. Xs4all stellte die Technik zur Verfügung und schuf das damalige erste Interface. Ende des Jahres 1994 konnte die Digitale Stadt dann auf eigenen technischen und finanziellen Füßen stehen, und wir haben uns zurückgezogen.

Bietet Xs4all also jedem Interessierten Zugang zum Internet oder gibt es irgendwelche Auswahlkriterien bei euch?

Wir haben keinerlei Auswahlprozesse. Als wir unsere Pforten öffneten, haben wir aber zu unserem Glück all die Tech-Wizards für uns gewinnen können, und später sehr viele Künstler, Schriftsteller, Journalisten und andere kulturell engagierte Personen. Wir unterstützen eine Menge Kunstprojekte, indem wir Infrastruktur zur Verfügung stellen.

Du bist Manager von Xs4all. Sind deiner Ansicht nach die Provider verantwortlich für das, was ihre Kunden im Netz treiben und publizieren?

Die Urheber sind verantwortlich für ihr Tun, während die Provider nur eine Mittlerfunktion haben, indem sie die Infrastruktur liefern. Wenn ein Kunde Kriminelles begeht, beispielsweise Kinderpornographie veröffentlicht, dann macht sich der Kunde strafbar. Der Provider trägt eine gewisse Mitverantwortung für seine Kunden, und er fungiert als Wegweiser zu deren realweltlicher Identität, die hinter einem Account-Namen steht. Im Handlungsfalle benötigt die Polizei diese Personenangaben. Wenn ein Provider in solch einem Fall seiner Pflicht zur Offenlegung der Kundennamen nicht nachkäme oder nachkommen könnte, dann würde die Verantwortlichkeit vom Urheber auf den Provider übergehen. Überhaupt nicht verantwortlich hingegen ist ein Provider für Informationen, die von irgendwo in der Welt in das Internet gestellt werden. Um das Beispiel Kinderpornographie hier wieder aufzugreifen: Wenn irgendwo irgendwer solche illegalen Inhalte in das Netz gibt, kann ein Provider vor Ort nichts dagegen unternehmen - weder die Publikation verhindern, noch seinen Kunden das Abrufen solcher Publikation unmöglich machen. Für diese außerhalb der Reichweite liegenden Dinge kann ein Provider nicht haften.

Habt ihr jemals einen eurer Kunden aufgefordert, über eure Site in das Internet gebrachte Inhalte zu entfernen?

Ja, das ist bereits einige Male vorgekommen. Im Falle von WWW-Seiten betrifft es meist Verletzungen des Copyright. Unsere Politik bei solchen Copyrightproblemen besteht darin, daß wir Kontakt zwischen unserem Kunden und dem Inhaber des Copyrights herstellen, so daß sie ihr Problem miteinander lösen, möglicherweise auch vor Gericht. Als Provider haben wir kein Interesse daran, uns zwischen die Beteiligten zu stellen. Wenn unser Kunde allerdings das Gespräch mit dem Copyright-Inhaber verweigert, dann schließen wir die Webseiten des Kunden. Wie gesagt, wir haben keinerlei Interesse, im Zentrum eines Konflikts zwischen einem unserer Kunden mit Dritten zu stehen.
Ein Copyright-Inhaber muß seine Rechte und den Verstoß hiergegen gegenüber dem Provider glaubhaft darlegen können, bevor dieser in Aktion tritt. Die Scientology Kirche hat Xs4all verfolgt und verklagt, weil wir uns weigerten einige Seiten von unserem WWW-Server zu nehmen, denn sie konnten nicht beweisen, daß sie im Recht sind. Es ging um zehn WWW-Dokumente. In einem Gerichtsverfahren haben sie für zwei der zehn von ihnen beanspruchten Dokumente ihre Rechte daran belegen können, woraufhin etwa einhundert WWW-Autoren Zusammenfassungen der von der Scientology Kirche beanspruchten Dokumente völlig legal publizierten. Am Ende haben wir diesen Fall vor Gericht gewonnen, weil wir keine Urheberrechte verletzt hatten.

