Die Ukraine am Tag der Präsidentschaftswahlen

Präsidentenpalast in Kiew. Bild: JHG (Julien29)/public domain

Ein ungewöhnlich schmutziger Wahlkampf ist zu Ende. Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung sind vorbereitet und wahrscheinlich

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Die Ukraine ist in den vergangenen Jahren im Morast steckengeblieben. Vielleicht geben die Wahlen neuen Schwung, sich zu befreien (Die Kandidaten)?

Der Überraschungskandidat Selenskyi führt die Umfragen seit Beginn seiner Kandidatur an. Die beiden anderen aussichtsreichsten Bewerber - Präsident Poroschenko und Politveteranin Timoschenko - wechseln einander in den Umfragen bis in den Februar hinein an Stelle zwei ab. Dann überholt Poroschenko seine Widersacherin. Selenskyi bleibt ihm aber weiterhin deutlich voraus. Und dann passiert etwas.

Skandale

Am 26. Februar gerät Oleh Hladkovskiy in die Schlagzeilen. Er ist ein enger Gefährte Präsident Poroschenkos und Erster Stellvertretender Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats. Sein Sohn war führender Kopf einer Gang, die

- Waffen an die Rebellen im Donbas verkaufte;

- abgenutzte Ersatzteile aus Russland erwarb und sie zu stark überhöhten Preisen an die ukrainischen Streitkräfte verscheuerte;

- der ukrainischen Armee Ersatzteile verkaufte, die diese selbst bereits als unbrauchbar ausgesondert hatte.

Ein Unternehmen, das Poroschenko direkt gehörte, war an den genannten Vorgängen beteiligt. Hladkovskiy sen. tritt sofort von seinen Ämtern zurück. War er Profiteur der kriminellen Machenschaften seines Sohns, die vielleicht zahlreichen ukrainischen Soldaten das Leben kosteten? Und: was wusste der Präsident?

Timoschenko strengt umgehend ein Amtsenthebungsverfahren gegen das Staatsoberhaupt an. Selenskyi sagt, Poroschenko sei durch Blutvergießen an die Macht gekommen und profitiere auch in diesem Fall davon.

Der Präsident kündigt an dem Tag, an dem der unglaubliche Skandal bekannt wird, eine beträchtliche Rentenerhöhung an … Er ist in der Defensive. Timoschenko schiebt sich in den Umfragen wieder an Poroschenko vorbei an die zweite Stelle. Eine einflussreiche Gruppe von Reformern verlässt die Parlamentsfraktion, die Poroschenkos Namen trägt.

Wenige Tage darauf findet die Polizei Abhöranlagen in Selenskyis Wahlkampfzentrale. Der beschuldigte ukrainische Geheimdienst, der Poroschenko untersteht, bestreitet nicht, sie dort platziert zu haben. Aber nicht etwa, um Selenskyi abzuhören, sondern - Sie ahnen es vielleicht schon - um zu verhindern, dass die Russen dies tun! Der Geheimdienst hatte bereits vor Eingriffen Russlands in den Wahlprozess gewarnt. Der Geheimdienst eröffnet ein Verfahren gegen Innenminister Awakow, dem die Polizei untersteht. Könnte er nicht auf der Gehaltsliste Putins stehen?

Aber auch Awakow hat Trümpfe im Ärmel: Rechtsradikale, die er deckt, wenn nicht anleitet, beginnen, den Wahlkampf Poroschenkos massiv zu stören. Es gibt zahlreiche Verletzte.

Awakow und der Präsident sind verfeindet. Der Innenminister wirft Poroschenkos Team vor, in großem Maßstab Wählerstimmen zu kaufen. Dem Präsidenten unterstehende Organe würden die Opposition drangsalieren, so ein weiterer Vorwurf. Hierfür gibt es zahlreiche Belege. So beschuldigt der Generalstaatsanwalt den Präsidentschaftskandidaten Anatolij Hryzenko, für die Streitkräfte bestimmte Gelder zu stehlen.

