Die UNO und das Ringen um das Internet
Seite 2: Wer sind die "Multi-Anteilseigner" eines möglichen künftigen Internets?
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In einem Artikel darüber, ob das "Multi-Anteilseigner-Prinzip" ein Mittel zur Demokratisierung von Internet-Entscheidungsprozessen sein könnte, erklärte der kanadische Internet-Aktivist Michael Gurstein, warum dies keine demokratische Form der Regierungsführung ist. Es sei ein Modell, schrieb Gurstein, "in welchem Kontrollgewalt von und für diejenigen wirkt, die 'Anteilseigner' an den Steuerungsentscheidungen sind".
Dadurch würde das Fundament der Herrschaft von einer auf der Gesamtbevölkerung, oder (zumindest indirekt) auf Staatsbürgerschaft oder demokratischer Mitwirkung basierenden Struktur, hin zu dem der Lenkung durch Anteilseigner verschoben. Das heißt, das "Multi-Anteilseigner-Prinzip" befähigt solche Akteure mit einem eng-gefassten Partikularinteresse und nicht diejenigen, die zur demokratischen Auslotung des öffentlichen Interesses befähigt sind.
Eine andere Internetpionierin, Hu Qiheng aus China, erklärt, dass das öffentliche Interesse an der Internetentwicklung geschützt werden müsse. Sie schreibt (Seite 1):
Das Internet ist eine glänzende Errungenschaft der menschlichen Zivilisation im 20. Jahrhundert. Und Regierungen müssen die wesentliche Rolle bei der Internetverwaltung spielen ... ein günstiges Umfeld schaffen, welches das Internet-Wachstum fördert und gleichzeitig das öffentliche Interesse schützt.
Aus der Roadmap des Generalsekretärs wurde jedoch das Prinzip des Multilateralismus gestrichen. Dieses war jedoch die Form der Internetverwaltung, die von den Entwicklungsländern – durch die G77 plus China vertreten – in den Diskussionen im Jahr 2015 bei den Vereinten Nationen präferiert wurde. Zu diesem Zeitpunkt wurden gerade die Fortschritte in den vergangenen zehn Jahren seit dem Weltgipfel 2005 auf dem Weg zu einer Informationsgesellschaft untersucht.
In der Erklärung des Vorsitzenden der Gruppe der 77 vom Dezember 2015 heißt es: "Es ist wichtig, eine einheitliche, gleichberechtigte, offene, transparente, faire und ausgewogene Plattform zu schaffen, auf der alle Regierungen mit gleicher Stimme anerkannt werden."
Mit der Roadmap wird, anstatt die unterschiedlichen Perspektiven zu erklären, die lange Kontroverse zwischen Multilateralismus und "Multi-Anteilseigner-Prinzip" aus den historischen Aufzeichnungen ausgelassen. Die Roadmap gaukelt vor, alle UN-Mitglieder seien sich einig darüber, dass in erster Linie die sogenannten "Multi-Anteilseigner" ein Mitspracherecht bei der zukünftigen Entwicklung des Internets haben sollten.
Trotz vieler Kritikpunkte an einer Internetverwaltung mit Partikularinteressen, ernannte der UN-Generalsekretär im Juli 2018 Melinda Gates und Jack Ma zu Co-Vorsitzenden eines angeblich hochrangigen Gremiums, "um Modelle zu prüfen (...), die die Debatte um Regierungsführung im digitalen Bereich vorantreiben".
Anstatt die öffentliche Debatte voranzutreiben, indem sie die Stärken und Schwächen früherer Diskussionen bei den Vereinten Nationen über verschiedene Modelle der Internet-Verwaltung zusammenfasst hätten, erstellten sie ein vages Dokument, in welchem die Präferenz für einen "Multi-Anteilseigner-Systemansatz" gesetzt wurde, der (...) "geeignet sei für den schnellen Wandel im digitalen Zeitalter." Das geht aus der "Executive Summary, Report of the UN Secretary General’s High-level Panel on Digital Cooperation Recommendation 5B hervor.
In ähnlicher Weise wurde bei den Vereinten Nationen ein Dokument mit der Bezeichnung "Empfehlung 5A/B: Optionen für die Zukunft der globalen digitalen Zusammenarbeit" ("Recommendation 5A/B: Options for the Future of Global Digital Cooperation") veröffentlicht, das die Schaffung einer Führungsgruppe fordert, "die eine Vertretung mehrerer Interessengruppen vorsieht (einschließlich Wirtschaftsführern und Wissenschaftlern), die den Entscheidungsträgern Ergebnisse aus ihrer Führungsgruppe entgegenbringen würde" (Options Report, p. 12).
Dieser Optionsbericht fordert auch die Verbesserung der Ausgestaltung des "Internet Governance Forums" (IGF), um die Unternehmensidentität ("corporate identity") unter der Aufsicht des IGF-Sekretariats zu stärken. Das IGF wurde 2005 am Ende des WSIS in Tunis als Diskussions- und Beratungsgremium gegründet. Im Optionsbericht wird vorgeschlagen, dem IGF eine Führungsgruppe beizstellen, der neben dem Generalsekretär der Vereinten Nationen auch der Staats- oder Regierungschef des Gastlandes angehören.
Man muss sich fragen, wie der UN-Generalsekretär – Vorsitzender einer angeblich auf Multilateralismus aufgebauten Organisation – es zustande bringt, Aufzeichnungen der Vereinten Nationen über die wichtigsten Streitfragen zwischen den Ideen des Multilateralismus und des "Multi-Anteilseigner-Prinzips" aus der öffentlichen Debatte der UNO für die Internet-Entwicklung zu entfernen.
