Die Theorie zur Euphorie
Manuel Castells knüpft sich ein grobmaschiges Thesennetzwerk
Den Kultstatus hat er wohl schon erreicht. Die einen nennen ihn "Guru der Gurus", andere "den ersten großen Philosophen des Cyberspace" oder den "Voltaire des Informationszeitalters". "Das Informationszeitalter", so lautet auch jenes dreibändige Monumentalwerk von Manuel Castells, mit dem der amerikanische Soziologe spanischer Herkunft sich seinen Ruf erschrieben hat. 1996 in den USA veröffentlicht, erscheint es nun in einer überarbeiteten Version auch in Deutsch. Band 1, "Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft" liegt vor, die anderen zwei Bände "Die Macht der Identität" und "Jahrtausendwende" sollen im Laufe dieses Jahres erscheinen.
Sechs Jahre dürften für eine soziologische Großtheorie kein Alter sein. Doch für "Informationszeitalter", Manuel Castells Anmerkungen zu neuesten gesellschaftlichen Entwicklungen, war das eine entscheidende Zeit: Die Euphorie an der Börse mündete in den bösen Internet-Kater, Kapital wurde in erheblichem Maße vernichtet, die Weltökonomie ist in die Rezension geschlittert. Statt irgendwelcher Wunderfirmen steht ein alter Bekannter im neuen Gewand auf der politischen Tagesordnung, der Terrorismus. Entwicklungen, die Castells Thesen in ein neues Licht rücken, und dabei, so möchte man meinen, den Alterungsprozess der Theorie erheblich beschleunigt haben.
Castells Grundthese ist simpel: "Unsere Gesellschaften sind immer mehr um den bipolaren Gegensatz zwischen dem Netz und dem Ich strukturiert". Dieser Gegensatz wird stets größer, denn laut Castells beobachten wir "die zunehmende Distanz zwischen Globalisierung und Identität, zwischen dem Netz und dem Ich". Woran liegt es? Wohl daran, dass unsere Gesellschaft sich zu einer "Netzwerkgesellschaft" umwandelt. So sind "herrschende Funktionen und Prozesse im Informationszeitalter zunehmend in Netzwerken organisiert. Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaft, und die Verbreitung der Vernetzungslogik verändert die Funktionsweise und die Ergebnisse von Prozessen der Produktion, Erfahrung, Macht und Kultur wesentlich."
Es ist vor allem die Sicht auf neue Technologien, die Castells "Netzwerk"-Begriff geprägt hat, eine Sichtweise mit erheblichen Defiziten. Denn wer "Cisco" und das Silicon Valley als Paradigmen einer netzwerkartig strukturierten Wirtschaft nimmt, ist auch bald bei der Ankunft eines neuen Wirtschaftszeitalters, von dem Ende der 90er Jahre so gerne geredet wurde:
"Unter den Bedingungen hoher Produktivität, technologischer Innovation, von Vernetzung und Globalisierung scheint die neue Wirtschaftsform in der Lage, eine anhaltende Periode hohen Wirtschaftswachstums, geringer Inflation und niedriger Arbeitslosigkeit in den Volkswirtschaften einzuleiten, die in der Lage sind, sich vollständig in diese neue Entwicklungsweise zu transformieren."
Diese Beglückung verdanken wir der "informationellen Revolution", der Castells so gerne das Wort redet. Doch dieser Begriff offenbart in erster Linie ein Manko von Castells' Theoriegebäude, denn es fehlt ihm über weite Strecken an einer historischen Dimension. Weder klopft der Soziologe seinen Begriff des "Netzwerkes" auf mögliche frühere Existenzformen ab, um dann zum tatsächlich Neuen an der Entwicklung zu kommen, noch kann er von der "Revolution" abstrahieren. Stattdessen bearbeitet er das Feld der Weissagungen, mit fragwürdigem, weil sehr vagem Ergebnis. Da Castells gerne mit Analogien aus der Technik arbeitet, die ihm häufig zu schiefen Bildern gerinnen ("Das Einrichten von Passwörtern für die Zirkulation und Verbreitung von Nachrichten innerhalb des gesamten Systems sind für die neue Gesellschaft kulturelle Entscheidungsschlachten"), leidet die sprachliche Qualität seines Werkes. Der Mangel an Lektorat in der deutschen Fassung trägt diesbezüglich einiges bei.
Dass Castells sich gerne mit Weber vergleicht (statt dessen "Geist des Kapitalismus" nun der "Geist des Informationalismus"), zeigt an, in welcher Liga der Amerikaner gerne theoretisieren möchte. Doch die Parallele zu Weber ist gefährlich. Zwar gibt es in seiner "Netzwerkgesellschaft" zahlreiche interessante Passagen und Ansätze, und sein Begriff des "Netzwerkes" wäre, richtig angewandt, wohl gewinnbringend. Aber selbst aus Castells eigenem Blickwinkel fehlt es seiner Gesellschaftsanalyse an wichtigen Elementen. Die Wirtschaftsanalyse bezieht sich weitgehend allein auf die sogenannte "New Economy", bei der Finanzmarktanalyse bleibt es bei einer rein technischen Betrachtung und über Politik ist selten etwas zu lesen. Dafür fabuliert Castells gerne über ein neues Verhältnis von Raum und Zeit.
Damit sind wir dann endgültig auf quasireligiöser Ebene angekommen. Dass das neue Zeitalter mehr mit Glauben als mit Wissen zu tun hat, wussten wir zwar auch schon früher. Dass alles am Ende dann doch gut wird, freut uns dennoch stets zu lesen:
"Und in der Tat glaube ich trotz einer langen Tradition zuweilen tragischer intellektueller Irrtümer, dass Beobachten, Analysieren und Theoretisieren einen Weg bieten, eine andere, bessere Welt zu schaffen."
Amen.
Manuel Castells: Das Informationszeitalter Wirtschaft. Gesellschaft. Kultur. Bd. 1: Die Netzwerkgesellschaft. Leske + Budrich Verlag (2001). 632 Seiten. Geb. 34,90 EUR. ISBN 3-8100-3223-9