Die Überwindung des Individualismus
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Der Reichtum der nachkapitalistischen Gesellschaft braucht ein neues Modell
Die Abteilung des Deutschlandfunks für jüngere Leute bietet in Serie Podcasts von Alice Hasters an. So unterschiedlich die vorgestellten Personen, so ähnlich das Strickmuster: Stets steht ein Individuum im Zentrum, das sich durch widrige Umstände bedrängt sieht. Nach einigen Wirren nimmt es sie letztlich dann doch als sportliche Herausforderung an, das eigene Selbst zu suchen, zu finden und zu verwirklichen.
Wer dieses Programm nur mutig beherzige und sich nicht von Rückschlägen entmutigen lasse, könne dazu gelangen, schlussendlich das höchst eigene Leben zu führen. Notwendig werde die Feinabstimmung zwischen dem vorhandenen Angebot und der jeweiligen persönlichen Besonderheit. Das Individuum solle sich der Lebensstil-Jacken entledigen, die sich für es als unvorteilhaft oder beengend erweisen. Dann könne jede Person auf ihre Weise gelingen.
Soweit die Werbung für den Individualismus. Er entspricht dem herrschenden Liberalismus. Ihm zufolge habe sich jedes Individuum auf das exklusiv von ihm Besitzbare zu konzentrieren.
In der Konkurrenz soll jede Person "besser" sein als die andere. Alle sind angehalten, jeweils als einzelnes eigenverantwortliches Subjekt die nachgefragten Fertigkeiten und Talente zu entwickeln, sie am richtigen Ort zur richtigen Zeit anzubieten und sich als leistungsstark zu bewähren. Daraus erklären die Betroffenen sich ihren Erfolg oder Misserfolg im Erwerbs- und Geschäftsleben.
Wir fragen in diesem Artikel nach gesellschaftlichen Prozessen, die dazu beitragen können, diesen Individualismus zu überwinden. Er wird – so eine erste Teilauskunft – in dem Maße abnehmen, wie sich der Stellenwert des Privatinteresses und des Privateigentums verringert. Beide verlieren in einer Gesellschaft des guten Lebens an Gewicht zugunsten gemeinschaftlicher bzw. gesellschaftlicher Lösungen.
Ein Beispiel dafür ist dasjenige Verkehrswesen, in dem der öffentliche Personenverkehr, Sammeltaxis, Car-Sharing u. ä. das Primat haben über den individuellen Autoverkehr. Der Individualismus nimmt in dem Maße ab, wie mehr und bessere öffentliche Güter (gute Infrastrukturen, Bildung, Gesundheitswesen u. a.) angeboten werden und weniger Güter für einen rivalisierenden Konsum.
Der Individualismus verliert an Bedeutung, wenn die gesellschaftliche Situation überwunden wird, in der in Arbeit, Wirtschaft und Alltag Konkurrenz sowie Überbeanspruchung herrschen und sich gegen die Belastungen ein Gegengewicht nur im Privaten findet. Nehmen ist in der Marktwirtschaft der Zweck, Geben das Mittel. Nehmen setzt in der Marktwirtschaft Tausch voraus. (Das schließt auch den Tausch zwischen Arbeitslohn und zeitweiliger Überlassung der Nutzungsrechte für die Arbeitskraft ein.)
Privatinteresse und herrschende Imperative
Im unmittelbaren, exklusiven, andere ausschließenden Privatinteresse liegt es, sich einen Vorteil zulasten des Tauschpartners zu verschaffen. Angesichts dieser ungesellschaftlichen Gesellschaftlichkeit provoziert die Rede von Gemeinsamkeit nicht nur dort, wo es geboten erscheint, den Verdacht, für fremde Zwecke instrumentalisiert und vereinnahmt zu werden sowie das entsprechende Misstrauen. Erst die Überwindung von Privateigentum und Konkurrenz ermöglicht es, den ihnen entsprechenden "Schutzpanzer gegen andere Menschen" bzw. die "Isolierschicht" aufgeben zu können (Gerson 1982, 193f.).