Hilfreich für das Verständnis dieses Rätsels ist ein Dokument, das im Juni 2019 im Namen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen unterzeichnet wurde und einem Partnerschaftsabkommen zwischen den Vereinten Nationen und dem Weltwirtschaftsforum (WEF) zustimmt. Ein offener Brief gegen diese Partnerschaft wurde an den Generalsekretär der Vereinten Nationen geschickt und von 400 NGO-Organisationen unterzeichnet. Sie fordern die Vereinten Nationen auf, von diesem Partnerschaftsabkommen zurückzutreten. Die NGOs argumentieren in dem Brief:
Diese öffentlich-private Partnerschaft wird die Vereinten Nationen dauerhaft mit transnationalen Unternehmen verbinden, deren wesentliche Kernaktivitäten die sozialen und ökologischen Krisen verursacht oder verschärft haben, mit denen der Planet gegenwärtig konfrontiert ist. Dies ist eine Form der Machtübernahme durch Unternehmen ... Das WEF-Abkommen mit den Vereinten Nationen ... untergräbt ernsthaft das Mandat der Vereinten Nationen sowie die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Wirksamkeit dieses multilateralen Gremiums ...
Ohne auf diese Argumente der NGOs oder der Argumente der G77 sowie Chinas einzugehen, hat der Generalsekretär die "Roadmap für die digitale Zusammenarbeit" als einen der sechs Kernbereiche, auf die im UN-WEF-Partnerschaftsabkommen Bezug genommen wird, bereits bis ins Detail ausgearbeitet.
In der bisherigen Debatte der Vereinten Nationen über die Zukunft der Internetverwaltung gab es ein drittes Modell, das in der Roadmap ebenfalls nicht berücksichtigt wurde. Dieses dritte Modell weist auf die wesentliche Rolle der User für die Internetverwaltung hin. Das Netizen-Modell grenzt sich gegen Ansätze ab, die Regierungen eine zentrale Rolle bei Entscheidungen über ihre Bürger zugestehen.
Das Netizen-Modell sieht bei Entscheidungen über Gegenwart und Zukunft des Internets hingegen eine zentrale Rolle bei den Bürgern und Usern. Dieses Modell verweist auf die partizipative Demokratiefähigkeit des Internets. Als einer der Teilnehmer eines von den Vereinten Nationen im Vorfeld des WSIS 2005 erstellten Online-Portals schrieb Izumi Aizu, Deputy Director des Institute for HyperNetwork Society:
Dieses Online-Forum ist ein wichtiger Bestandteil der Mobilisierung der Bemühungen um das angestrebte effektive Ergebnis. Angesichts der weitreichenden Aspekte, welche die Internetverwaltung abdeckt, halte ich es für angemessen wichtig, eine transparente Einbeziehung von Online-Beiträgen in den Entscheidungsprozess festzulegen.
Im Jahr 2020, als die UN ihren 75. Geburtstag feierten, argumentierten viele Fachleute, es sei dringender denn je, den Multilateralismus zu unterstützen und zu stärken. Dieser Grundtenor bestimmte die Wortmeldungen zahlreicher Vertreter der 193 UN-Mitgliedstaaten während der virtuellen Videokonferenz am 21. September 2020 zur Feier des 75. Jahrestages der Charta.
Da Multilateralismus im Wesenskern der Vereinten Nationen und der Charta zur Gründung der Vereinten Nationen liegt, ist es widersprüchlich, dass UN-Generalsekretär António Guterres den "Multi-Anteilseigner-Systemansatz" befürwortet. Er sollte den Multilateralismus verteidigen und die Beteiligung von BürgerInnen und Usern an den Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Fortbestand des Internets und dessen Entwicklung fördern.
Ronda Hauben ist Journalistin und Forscherin. Sie berichtet als Journalistin von den Vereinten Nationen in New York, in der Vergangenheit unter anderem in ihrem Blog unter taz.de, der Online-Website der Tageszeitung. Im Jahr 2008 erhielt sie für ihre Berichterstattung über die Vereinten Nationen den silbernen "Elizabeth Neuffer Memorial Prize", überreicht vom damaligen UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon, für herausragende journalistische Leistungen in schriftlichen Medien (einschließlich Online-Medien). Sie hat auf Einladung hin Vorträge in Europa, Nordamerika, Afrika, China und der ROK gehalten.
Sie ist Co-Autorin des von der IEEE Computer Society Press veröffentlichten Buches "Netizens: Über die Geschichte und die Auswirkungen des Usenets und des Internets" mit Michael Hauben ("On the History and Impact of the Usenet and the Internet"). Sie hat einen MA-Abschluss von der Tufts University und ist Gründungsredakteurin des Amateur Computerist Newsletters. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Geschichte der Wissenschaft und Technologie des Internets, die Entstehung und Entwicklung der Netizens und das Potenzial des Internets, interaktive Computerkommunikation und partizipative Online-Prozesse.
Ronda schrieb ab 1998 für Telepolis und 2004-2010 für das südkoreanische Bürgerjournal "OhmyNews International". Sie interessiert sich für die Auswirkungen, die das Internet und die Internetnutzer auf die Transformation unserer Gesellschaft haben können. Sie konzentriert sich dabei auf das Potenzial des Netzes und der Internetnutzer, eine neue, umfassendere und genauere Form des Journalismus zu ermöglichen, die sie als "Internetnutzerjournalismus" ("netizen journalism") bezeichnet.
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