Der Streit mit der Scientology Kirche hat für mich bestätigt, daß Provider sich zuerst über die Berechtigung von Ansprüchen Gewißheit verschaffen, bevor sie gegen ihre Kunden in Aktion treten.
Dasselbe gilt jetzt für die Radikalseiten, die über Xs4all im Netz sind. Wir haben keinerlei rechtliche Grundlage, unseren Kunden die Veröffentlichung zu untersagen. Falls die Publikation der Radikal gegen holländische Gesetze verstoßen würde, dann hätten es uns die zuständigen Stellen in Holland bereits mitgeteilt. Man kann die Zeitschrift hier in Buchhandlungen kaufen. Unseres Wissens nach sind die Texte in Holland nicht verboten, und deshalb gibt es für uns keinen Grund, gegen die Veröffentlichung durch unseren Kunden vorzugehen. Unser Kunde, die Solidaritätsgruppe für politische Gefangene, hat infolge der Blockadeaktion die Radikalseiten vorübergehend aus dem WWW genommen, um die deutsche Bundesanwaltschaft und den deutschen Verein Internet Content Task Force zu veranlassen, die Sperre von www.xs4all.nl zu beenden. Danach haben sie die Seiten wieder in das Netz gestellt. Es ist nicht die Angelegenheit von Xs4all als Provider zu bestimmen, was die Leute im Netz veröffentlichen sollen oder nicht. Wenn sich Leute an Netzinhalten bei einem unserer Kunden stören, dann müssen sie auf Grundlage der holländischen Gesetze dagegen vorgehen.

Es gab auch einen Fall von Kinderpornographie durch Kunden von Xs4all. Sie wurden angezeigt, und die Behörden haben uns um Unterstützung gebeten, was wir bei diesen zweifellos illegalen Netzaktivitäten natürlich getan haben.

Neulich hast du geschrieben, der alte Slogan "Information wants to be free", den Bruce Sterling in seinem Buch über Hacker propagiert, sei Unfug, denn Informationen hätten keinen Willen. Wohl aber die Netzbürger, die Netizen, von denen viele Informationsfreiheit wollen, weshalb es an ihnen ist, die Informationen zu befreien. Siehst du dich selbst eigentlich als Netizen?

Persönlich denke ich, daß politische Diskussionen im Netz eine wichtige Sache sind. Alle sollten die Möglichkeit haben, ihren Staat zu kritisieren, wenn sie Anlaß dazu sehen. Einige Regierungen können Kritik so wenig leiden, daß sie Kritiker verfolgen, einsperren und foltern. Ich setze mich dafür ein, Informationen, die vielleicht in China oder Saudi Arabien illegal sind, zu befreien, das heißt ins Netz zu bringen. Kinderpornographie sollte meiner Meinung nach nicht im Netz erhältlich sein. Sie ist es, weil einige Leute das irgendwo hineingeben. Solange nicht in allen Staaten die Rechtslage einheitlich Kinderpornographie verbietet, ist das Verbreiten solcher Inhalte leider kaum zu verhindern.
Der Kern meiner Bemerkung über die Netizens und die Befreiung von Informationen bezieht sich jedoch weniger auf meine persönliche Perspektive als Netizen, sondern auf die Struktur des Netzes, die lokale Zensurbestrebungen durch eine Person, eine Organisation oder einen Staat unmöglich macht. Gesetze gelten innerhalb bestimmter Territorien. Das Internet entstand als globales Netz ohne Kontrollzentren, das feindlichen Angriffen widerstehen sollte. Heutzutage bedeutet das Fließen der Informationen ohne im Internet wirkende Kontrollzentren, daß der Datenstrom Staatsgrenzen ungehindert von herkömmlichen Kontrollzentren der Gesellschaften durchfließt. Dies ist keine Meinung, sondern eine Feststellung.

Einige Menschen meinen, daß die "gute alte Zeit" des Internet Vergangenheit sei und daß Traditionen wie die Informationsfreiheit und Selbstregulierung in einem Massenmedium Internet nicht mehr bestehen bleiben können. Wie denkst du hierüber?

Internetzensur war bisher noch nie von Erfolg gekrönt. Die von dir genannten alten Internettraditionen waren und sind bis heute gültig, weil nichts anderes machbar wäre. Die im Netz existierende Freiheit der Rede besteht nicht als Wahlmöglichkeit, sondern als Tatsache, die durch die Technologie des Internet gestützt wird.

Du hast in Holland eine Hotline eingerichtet für Probleme, die durch Inhalte im Netz entstehen. Wie funktioniert die Hotline?

