Die UNO braucht eine parlamentarische Kammer
Die Vereinten Nationen sind von Sexskandalen, Korruption und Manipulation aus den Hauptstädten gebeutelt. Ein parlamentarisches Kontrollorgan könnte der internen Untersuchungsbehörde Dampf machen und ihr Rückendeckung geben
Die Vereinten Nationen tragen die Hauptverantwortung für die Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit. In den Friedenseinsätzen unter dem Dach der Weltorganisation manifestiert sich diese Rolle am deutlichsten. Gegenwärtig sind es zwanzig, die von der UN-Abteilung für Friedensoperationen koordiniert und geleitet werden. Rund 110.000 Soldaten und Zivilkräfte sind dabei im Einsatz, die meisten von ihnen in Afrika.
Die internationale Gemeinschaft entsendet Blauhelme als einen der letzten Versuche, um Konfliktregionen zu befrieden und Menschen vor Gewalt zu schützen. Für die notleidenden Einheimischen sind die UN-Angehörigen ein Zeichen der Hoffnung, ein Zeichen der Weltgemeinschaft, dass ihr Schicksal nicht vergessen wurde. Kinder und Jugendliche in akuten Konfliktregionen sind wohl die schwächsten und bedrohtesten Mitglieder der Weltgemeinschaft. Es sind gerade diese Menschen, denen eine lebenswertere Zukunft ermöglicht werden soll.
Umso unerträglicher ist es, dass sie weiterhin zum Opfer sexueller Ausbeutung und Gewalt durch Angehörige von UN-Friedenstruppen werden – derjenigen Menschen, die zu ihrem Besten da sein sollten. Seit 2001 werden in regelmäßiger Folge Vorfälle bekannt. Allein 2005 wurden 137 Militärangehörige, 16 Polizeikräfte und 17 zivile Mitarbeiter wegen sexueller Vergehen vom Dienst suspendiert oder nach Hause geschickt. Eine umfassende Strategie mit einem einheitlichen Verhaltenskodex wurde erarbeitet, Präventionsmaßnahmen eingeführt, Informations- und Aufklärungskampagnen aufgestellt und unter anderem der Posten eines Sonderberaters des UN-Generalsekretärs geschaffen.
Das alles ist sehr zu begrüßen. Aber das Problem existiert weiter. Eine in diesen Tagen veröffentlichte Studie der Kinderschutzorganisation "Save the Children" zur Situation in Haiti, der Elfenbeinküste und dem Südsudan kommt zu dem Schluss, dass das Ausmaß der Vorfälle "signifikant" ist. Nur in den seltensten Fällen würden Übergriffe überhaupt angezeigt. Die bisherigen Bemühungen zur Eindämmung sexueller Gewalt durch Angehörige der UN und anderer internationaler Organisationen seien inadäquat. Die Organisation empfiehlt unter anderem die Einrichtung eines neuen spezialisierten Aufsichtsgremiums unter dem Dach des Exekutivkomitees des UN-Generalsekretärs zu humanitären Angelegenheiten (ECHA).
Die Studie zu den Missständen bei den Friedenstruppen kommt zu einer Zeit, in der die Investigationseinheit der internen UN-Aufsichtsbehörde OIOS ohnehin unter starkem Druck ist. Vor wenigen Wochen sind zwei vertrauliche Untersuchungen vom Juni 2007 bekannt geworden, die der Einheit eine miserable Führungskultur und obsessive Geheimniskrämerei bescheinigen. Die Washington Post berichtet, dass einer der Autoren sie als derart "dysfunktional" einschätzt, dass sie seiner Empfehlung nach vollständig geschlossen und ersetzt werden sollte. Die Mitarbeiter der Einheit seien nicht befugt, Untersuchungen auf eigene Initiative einzuleiten und zu führen. Alle wichtigen Fallentscheidungen seien vom Top-Management zu treffen. Die Atmosphäre in der Behörde sei "giftig", intransparent und von Angst und Unsicherheit geprägt.
Eine in der vergangenen Woche erneut hochgekochte Episode scheint diesen Befund zu bestätigen. Ein ehemaliger Mitarbeiter der Investigationseinheit der OIOS hat nun Vorwürfe bestätigt, dass die Behörde einen Bericht über die Frage manipuliert habe, ob pakistanische UN-Blauhelme im Kongo in Goldschmuggel und illegale Waffengeschäfte verwickelt waren. Als sein mit der Sache befasstes Untersuchungsteam sich gegen Einflussnahmen auf das Untersuchungsergebnis zur Wehr gesetzt habe, sei es von dem Fall abgezogen worden. Die Behörde habe dann einen "schöngefärbten" Abschlussbericht verfasst.
Seit Dezember 2005 hatte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch auf die Verwicklung von indischen und pakistanischen UN-Angehörigen in illegale Geschäfte hingewiesen und den OIOS-Bericht als unzureichend kritisiert. Auch die BBC berichtete wiederholt von eigenen Ermittlungsergebnissen, die allerdings von den UN als "Hörensagen" und "irreführend" abgetan wurden.
