Die Überwindung des Individualismus
Seite 2: Treuhänderschaft
Der Individualismus nimmt in dem Maße ab, wie immer mehr Menschen deutlich wird, dass die Qualität ihrer Lebensweise nicht nur von ihren unmittelbaren, sondern auch von vermittelten Sozialbeziehungen abhängt. Unmittelbare Sozialbeziehungen ermöglichen es den Individuen günstigenfalls, sich mit ihren Schwächen und "blinden Flecken" auseinanderzusetzen.
Um sich entfalten zu können, bedürfen Individuen der Koevolution, also Mit- und Gegenspieler, die mit bestimmten Sinnen und Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissen "qualifiziert" sind. Das schließt auch die "Herzensbildung" ein.
Nun zu den vermittelten Sozialbeziehungen: Auch Kinderlose sind daran interessiert, dass Eltern, Erzieher und Lehrer Kinder und Jugendliche auf eine gute Weise erziehen. Diese Personengruppen werden zum Repräsentanten oder Treuhänder von Arbeiten und Tätigkeiten, die für alle relevant sind. Ein anderes Beispiel sind Pflegekräfte, Ärzte und Physiotherapeuten als Repräsentanten von Wissen und Kompetenzen, die das Thema Gesundheit betreffen.
Wer in mir repräsentiert ist, hat Sitz und Stimme in mir. Draußen ist er […] körperlicher Mensch: reell und leibhaftig. Drinnen in mir hat er nur einen symbolischen Repräsentanten: unkörperlich und von eher "ideeller" Natur. Wer nicht in mir repräsentiert ist, hat weder Sitz noch Stimme in mir. Es mag zwar sein, dass ich ihn wahrnehme, wenn er vor mir steht. Aber im übrigen existiert er für mich nicht.
Suhr 1975, 292
Der Individualismus nimmt in dem Maße ab, wie Beziehungen der Repräsentation oder Treuhänderschaft in der Gesellschaft an Stärke gewinnen. Sie existieren heute ansatzweise bei Professionen. Wenigstens zu ihrem Selbstverständnis gehört es, nicht das Eigeninteresse zulasten der Dienstleistung zu verfolgen.
Zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Bereichen können Repräsentations- oder Treuhänderschaftsbeziehungen existieren. Ist ihre Qualität gut, so erweist sich das "Zutrauen zu einem Menschen" als berechtigt, das "seine Einsicht dafür ansieht, dass er meine Sache als seine Sache, nach bestem Wissen und Gewissen, behandeln wird" (Hegel 7, 478).
Der Individualismus nimmt ab, wenn nicht länger – wie in der Marktwirtschaft üblich – jeder "die Beiträge der anderen Subjekte als Mittel zur eigenen Entwicklung" wahrnimmt. Der Individualismus lässt sich überwinden, wenn der eigene Beitrag und der Beitrag von anderen als "Mittel des Einander-Entwickelns" (Raeithel 1983, 168) taugen. Die Überwindung des Individualismus überschreitet die Milieus von Gruppen und Erzeuger/Konsumenten-Direktkontakten, wird der "Reproduktionsprozess des gesamten Gemeinwesens" als "komplexer Prozess des Einander-Entwickelns" verstanden und gestaltet (Ebd., 162).
Die Verringerung des Individualismus als Nebenprodukt
Den Individualismus zurückzudrängen, gelingt nicht durch moralisierende Kampagnen oder durch die Werbung für kleine Gemeinschaften. Sie sind häufig mit einem Konformitätsdruck verbunden. Ihm gegenüber hat der individualistische Protest seine Legitimität. Ein Argument für den Individualismus als Lebensweise entsteht daraus nicht.
Seine Überwindung bildet das Nebenprodukt von den sozialen Bewegungen, die zentrale Charakteristika der bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie angreifen. Bspw. ist der gegenwärtigen Medizin des Gesundheitswesens die Verkehrung eigen, Maßnahmen zum Zentrum zu erheben, die sich auf den vereinzelten Einzelnen beziehen. Das schwächt die Aufmerksamkeit für die gesellschaftliche Arbeit daran, diejenigen Ursachen für Krankheit zu verringern, die dem Einfluss des vereinzelten Einzelnen entzogen sind.
