Die Überwindung des Individualismus

Seite 3: Die Vergesellschaftung im Sinne des guten Lebens

Das hier befürwortete Gegenteil zum Individualismus besteht nicht in der Unterordnung unter kollektive Werte, die von der Entwicklung der Sinne und Fähigkeiten, den Reflexionvermögen und der Subjektivität der Individuen absehen. Plädiert wird nicht für die kollektivistische Parole "Dein Volk oder die Nation ist alles – Du bist nichts."

Das Allgemeine – die gesellschaftlich herrschenden Maßgaben – orientieren sich in einer Gesellschaft des guten Lebens an dem Gedeihen von Individuen, die ein gutes Leben entwickeln. Sie können das nur in dem Maße, wie sie in ihrem Bezug aufeinander nicht länger von ängstlicher Sorge um ihr Privateigentum und um ihre Position in der Konkurrenz dominiert sind.

Gesellschaftliche Bedingungen und Strukturen können ihren Beitrag zur Überwindung des Individualismus auch insofern leisten, als sie Urteilskraft ermöglichen und fördern, um herauszufinden, wie das allgemein herrschende gesellschaftliche Paradigma (das gute Leben) erst in bzw. durch die besonderen Bereiche und in ihrem Zusammenspiel Wirklichkeit erlangt. Die umsichtige Wahrnehmung konstitutiver Voraussetzungen und indirekter Effekte des eigenen Tuns bildet ein integrales Moment der anzustrebenden Lebensweise.

Sie überwindet die Identitätsstiftung qua Status oder Einkommen, die Fixierung auf Fachidiotentum, die Weltlosigkeit aufgrund von Lebensstilkleinstaaterei, Besitzindividualismus und selbstwertdienlicher Selbststilisierung. Diese Momente des Individualismus wirken sich sowohl sozial als auch charakterlich negativ aus.

Der Individualismus entspricht nicht nur der Marktwirtschaft, sondern auch der "mageren" Demokratie. Diese liberale oder repräsentative Demokratie orientiert sich eher daran, "Menschen auf sicherem Abstand zu halten als zu fruchtbarer Zusammenarbeit zu bewegen" (Barber 1994, 33).

Das Individuum ist gegen die alten Despotien von Hierarchie, Tradition, Rang, Aberglauben und absoluter politischer Macht mit Hilfe einer Theorie des vollständig isolierten Individuums verteidigt worden, das durch abstrakte Rechte und Freiheiten definiert ist. Doch als diese Theorie in der Welt wirklicher sozialer Beziehungen praktisch umgesetzt wurde, hat sie sowohl die fruchtbaren wie die tyrannischen Bindungen aufgelöst und die Individuen nicht nur gegen Machtmissbrauch gefeit, sondern auch voneinander abgeschnitten

Barber 1994, 75f.

Der Liberalismus und die repräsentative Demokratie sind untrennbar verbunden mit jenem "Pessimismus und Zynismus, jener Negativität und Passivität", die beide "zwar gegen naive Utopien und die Tyrannei des Idealismus immunisieren, zugleich jedoch seine vorsichtigen Hoffnungen untergraben, seine Theorie mager und fadenscheinig machen und seine Praxis der Korrosion durch Skeptizismus […] aussetzen" (Ebd., 102).

Der Individualismus verliert an Bedeutung, wenn mit einem neuen Paradigma des guten Lebens und des Reichtums (vgl. Creydt 2017) eine "überpersönliche Mitte" entsteht, die die Individuen verbindet (Gerson 1982, 191). Der Individualismus verringert sich in dem Maße, wie Freiheit als gesellschaftliche Freiheit verstanden wird.

Die Wirtschaft bildet in einer Gesellschaft des guten Lebens den Gegenstand von demokratischer Erwägung und Beratung ("Deliberation"), Entscheidung und Gestaltung. Gefragt wird, wie die Produktion nicht nur Bedürfnisse befriedigt, sondern das jeweilige Konsumobjekt sowie die Art und Weise der Konsumtion konstituiert und damit die Bedürfnisse selbst.

Dies wird zum Thema der deliberativen oder "starken Demokratie" (Barber). In ihr tritt die Bevölkerung in eine praktische Selbst(be)ur-teilung oder Reflexion ein und wird damit zum "Mittler" zwischen den Bedürfnissen und der Produktion. In der Antizipation der problematischen Folgen, Voraussetzungen und Implikationen z. B. der Verallgemeinerung des Autoverkehrs ("autogerechte Stadt", Verwandlung von Straßen aus Begegnungsräumen zu Transportpisten usw.) würde die Bevölkerung es vermeiden können, zur abhängigen Variable einer positiv rückgekoppelten Eigendynamik zu missraten. Letztere folgt dem Teufelskreis "Steigerung der Produktion Ausdehnung der Nachfrage nach den produzierten Gütern Ausdehnung der Produktion usf."

Der Individualismus nimmt in dem Maße ab, wie die Mitglieder einer vom guten Leben geprägten Gesellschaft es wertschätzen, dass sie in Institutionen und Strukturen leben können, die die Überwindung von Problemen ermöglichen, welche von den vereinzelten Einzelnen individuell nicht gelöst werden können – auch nicht mit noch so viel Privateigentum und "Ichstärke".

Die Bevölkerung betrachtet diese Institutionen und Strukturen dann als ihr Sozialeigentum, auf das sie stolz ist. Die Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen ermöglichen erst den neuen Reichtum der nachkapitalistischen Gesellschaft. Er besteht im guten Leben bzw. in der Entwicklung menschlicher Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen im sinnvollen Bezug der Menschen zueinander, auf ihre Arbeiten und Gegenstände und die Gestaltung ihrer Welt.

Sinnvoll heißt: die Widersinnigkeiten wie Konkurrenz, Privateigentum u. ä. überwinden und nach öffentlicher Erwägung und Beratung demokratisch entscheiden über die Proportionen und das Gefüge der verschiedenen Arbeiten und Dienstleistungen. (Zum Begriff "sinnvoll" vgl. a. Creydt 2021.) "Die Erzeugung des Humanen" (bzw. der Lebensweise und -qualität) ist nicht länger "als bloßes Nebenprodukt der Erzeugung von Gegenständen überhaupt möglich". Vielmehr kann das gute Leben "erst dann gelingen", wenn es "zum vorrangigen Zweck" wird – der Arbeiten, der Dienstleistungen und der Gesellschaftsgestaltung (Kilian 1971, 197, 198).

In einer modernen bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Marktwirtschaft existiert günstigenfalls ein schwacher Konsens. Er besteht in der Anerkennung der eher einem Armenrecht entsprechenden Menschen- und Grundrechte sowie des recht abstrakten Werts der Menschenwürde (vgl. Creydt 2015, 195-201).

Darüber hinaus gibt es keine die Bevölkerung einenden anspruchsvollen Grundüberzeugungen. Der Individualismus nimmt in dem Maße ab, wie eine gemeinsame Praxis zustande kommt, die als Vergrößerung der Lebensqualität aller Mitglieder der Bevölkerung von ihnen gewollt und bestimmt wird. Es handelt sich um ein "allgemeines Werk, das sich durch das Tun Aller und jeder als ihre Einheit […] erzeugt" (Hegel 3, 325).