Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft
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Michael Hirsch zu den Aporien in der gegenwärtigen Wirtschaft und Politik. Teil 1
In seinem neuen Buch analysiert der Philosoph Michael Hirsch den Kern unserer Gesellschaftkrise und ihre politischen wie ideologischen Grundlagen und verknüpft sie mit Fragen der Freiheit und Demokratie. Im Interview mit Telepolis sprach der Autor über den neoliberalen Umbau während der Ära Schröder, die Agenda 2010 und Sadomasochismus.
Herr Hirsch, es wird immer mehr Reichtum durch immer weniger Einsatz von menschlicher Arbeit produziert, von dem aber immer weniger Menschen profitieren. Inwiefern scheint hier in negativer Form etwas auf, was politisch und sozial gewendet einen menschlichen Fortschritt bedeuten würde?
Michael Hirsch: Karl Marx hat im "Kapital" ein wichtiges Kriterium für menschlichen Fortschritt angegeben: die Vermeidung nutzloser Arbeit. Der Fortschritt in der Entwicklung höherer Produktivkräfte, also der normale Zustand des Wirtschaftsprozesses in der kapitalistischen Gesellschaft, ist daran zu bemessen und kann nur daraus gerechtfertigt werden.
Während linke Pessimisten wie Walter Benjamin derlei als reinen Zerstörungsprozess empfunden haben, ist dieser Fortschrittsprozess aus neomarxistischer Sicht dann gerechtfertigt, wenn wir diese Entwicklung dazu nutzen, dass die Macht dieser Produktionsmaschine immer geringer wird, indem eine tarifpolitische Antwort auf die gesamtgesellschaftliche Verringerung der notwendigen Arbeitszeit gefunden wird.
"Zentrale linke Utopie"
Das betrifft dann auch die Frage der Demokratie...
Michael Hirsch: Genau. Es muss nämlich darüber entschieden werden, wie man die verschiedenen Arten von Arbeit, die in den Produktionsprozess eingespeist werden, bewerten muss, und wie die daraus resultierenden Reichtümer fair in der Gesellschaft verteilt werden. Das ist eine zentrale linke Utopie.
Da sich dieser Fortschritt nicht eingestellt hat, wird der wirtschaftliche Prozess entzivilisiert. Während man die Geschichte bis vor zwei Jahrzehnten mit dem sozialen Fortschritt hierzulande als eine Art Zivilisationsprozess beschreiben konnte, ist jetzt eine Verwilderungstendenz eingetreten: Mit der sozialen Spaltung nimmt der Druck auf die Arbeitnehmer zu und damit auch die Angst. Die Anteile aus den Arbeitsprodukten werden auf groteske Weise immer ungleicher verteilt.
"Beschäftigung um jeden Preis"
Was hat diese Entwicklung der Entzivilisierung mit den Eigentumsverhältnissen zu tun?
Michael Hirsch: Wenn man sich fragt, warum die Entwicklung in den letzten 25 Jahren so deutlich rückschrittliche Züge besitzt, während es in den Achtziger Jahren noch relativ progressive gesellschaftspolitische Diskussionen gegeben hat, stellt sich heraus, dass bei steigender Arbeitslosigkeit die Vollbeschäftigung als zentrales gesellschaftspolitisches Ziel durchgesetzt wurde und damit politisch die Interessen der Arbeitgeber mit denen der Gesamtgesellschaft identifiziert wurden. Die Kapitaleigner, die Beschäftigung bereit stellen, stehen dann als die Hüter des Gemeinwohls dar.
Wenn das Ziel nicht mehr die Verringerung der Arbeitszeit, die Zivilisierung der Arbeitsverhältnisse und die demokratische Umgestaltung ist, sondern nur Beschäftigung um jeden Preis, dann folgt daraus, dass der kapitalistische Produktionsapparat als solcher politisch freigesprochen wird. Er muss sich seitdem vor demokratischen Transformationsansprüchen nicht mehr rechtfertigen. Das Ziel der Vollbeschäftigung unter den gegenwärtigen Verhältnissen macht den Fortbestand der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zur absoluten Prämisse. Die Ideologie der Beschäftigung ist der zentrale Punkt, an dem der Staat mit dem Kapital ein Bündnis eingegangen ist und diese Partikularinteressen zu den Gemeininteressen erklärt hat.