Während das OIOS die Manipulationsvorwürfe gegenüber Reuters kategorisch abstreitet, räumte eine anonyme Quelle der Nachrichtenagentur ein, dass die UN alles getan hätte, um die Sache abzustellen. Allerdings könne die UN wenig tun, um Staaten zum Handeln zu zwingen, wenn diese nicht daran interessiert seien, das Verhalten ihrer Truppenkontingente zu verbessern. Angesichts der Tatsache, dass Indien und Pakistan die größten Truppensteller für UN-Friedenseinsätze sind, ist dies ein konkretes Indiz dafür, dass die UN-Bürokratie massiven Einfluss- und womöglich Erpressungsversuchen aus den nationalen Hauptstädten ausgesetzt ist.
Wie unabdingbar eine starke und unabhängige Untersuchungseinheit allerdings ist, zeigt sich daran, dass das OIOS trotz aller Schwierigkeiten Anfang Januar 2008 bei einer Pressekonferenz erklärte, derzeit mit rund 250 Fällen von Korruption, finanziellen Unregelmäßigkeiten und sexuellen Missbrauchs befasst zu sein. Allein die im Zuge des Öl-für-Nahrung-Skandals im Januar 2006 eingerichtete Sondereinheit für das Beschaffungswesen, die in einem geheimen Büro in Manhattan untergebracht und mittlerweile mit rund 20 Mitarbeitern ausgestattet ist, hatte bis Januar 2008 rund 132 Fälle abgeschlossen. In der Folge wurden unter anderem 12 nationale Ermittlungsverfahren gegen UN-Mitarbeiter ausgelöst, 27 Personalangehörige einem internen Verfahren unterzogen, fünf entlassen, 10 beurlaubt und 32 Unternehmen von Geschäften mit der UN ausgeschlossen. Insgesamt, so die OIOS-Chefin Inga-Britt Ahlenius, seien bei Verträgen im Umfang von rund 600 Millionen US-Dollar betrügerische Unregelmäßigkeiten aufgedeckt worden.
Mit der Pressekonferenz scheint die OIOS die Flucht nach vorne angetreten zu haben. Nur kurz davor, im Dezember 2007, hatte Singapur mit Unterstützung der Gruppe G77, einem Zusammenschluss der Entwicklungsländer in der UNO, im Haushaltsausschuss der UN-Generalversammlung Stimmung gegen die Sondereinheit gemacht und eine Untersuchung ihrer "unfairen" Methoden gefordert. Eine der unter der Hand vorgebrachten Beschwerden ist die, dass die von US-Bediensteten dominierte Einheit sich angeblich unverhältnismäßig auf Mitarbeiter aus dem Süden eingeschossen habe, um diese zu unterminieren. Nach einem Resolutionsentwurf Singapurs, der bei der Sitzung schließlich nicht verabschiedet wurde, hätte die Sondereinheit ihre Tätigkeit innerhalb von sechs Monaten einstellen sollen. Die internen Streitigkeiten um das UN-Aufsichtswesen wurden im Februar von der US-Regierung weiter angefacht, als diese vertrauliche Untersuchungsakten der UN eigenmächtig öffentlich zugänglich machte.
Die UN-Verwaltung ist dem Einfluss der Regierungen ausgeliefert
Neben den schon erwähnten Friedensoperationen umfasst das UN-System heute 17 Sonderagenturen und zugehörige Organisationen, 14 Fonds und Programme, 17 Abteilungen im UN-Sekretariat, 5 Regionalkommissionen, 5 Forschungs- und Schulungsinstitute sowie eine unübersehbare Fülle von Strukturen auf Regional- und Landesebene. Besonders angesichts der wachsenden Rolle der UN in einer Vielzahl von Politikbereichen sind die Mängel, Querelen und Manipulationen im internen Aufsichts- und Untersuchungswesen besorgniserregend. Sie bedrohen die Glaubwürdigkeit und Effektivität der Weltorganisation.
Das wesentliche Problem ist, dass die UN-Bürokratie einschließlich der OIOS den politischen Einflussnahmen der Mitgliedsstaaten direkt ausgeliefert ist. Selbst wenn es gegen die UN-Standards verstößt und der Ethik des internationalen Bediensteten widerspricht, sind manche UN-Bedienstete und -Funktionäre quasi als Handlanger ihres Herkunftslandes tätig. Auf subtile oder weniger subtile Weise bringen sie in der Bürokratie die Interessen ihrer Regierung zur Geltung. Es sind aber just die Regierungen allein, die in den UN-Gremien als Mitglieder nicht nur politisch das Sagen haben, sondern auch für die Kontrolle der oftmals von ihnen selbst manipulierten Bürokratie sorgen sollen. Kontrollierte und Kontrollierende sind somit oft identisch. Die Schwächsten der Schwachen sind unter den Leidtragenden dieses in der Tat dysfunktionalen Systems.
