Die UNO und das Ringen um das Internet

UNO-Generalsekretär Guterres schlägt sich in der Debatte um Zukunft des Internets auf die Seite von Unternehmen, statt Demokratie und Multilateralismus zu stärken

Im Juni 2020 gab UN-Generalsekretär António Guterres einen "Fahrplan für die digitale Zusammenarbeit" heraus. Ziel war ein neuer Steuerungsmechanismus für das Internet. Dieses Dokument geht auf eine Auseinandersetzung bei den Vereinten Nationen darüber zurück, wer die Macht über die gegenwärtige und künftige Gestaltung des Internets haben soll.

Die Planungen des UN-Generalsekretärs enthalten jedoch keinen Hinweis auf den Hintergrund dieser Debatte. Es werden auch keine alternativen Modelle für die Verwaltung des Internets oder für Entscheidungen über dessen Zukunft erwähnt. Stattdessen enthält das Dokument einen vagen Vorschlag, der bereits ohnehin mächtigen Unternehmen die Möglichkeit gibt, die Zukunft des Internets aus dominanter Position heraus zu beeinflussen. Dieses vage Modell, das die Roadmap des UN-Generalsekretärs skizziert, wird mit Blick auf die Internetverwaltung als "Multi-Anteilseigner-Modell" (multistakeholder-model) bezeichnet.

Der Generalsekretär stärkt damit nicht nur das Multi-Anteilseigner-Prinzip (multistakeholderism) – einer Idee, die zuvor ernsthafte Kritik provoziert hatte –, er führt dieses Prinzip zudem durch die Hintertür ein. Die Roadmap ignoriert nicht nur die Kritik an diesem Modell, sondern auch bekannte Alternativen. Diese Alternativen widerspiegeln einen Prozess, der eher dem demokratischeren und partizipativeren Ursprung des Internets und der ursprünglichen Vision für dessen zukünftige Entwicklung entspricht.

Der Kampf um "Internet-Governance" dauert bei den Vereinten Nationen seit mindestens 15 Jahren an. Zu den wichtigsten Ereignissen zählen die beiden Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS), die 2003 von den Vereinten Nationen in Genf und 2005 in Tunis abgehalten wurden, sowie die Kontroverse von 2015 über die zehnjährige Überprüfung der Fortschritte auf dem Weg zu den Zielen des WSIS 2003 und des WSIS 2005. Angestrebt wurde "eine auf Menschen ausgerichtete, integrative und entwicklungsorientierte Informationsgesellschaft".

Bei der Kontroverse stand auf der einen Seite der Wunsch vieler Entwicklungsländer unter den UN-Mitgliedsstaaten nach einer gemeinsamen Internet-Verwaltung, an der alle Staaten gleichberechtigt teilnehmen können, also einem multilateralen Ansatz. Multilateralismus ist ein Grundprinzip der Vereinten Nationen, das in der UN-Charta verankert ist.

Die Roadmap des amtierenden UN-Generalsekretärs ersetzt eine Regierungsführung, die der von den Vereinten Nationen bei WSIS-Veranstaltungen vertretenen und auf die Menschen ausgerichteten Sichtweise verpflichtet ist, durch ein Firmen-ermächtigendes Führungsprinzip ("corporate empowering governance"), das als "Multi-Anteilseigner-Prinzip" ("multistakeholderism") bezeichnet wird.

Kurz gesagt: Der vom UN-Generalsekretär vorgeschlagene Fahrplan verspricht, alle Menschen auf der ganzen Welt mit dem Internet zu verbinden und Probleme zu überwachen, die durch künstliche Intelligenz und andere Bereiche entstehen, die mit der Internet-Entwicklung einhergehen können.

Im Wesentlichen schlägt die Roadmap jedoch vor, ein neues Mittel zur Steuerung des Internets zu schaffen. Durch den vorgeschlagene Verwaltungsmechanismus wären diejenigen, die die Macht über Entscheidungen über die Gegenwart und Zukunft des Internets erhalten, dieselben, die als "Multi-Anteilseigner" bezeichnet werden. Diese Rede ist von einem Herrschaftsprinzip der Anteilseigner ("multistakeholder governance").

Wer sind die "Multi-Anteilseigner" eines möglichen künftigen Internets?

In einem Artikel darüber, ob das "Multi-Anteilseigner-Prinzip" ein Mittel zur Demokratisierung von Internet-Entscheidungsprozessen sein könnte, erklärte der kanadische Internet-Aktivist Michael Gurstein, warum dies keine demokratische Form der Regierungsführung ist. Es sei ein Modell, schrieb Gurstein, "in welchem Kontrollgewalt von und für diejenigen wirkt, die 'Anteilseigner' an den Steuerungsentscheidungen sind".

Dadurch würde das Fundament der Herrschaft von einer auf der Gesamtbevölkerung, oder (zumindest indirekt) auf Staatsbürgerschaft oder demokratischer Mitwirkung basierenden Struktur, hin zu dem der Lenkung durch Anteilseigner verschoben. Das heißt, das "Multi-Anteilseigner-Prinzip" befähigt solche Akteure mit einem eng-gefassten Partikularinteresse und nicht diejenigen, die zur demokratischen Auslotung des öffentlichen Interesses befähigt sind.