Es handelt sich u. a. um Arbeitsbelastungen, Widersprüche der Handlungsanforderungen, Überlastung der Individuen u. ä. Die Vorstellung, die Gesundheit von Willen und Anstrengung des Einzelnen abhängig zu machen, ist nicht nur "ein massenpsychologisches Sedativum, das von krank machenden sozialen Bedingungen ablenken soll; sie enthält auch die tückische Philosophie: 'Wer krank und schwach ist, hat selber schuld'. Eine Bronchitis? Natürlich, zu viel geraucht! Krebs? Gewiss zu leichtsinnig gelebt! Ein Magengeschwür? Zweifellos zu viel Ärger heruntergeschluckt! Depressionen ? Offensichtlich zu wenig Sport getrieben. Die Kranken und Gebrechlichen" müssen dann "mit Belehrung und Tadel der Wissenden" und "dem Bekehrungseifer der Stärkeren" rechnen (Bopp 1987, 62).
Gerade weil Gesundheit auch vom Verhalten des Individuums abhängt, liegt es nahe, diesen "Anteil" zu übertreiben. Der vereinzelte Einzelne meint, wenigstens auf ihn Einfluss zu haben. "Die Vorstellung, die Gesundheit sei individuell herstellbar wie eine Gartenlaube, zwingt ihre Anhänger in eine endlose Spirale der Unsicherheit.
Je mehr Aufmerksamkeit die Anhänger jener Gemeinde ihrem Körper zuwenden, desto mehr Gefährdungen entdecken sie. Ständig leben sie in der Spannung, ob sie nicht diese oder jene Maßnahme vernachlässigen würden. Es ist wahrscheinlich, dass die ständige Beschäftigung mit der Unversehrtheit des Körpers dem Wohlbefinden und der Gesundheit mehr schadet als nützt" (Ebd., 63).
Das in der bürgerlichen Gesellschaft erwünschte Primat der Selbstsorge geht einher mit einer Selbstaufmerksamkeit, die häufig dazu führt, dass das Individuum an Unbefangenheit einbüßt, sich ständig beobachtet und seine medizinischen Werte kontrolliert. Es avanciert dann zum massiv eigene Aufmerksamkeit absorbierenden Objekt unendlicher Hege und Pflege.
Für die Individualisierung ist die Unmittelbarkeit konstitutiv, in der die vereinzelten Einzelnen mit ihren Privatmitteln und ihrer Subjektivität gesellschaftlich verursachte Probleme irgendwie bewältigen sollen.
Der Druck auf die Individuen verringert sich, wenn eine Wirtschaft infrage gestellt wird, in der die Arbeitenden ausgepowert werden und sich dann mit kompensatorischem Konsum abspeisen (lassen). Eine neue Sozialität entsteht erst, wenn eine Opposition sich entwickelt gegen die Kernspaltung der Bevölkerung zwischen Produzenten und Konsumenten sowie zwischen beiden und den von Produktion und Konsum mittelbar negativ Betroffenen.
Erforderlich sind gesellschaftliche Institutionen, Formen und Strukturen, die es ermöglichen, dass die Konsumenten nicht länger desinteressiert sind an den Folgen des Arbeitens für die Arbeitenden und die Arbeitenden nicht mehr darauf angewiesen sind, unabhängig von der Bewertung des Inhalts der Produkte alles zu produzieren, das nachgefragt wird. Hauptsache, es sichert den Profit und damit indirekt auch im günstigsten Falle die Arbeitsplätze.
Der gegenwärtig populären Theorie der "funktionalen Differenzierung" zufolge gilt die Gesellschaft als eine leere Bühne, auf der die verschiedenen, vermeintlich autonomen und ihrer jeweiligen Buchführung folgenden Bereiche (Wirtschaft, Bildungswesen u. a.) äußerlich miteinander in Kontakt treten.
Erst die Einhegung funktionaler Differenzierung überwindet die babylonische Sprachverwirrung. Die verschiedenen, in ihren separaten Bereiche eingeschlossenen Spezialisten reden aneinander vorbei und finden nicht zueinander. Es gilt diejenige Arbeitsteilung einzuschränken, die die Individuen auf bereichsspezifische Sonderinteressen und -aufmerksamkeiten festlegt.
In der extremen gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die nicht durch eine große gesellschaftliche Idee Zusammenhang und Zusammenhalt gewinnt, nimmt die Vereinzelung, Zerstückelung und Isolierung überhand.
Fischer 1991, 260f.
Mangels einer gesellschaftlichen Mitte, die "die zentrifugalen Kräfte zu binden vermag, zieht sich der Einzelne auf sich selbst zurück, wächst […] die individuelle Einsamkeit" und das "auf sich selbst bezogene Ich, die psychologische Selbstbespiegelung, die an der Außenwelt zweifelnde, […] sich als Mittelpunkt erlebende Persönlichkeit" gewinnt an Bedeutung (Ebd., 255). Was nützt uns die Steigerung des outputs, wenn die dafür notwendige extreme Arbeitsteilung dem Psychosozialprodukt massiv schadet?