Durch Missbrauch des Öl-für-Nahrungsmittel-Programms hatte das Regime von Saddam Hussein nach Feststellung der vom damaligen UN-Generalsekretär eingesetzten "Volcker-Kommission" rund 3,7 Milliarden US-Dollar eingenommen - und damit die UN-Sanktionen unterlaufen - und zwar bezeichnenderweise teilweise direkt unter den Augen des UN-Sicherheitsrates und der in ihm vertretenen Regierungen. Um Licht in den Öl-für-Nahrung-Skandal zu bringen, hat der Senat der Vereinigten Staaten eine Untersuchung eingeleitet und eine Reihe von Anhörungen durchgeführt. Vor allem französische, russische und britische Politiker gerieten dabei ins Fadenkreuz der parlamentarischen Ermittlungen. Welchen Beitrag hat der Deutsche Bundestag dazu geleistet, um den Skandal aufzuklären, wo die Bundesrepublik Deutschland immerhin der drittgrößte Beitragszahler der Vereinten Nationen ist? Und andere nationale Parlamente?
Da die meisten nationalen Parlamente weitgehend ausfallen, wenn es um die Kontrolle des Regierungshandelns in internationalen Organisationen und um das Handeln von deren Bürokratien selbst geht, kann diese Lücke nur durch die Etablierung eines parlamentarischen Kontrollorgans bei den Vereinten Nationen selbst geschlossen werden. Die Abgeordneten einer Parlamentarischen Versammlung bei den Vereinten Nationen (United Nations Parliamentary Assembly, UNPA) wären keiner Weisungsbefugnis ausgesetzt, sondern als Parlamentarier ihrem Gewissen unterworfen. Eine UNPA würde die UN-Gremien somit erstmals für andere Akteure als die Regierungsexekutiven öffnen (Ein demokratisches Parlament auf Weltebene ist notwendig).
Die UNPA wäre ihrem Selbstverständnis nach dazu aufgerufen, die Bürger der Welt in ihrer Gesamtheit zu vertreten. Ihre Abgeordneten wären frei darin und legitimiert, eine globale Sichtweise zu vertreten und nicht zwingend nationale Interessen. Vor allem hätten in der Versammlung auch Oppositionelle eine Stimme. Diese sind sehr daran interessiert, die Schwachstellen der nationalen Regierungspolitik in der UNO aufzudecken und dafür ein geeignetes internationales Forum zu haben, in dem sie sich mit Kollegen aus anderen Ländern alliieren können.
Die Einrichtung einer UNPA wurde in den letzten Jahren unter anderem vom Europäischen Parlament, vom Pan-Afrikanischen Parlament, vom Schweizer Nationalrat, der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, der Liberalen Internationale, der Sozialistischen Internationale und vom Weltverband der nationalen UN-Gesellschaften gefordert. Anfang des Monats wurde die Forderung vom Weltkongress der Grünen in Sao Paulo aufgegriffen. Über 500 Abgeordnete und Hunderte von Prominenten aus aller Welt haben sich einer Kampagne angeschlossen, die vor einem Jahr gestartet wurde (Die Demokratie globalisieren).
Auch wenn es die einen oder anderen informellen Gespräche mit der Kampagne gibt, bevorzugen es die meisten Regierungen allerdings weiterhin, den Vorschlag zu ignorieren oder sich bedeckt zu halten. Das deutsche Außenministerium ist noch nicht einmal an einem Gedankenaustausch interessiert. Allein die Schweizer Regierung hat sich jetzt etwas hervorgewagt, indem sie in der vergangenen Woche in einem Bericht über die Beziehungen der Schweiz zur UNO Sympathie für den Vorschlag bekundet hat.
Die Zurückhaltung der anderen ist kein Wunder. Schließlich wäre es eine der Aufgaben einer UNPA, durch internationale parlamentarische Untersuchungsausschüsse Missständen und Vorwürfen nachzugehen, die sich gegen UN-Mitarbeiter und die UN im allgemeinen richten. Ein UNPA-Untersuchungsausschuss würde Öffentlichkeit herstellen, die unter Umständen so gar nicht gewünscht ist, und wäre in der Lage, der internen Investigationseinheit Dampf zu machen, wenn bestimmte Ermittlungen im Sand verlaufen. Für manche Regierung und ihre "U-Boote" in der UN-Bürokratie könnte das unangenehm werden. Andererseits wäre eine UNPA vielleicht auch in der Lage, allzu politisch motivierte Vorwürfe glaubhaft zu entkräften. Für die Demokratie, den Steuerzahler und die UNO wäre es ein wichtiger Schritt nach vorne.
Andreas Bummel ist Leiter der internationalen Kampagne für eine Parlamentarische Versammlung bei den Vereinten Nationen.