Eine andere Internetpionierin, Hu Qiheng aus China, erklärt, dass das öffentliche Interesse an der Internetentwicklung geschützt werden müsse. Sie schreibt (Seite 1):

Das Internet ist eine glänzende Errungenschaft der menschlichen Zivilisation im 20. Jahrhundert. Und Regierungen müssen die wesentliche Rolle bei der Internetverwaltung spielen ... ein günstiges Umfeld schaffen, welches das Internet-Wachstum fördert und gleichzeitig das öffentliche Interesse schützt.

Aus der Roadmap des Generalsekretärs wurde jedoch das Prinzip des Multilateralismus gestrichen. Dieses war jedoch die Form der Internetverwaltung, die von den Entwicklungsländern – durch die G77 plus China vertreten – in den Diskussionen im Jahr 2015 bei den Vereinten Nationen präferiert wurde. Zu diesem Zeitpunkt wurden gerade die Fortschritte in den vergangenen zehn Jahren seit dem Weltgipfel 2005 auf dem Weg zu einer Informationsgesellschaft untersucht.

In der Erklärung des Vorsitzenden der Gruppe der 77 vom Dezember 2015 heißt es: "Es ist wichtig, eine einheitliche, gleichberechtigte, offene, transparente, faire und ausgewogene Plattform zu schaffen, auf der alle Regierungen mit gleicher Stimme anerkannt werden."

Mit der Roadmap wird, anstatt die unterschiedlichen Perspektiven zu erklären, die lange Kontroverse zwischen Multilateralismus und "Multi-Anteilseigner-Prinzip" aus den historischen Aufzeichnungen ausgelassen. Die Roadmap gaukelt vor, alle UN-Mitglieder seien sich einig darüber, dass in erster Linie die sogenannten "Multi-Anteilseigner" ein Mitspracherecht bei der zukünftigen Entwicklung des Internets haben sollten.

Trotz vieler Kritikpunkte an einer Internetverwaltung mit Partikularinteressen, ernannte der UN-Generalsekretär im Juli 2018 Melinda Gates und Jack Ma zu Co-Vorsitzenden eines angeblich hochrangigen Gremiums, "um Modelle zu prüfen (...), die die Debatte um Regierungsführung im digitalen Bereich vorantreiben".

Anstatt die öffentliche Debatte voranzutreiben, indem sie die Stärken und Schwächen früherer Diskussionen bei den Vereinten Nationen über verschiedene Modelle der Internet-Verwaltung zusammenfasst hätten, erstellten sie ein vages Dokument, in welchem die Präferenz für einen "Multi-Anteilseigner-Systemansatz" gesetzt wurde, der (...) "geeignet sei für den schnellen Wandel im digitalen Zeitalter." Das geht aus der "Executive Summary, Report of the UN Secretary General’s High-level Panel on Digital Cooperation Recommendation 5B hervor.

In ähnlicher Weise wurde bei den Vereinten Nationen ein Dokument mit der Bezeichnung "Empfehlung 5A/B: Optionen für die Zukunft der globalen digitalen Zusammenarbeit" ("Recommendation 5A/B: Options for the Future of Global Digital Cooperation") veröffentlicht, das die Schaffung einer Führungsgruppe fordert, "die eine Vertretung mehrerer Interessengruppen vorsieht (einschließlich Wirtschaftsführern und Wissenschaftlern), die den Entscheidungsträgern Ergebnisse aus ihrer Führungsgruppe entgegenbringen würde" (Options Report, p. 12).

Dieser Optionsbericht fordert auch die Verbesserung der Ausgestaltung des "Internet Governance Forums" (IGF), um die Unternehmensidentität ("corporate identity") unter der Aufsicht des IGF-Sekretariats zu stärken. Das IGF wurde 2005 am Ende des WSIS in Tunis als Diskussions- und Beratungsgremium gegründet. Im Optionsbericht wird vorgeschlagen, dem IGF eine Führungsgruppe beizstellen, der neben dem Generalsekretär der Vereinten Nationen auch der Staats- oder Regierungschef des Gastlandes angehören.

Man muss sich fragen, wie der UN-Generalsekretär – Vorsitzender einer angeblich auf Multilateralismus aufgebauten Organisation – es zustande bringt, Aufzeichnungen der Vereinten Nationen über die wichtigsten Streitfragen zwischen den Ideen des Multilateralismus und des "Multi-Anteilseigner-Prinzips" aus der öffentlichen Debatte der UNO für die Internet-Entwicklung zu entfernen.