Um das Problem mit der Kinderpornographie im Netz in Holland anzugehen, habe ich diese Hotline als Koalition von Providern, Internetnutzern und Regierungseinrichtungen gegründet. Eröffnet wurde die Hotline von der Justizministerin. Es handelt sich um ein simples Warn- und Berichtsystem, wo Leute Fälle von Kinderpornographie bekanntgeben. Wenn die Urheber Holländer sind, dann erhalten sie von uns einen Brief mit Informationen zur Strafbarkeit ihres Handelns und die Aufforderung, die Inhalte zu entfernen. Sollten sie dies dann nicht tun, geben wir den Fall weiter an die zuständige Polizeistelle. Die Hotline kann zur Bekämpfung international geächteter Kinderpornographie funktionieren, und ähnliche Hotlines werden jetzt auch in anderen Ländern eingerichtet. In Zukunft wird man sehen, ob solche Hotlines wirklich erfolgreich sein können oder nicht.

Das Vorgehen der Bundesanwaltschaft und einiger deutscher Provider gegen jenseits ihrer Staatsgrenzen völlig legale Netzinhalte wird sicher ohne Erfolg bleiben. Letztendlich werden sie die Publikation der Radikal im Internet hinnehmen müssen, denn es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben. Wenn sich die deutsche Regierung zu Eingriffsversuchen wie in Singapur, wo der Netzzugang und alle Netzveröffentlichungen strikter staatlicher Kontrolle unterstehen, entschließen sollte, dann hätte ich auch als Bürger von Singapur durch die Struktur des Netzes Zugang zu allen Internetinformationen. Eine solcherart vorgehende Regierung könnte sich bestenfalls an der Illusion von Kontrolle erfreuen, aber tatsächlich ist Kontrolle nicht möglich. Es gibt weltweit viele Sites, viele Einwählpunkte, anonyme Remailer, WWW Proxies und andere Techniken, die Kontrollversuchen entgegenstehen.

Welche Bedeutung hat deiner Ansicht nach die Elektronic Frontier Foundation? Und was kann der Global Action Alert gegen die Xs4all-Blockade bewirken?

Jedes Land sollte eine eigene Electronic Frontier Foundation haben, eigene Gruppen von kritischen Individuen. Die EFF und andere Gruppen leisten gute Arbeit, indem sie die Welt informieren und gegen unkluge Gesetzesinitiativen wie beispielsweise den Communications Decency Act vorgehen. Der Global Action Alert wird dazu beitragen, die öffentliche Aufmerksamkeit für die Probleme, die wir infolge der Aktionen durch Bundesanwaltschaft und Provider haben, zu verstärken. Hoffentlich versteht man bei den Urhebern, daß diese Aktionen weder unbemerkt von der internationalen Öffentlichkeit bleiben, noch zum gewünschten Ziel führen. Inzwischen steht die Radikal auf vielen Mirror Sites im Netz zur Verfügung, während zuvor die meisten Netizens wohl noch nie von Radikal gehört hatten.

Zu den Internettraditionen gehören ebenfalls die lokale Problemlösung und der Glaube, daß sich für alle Arten von Problemen, einschließlich der sozialen und politischen Problemen, eine technische Lösung finden wird. Was hältst du von Initiativen wie beispielsweise spezielle Webbrowser, die es Eltern ermöglichen, ihre Kinder per Software von nicht kindgemäßen WWW-Inhalten fernzuhalten?

Nicht die Regierungen, sondern die Menschen sollen selbst entscheiden können, was sie im Netz anschauen wollen und was nicht. Und es ist gut, wenn Software zur Verfügung steht, die Eltern und Kinder vor Ungutem schützen hilft. Ich habe großes Zutrauen in die individuelle und kollektive Kreativität und Energie der Internetnutzer bei der Lösung von Problemen. Und eine Menge Leute im Netz sehen in Problemen Herausforderungen, die es zu meistern gilt.

Gibt es noch etwas, was du den Leserinnen und Lesern in Deutschland mitteilen möchtest?

Kommunikation in einem so immensen Ausmaß ist nur möglich durch Toleranz, durch Akzeptieren im globalen Rahmen. Akzeptieren, daß es andere Kulturen, andere Glaubensrichtungen und andere Moralvorstellungen in der Welt gibt. Toleranz gegenüber anderen ist die Basis für den Anspruch darauf, selbst toleriert zu werden. Es gibt im Netz Dinge, wie zum Beispiel Kinderpornographie, da sind wir wahrscheinlich einer Meinung, bei anderen Inhalten werden die Meinungen geteilt sein, aber wir werden im Netz das Vorhandensein aller denkbaren Inhalte akzeptieren müssen und zur Toleranz gezwungen sein, denn etwas anderes ist nicht möglich.