Der Individualismus verliert in dem Maße an Dominanz, wie Privateigentum, Konkurrenz und Verwertung des Kapitals als herrschende Imperative überwunden werden. Dann können die Freude an der Kooperation und eine Arbeitsmotivation, die sich auf den positiven Beitrag der jeweiligen Arbeit für deren Adressaten bezieht, an Bedeutung gewinnen.
Gegenwärtig arbeiten viele, weil sie durch die Konkurrenz oder durch die Abhängigkeit vom Arbeitseinkommen (bei Mangel an sonstigen Erwerbsquellen) dazu gezwungen sind. Davon unterscheidet sich das Motiv, etwas Sinnvolles für die Abnehmer der Produkte bzw. der Dienstleistung zu schaffen.
Im Unterschied zum modisch gewordenen Belächeln der alten Arbeiterbewegung ist an eine für sie charakteristische und keineswegs überholte Unterscheidung zu erinnern:
"Bürgerlich" [bezeichnet] jene Form sozialer Beziehung, die wir gewöhnlich Individualismus nennen: das heißt eine Idee der Gesellschaft als eines neutralen Bereiches, innerhalb dessen jedes Individuum frei ist, seine eigene Entwicklung und seinen eigenen Vorteil als ein natürliches Recht zu verfolgen.
Williams 1963, 312-15
In der "Arbeiterklassenkultur" wurden "Entwicklung und Vorteil nicht individuell, sondern gemeinschaftlich interpretiert. […] Verbesserung wird nicht in der Gelegenheit gesucht, der eigenen Klasse zu entfliehen oder eine Karriere zu machen, sondern im allgemeinen und kontrollierten Vorankommen aller" (Williams 1963, 312-15).
Der Kult um die Eigenheit und Andersheit
Die Individualisierung prägt auch die Verarbeitung von Frustrationen im Geschäfts- und Erwerbsleben. Der vereinzelte Einzelne hat häufig Anlass zu meinen, in seinem wahren "Wesen" bzw. mit seinen "eigentlichen" Gaben nicht gesehen oder berücksichtigt zu werden. Seine Besonderheit komme angesichts allgemeiner Vorgaben nicht zur Geltung. Die Frustrationen in der gesellschaftlichen Realität verarbeitet das individualisierte Individuum als Nivellierungserfahrung und beantwortet sie mit einem reaktiven Subjektivismus.
Die Betroffenen steigern "das verbleibende Privateigentum des geistigen Ich zu um so eifersüchtigerer Ausschließlichkeit" (Simmel 6, 653). Die subjektive Fokussierung auf die individuelle Besonderheit und die Distinktion sollen mit der Aufmerksamkeit für die vermeintliche "unbestreitbare Eigenheit" das Individuum "für alle Leiden entschädigen" (MEW 3, 296). "Wir sind alle so individuell", seufzen viele und machen ihre Eigenheiten mit Fleiß gegen andere geltend.
Ökonomisch und kulturell grassieren die Fassadendifferenzierung und die künstliche Diversifizierung. Ähnliches findet im Narzissmus der kleinsten Differenz statt. "Eine kritische und psychoaffektive Verarmung liegt in der Luft, nachdem das Recht auf Unterschied hochgejubelt worden ist und Hunderte von sektoriellen und exklusiven Apartheiten geschaffen hat" (Errata 5, S. 7).
Es kommt dann dazu, "dass man dem, wodurch sich Menschen voneinander unterscheiden, ihrer Ich-Identität, einen höheren Wert beimisst als dem, was sie miteinander gemein haben, ihrer Wir-Identität" (Elias 1987, 21). Allerdings existiert der Wunsch, sich mit seinesgleichen oder identischen Wesen zu umgeben. Die "Zersplitterung in Partikularismen" bleibt nicht aus. Das "Recht auf Differenz" läuft oft auf eine "endlose Miniaturisierung" hinaus.
Die Gruppen werden aus ihren weiter gefassten Bezugsrahmen gelöst, Mikrosolidaritäten bekräftigt und "immer wieder neue Singularitäten" emanzipiert (Ebd., 234). Der Sog von partikularen Affinitätsgruppen und special-interest-Medien verschärft die Spaltungen der Bevölkerung. Sie fördern die abstrakte Vernetzung qua Geld und Recht.