Hilfreich für das Verständnis dieses Rätsels ist ein Dokument, das im Juni 2019 im Namen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen unterzeichnet wurde und einem Partnerschaftsabkommen zwischen den Vereinten Nationen und dem Weltwirtschaftsforum (WEF) zustimmt. Ein offener Brief gegen diese Partnerschaft wurde an den Generalsekretär der Vereinten Nationen geschickt und von 400 NGO-Organisationen unterzeichnet. Sie fordern die Vereinten Nationen auf, von diesem Partnerschaftsabkommen zurückzutreten. Die NGOs argumentieren in dem Brief:

Diese öffentlich-private Partnerschaft wird die Vereinten Nationen dauerhaft mit transnationalen Unternehmen verbinden, deren wesentliche Kernaktivitäten die sozialen und ökologischen Krisen verursacht oder verschärft haben, mit denen der Planet gegenwärtig konfrontiert ist. Dies ist eine Form der Machtübernahme durch Unternehmen ... Das WEF-Abkommen mit den Vereinten Nationen ... untergräbt ernsthaft das Mandat der Vereinten Nationen sowie die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Wirksamkeit dieses multilateralen Gremiums ...

Ohne auf diese Argumente der NGOs oder der Argumente der G77 sowie Chinas einzugehen, hat der Generalsekretär die "Roadmap für die digitale Zusammenarbeit" als einen der sechs Kernbereiche, auf die im UN-WEF-Partnerschaftsabkommen Bezug genommen wird, bereits bis ins Detail ausgearbeitet.

In der bisherigen Debatte der Vereinten Nationen über die Zukunft der Internetverwaltung gab es ein drittes Modell, das in der Roadmap ebenfalls nicht berücksichtigt wurde. Dieses dritte Modell weist auf die wesentliche Rolle der User für die Internetverwaltung hin. Das Netizen-Modell grenzt sich gegen Ansätze ab, die Regierungen eine zentrale Rolle bei Entscheidungen über ihre Bürger zugestehen.

Das Netizen-Modell sieht bei Entscheidungen über Gegenwart und Zukunft des Internets hingegen eine zentrale Rolle bei den Bürgern und Usern. Dieses Modell verweist auf die partizipative Demokratiefähigkeit des Internets. Als einer der Teilnehmer eines von den Vereinten Nationen im Vorfeld des WSIS 2005 erstellten Online-Portals schrieb Izumi Aizu, Deputy Director des Institute for HyperNetwork Society:

Dieses Online-Forum ist ein wichtiger Bestandteil der Mobilisierung der Bemühungen um das angestrebte effektive Ergebnis. Angesichts der weitreichenden Aspekte, welche die Internetverwaltung abdeckt, halte ich es für angemessen wichtig, eine transparente Einbeziehung von Online-Beiträgen in den Entscheidungsprozess festzulegen.

Im Jahr 2020, als die UN ihren 75. Geburtstag feierten, argumentierten viele Fachleute, es sei dringender denn je, den Multilateralismus zu unterstützen und zu stärken. Dieser Grundtenor bestimmte die Wortmeldungen zahlreicher Vertreter der 193 UN-Mitgliedstaaten während der virtuellen Videokonferenz am 21. September 2020 zur Feier des 75. Jahrestages der Charta.

Da Multilateralismus im Wesenskern der Vereinten Nationen und der Charta zur Gründung der Vereinten Nationen liegt, ist es widersprüchlich, dass UN-Generalsekretär António Guterres den "Multi-Anteilseigner-Systemansatz" befürwortet. Er sollte den Multilateralismus verteidigen und die Beteiligung von BürgerInnen und Usern an den Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Fortbestand des Internets und dessen Entwicklung fördern.

Ronda Hauben ist Journalistin und Forscherin. Sie berichtet als Journalistin von den Vereinten Nationen in New York, in der Vergangenheit unter anderem in ihrem Blog unter taz.de, der Online-Website der Tageszeitung. Im Jahr 2008 erhielt sie für ihre Berichterstattung über die Vereinten Nationen den silbernen "Elizabeth Neuffer Memorial Prize", überreicht vom damaligen UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon, für herausragende journalistische Leistungen in schriftlichen Medien (einschließlich Online-Medien). Sie hat auf Einladung hin Vorträge in Europa, Nordamerika, Afrika, China und der ROK gehalten.

Sie ist Co-Autorin des von der IEEE Computer Society Press veröffentlichten Buches "Netizens: Über die Geschichte und die Auswirkungen des Usenets und des Internets" mit Michael Hauben ("On the History and Impact of the Usenet and the Internet"). Sie hat einen MA-Abschluss von der Tufts University und ist Gründungsredakteurin des Amateur Computerist Newsletters. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Geschichte der Wissenschaft und Technologie des Internets, die Entstehung und Entwicklung der Netizens und das Potenzial des Internets, interaktive Computerkommunikation und partizipative Online-Prozesse.

Ronda schrieb ab 1998 für Telepolis und 2004-2010 für das südkoreanische Bürgerjournal "OhmyNews International". Sie interessiert sich für die Auswirkungen, die das Internet und die Internetnutzer auf die Transformation unserer Gesellschaft haben können. Sie konzentriert sich dabei auf das Potenzial des Netzes und der Internetnutzer, eine neue, umfassendere und genauere Form des Journalismus zu ermöglichen, die sie als "Internetnutzerjournalismus" ("netizen journalism") bezeichnet.

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