"Eine andere Kultur der Stigmatisierbarkeit"
Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Hartz-Reformen?
Michael Hirsch: Die Hartzreformen waren ein wichtiger Teil der Agenda 2010, mit der die fundamentale Umcodierung des Sozialstaates auf mehrfacher Ebene durchgesetzt wurde: Zum einen ist diese nicht aus einer breiten gesellschaftlichen Diskussion entstanden, sondern aus einer Sachverständigenkommission. Das ist ein demokratiepolitisch höchst bedeutsamer Punkt. Die Hartz-Reformen waren ein technokratischer Putsch, der vom Parlament nur noch abgenickt wurde.
Zweitens hat sich damit eine dramatische Veränderung der Architektur des Sozialstaates ergeben: Es geht dabei nicht nur um die Frage, dass damit deregulierte Arbeitsverhältnisse erleichtert wurden und sich die materielle Situation der Arbeitslosen dramatisch verschlechtert hat, sondern darüber hinaus um die symbolische Qualität, eine andere Kultur der Stigmatisierbarkeit von Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung:
Während in dem Sozialstaat vorher der Betroffene soziale Rechte gegenüber der Gemeinschaft geltend machen konnte, moralisch gewissermaßen auf der richtigen Seite stand, ist er jetzt ein moralischer Schuldner, der ungeachtet der wirtschaftlichen Konjunktur für seine Situation selbst verantwortlich ist. Es wurde eine Umcodierung der Schuldverhältnisse vorgenommen und die Arbeitslosen wurden in eine moralische Defensive hinein gedrängt.
Dazu passt die Drangsalierung durch Arbeitsdienste, die aus dem alten Polizeirecht des 18. und 19. Jahrhunderts stammten, als es Arbeitshäuser gab, in denen Zwangsarbeit verrichtet wurde: Auch heutzutage wird der Bezug von Arbeitslosengeld an die unfreiwillige Verrichtung von Arbeiten geknüpft, die eher ideologisch als volkswirtschaftlich Sinn machen. Das hat es alles in ähnlicher Weise schon zwischen 1770 und 1850 gegeben und ist ganz klar restaurativ. Die ideologische Funktion dieser symbolischen Exklusionsstrategie ist nicht zu unterschätzen.
Das kam paradigmatisch in dem spektakulären Begründung eines Urteils des Bundessozialgerichts gegen einen ALG II-Empfänger zur Geltung, der gegen eine Maßnahme geklagt hatte, bei welcher er Bäume mit Wildschutzfolie umwickeln musste. Es wurde zugeben, dass derlei Maßnahmen repressiv sowie volkswirtschaftlich irrational sind, aber gleichzeitig ihre sinnvolle therapeutische und realsozialisierende Wirkung behauptet. Diese paternalistische staatspädagogische Linie hat es im Sozialrecht vor der Ära Schröder nicht gegeben.
Von den Deutschen werden die Hartz-Reformen wenig skandalisiert. Ist den Deutschen die Peitsche näher als das Zuckerbrot?
Michael Hirsch: Mir fällt hierzu Adornos Studie über den totalitären Charakter ein, die aus einer frühen Phase der Nachkriegszeit stammt, wo es um Ich-Schwäche auch in Gestalt von Angst und Konformismus geht, mit der diese repressiven Praktiken etwas zu tun haben. Diese Sozialmaßnahmen sind deswegen so wichtig, weil sie die Angst als legitimes Mittel politischer Herrschaft überhaupt erst salonfähig gemacht haben.
Wenn man Prekarität, Leih- und Zwangsarbeit als legitime und normale Formen von Beschäftigung einführt, etabliert man ganz klar eine repressive Logik, gegen die man sich entweder auflehnen kann oder sie akzeptiert und unterordnet. Und weil Letzteres keinen Spaß macht, gehört zu diesem System auch Sadismus und Masochismus.
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