Dabei gehört Hryzenko, der am Wahltag bis zu zehn Prozent der Stimmen gewinnen könnte, wohl zu den saubersten Politikern des Landes. Aber er genießt unter den Patrioten einen ausgezeichneten Ruf, genau diese Wähler jedoch will Poroschenko gewinnen. Die "Anti-Korruptions-Agentur" knöpft sich Selenskyi vor. Man kümmert sich auch um Timoschenko. Zahlreiche ihrer Büros werden durchsucht, da sie versuche, Wähler zu kaufen … Und tatsächlich ist zumindest ein Versuch des Timoschenko-Lagers, jemanden zu kaufen, gut dokumentiert

Timoschenko und Timoschenko

Es gibt zwei Präsidentschaftskandidaten dieses Namens, Julija und Juri. Letzterer spielte im öffentlichen Leben seines Landes zu keiner Zeit irgendeine Rolle, er betreibt auch keinen Wahlkampf. Juri wurde vom Poroschenko-Lager ins Rennen geschickt, damit Wähler irrtümlich bei ihm und nicht bei Julija ihr Kreuz machen. Die Anhänger der Politikerin sind häufig älter bis betagt. Und der Wahlschein mit den 39 Kandidaten ist immerhin 83 cm lang. Vielleicht irren sich ja einige tausend Wähler? In einem knappen Rennen um Platz zwei - der für die Stichwahl am 21. April qualifiziert - könnte das entscheidend sein.

Am 6. März verhaftet der Geheimdienst mehrere Personen, vermutlich aus Timoschenkos Team. Also dem von Julija. Die Beschuldigten hatten versucht, Juri mit der Zahlung von umgerechnet gut 160.000 Euro davon zu überzeugen, seine Bewerbung zurückzuziehen. Was dieser aber nicht beabsichtigt.

Der Überraschungskandidat

Das Fernsehen ist für 85% der Ukrainer die wichtigste Informationsquelle. Die bedeutendsten Sender sind in Hand von Oligarchen. Bei den zentralen Onlinemedien ist das Bild pluraler, aber nicht grundsätzlich anders. Die verschiedenen Fernsehkanäle protegieren im Wahlkampf durchaus unterschiedliche Kandidaten, die Eigner haben schließlich divergierende Interessen. Alle großen Fernsehsender zeigen den amtierenden Präsidenten jedoch in einem günstigen Licht. Sie wollen es sich mit dem mächtigsten Oligarchen nicht verderben. Immerhin könnte er es bleiben.

Es gibt eine Ausnahme von dieser Regel, den zweitwichtigsten Sender "1+1". Kolomoyskyis Station kritisiert Poroschenko und berichtet zudem ausschließlich positiv über Selenskyi. Dies schürt den Verdacht, dass der Kandidat ein Werkzeug des Oligarchen ist. Oder will Kolomyskyi einfach nur seinem Feind Poroschenko Schaden zufügen? Zudem aber ist die Herkunft der Wahlkampfgelder Selenskyis unklar. Aber auch die anderen führenden Kandidaten geben weit mehr aus, als sie offiziell zur Verfügung haben.

Sowohl Selenskyi als auch der Oligarch bestreiten politische Absprachen. Kolomoyskyi erklärt bspw. am 23. März, ein Mann mit einem niedrigen IQ und geringerer Gelehrsamkeit (womit er sich selbst meinte …) könne einen intelligenteren und begabten (also Selenskyi!) nicht beeinflussen.

Diese doppelbödigen und ironischen Äußerungen sind typisch für Kolomyoskyi, der zweifellos schlitzohrigen Humor besitzt. Der Oligarch besitzt neben der ukrainischen auch noch die Staatsangehörigkeiten Zyperns und Israels. Darauf angesprochen antwortete er: "Die Verfassung untersagt eine doppelte Staatsangehörigkeit, aber keine dreifache." Es versteht sich von selbst, dass der Gesetzesbruch auch in diesem Fall keine Konsequenzen nach sich zog.

Am 27. März startete die dritte Staffel der 2015 angelaufenen Reihe "Diener des Volkes" auf 1+1 mit Schauspieler Wolodymyr Selenskyj in der Hauptrolle. Der Inhalt: Der Diener des Volkes kämpft gegen einen Dunkelmann und eine Dunkelfrau, die Poroschenko und Timoschenko ähneln, also Julija …

Wahlprogramme

Poroschenko ist nervös. Seine beiden Hauptkonkurrenten haben angekündigt, ihn strafrechtlich zu belangen, seine Wiederwahl ist sehr fraglich. Dies ist wohl der Hintergrund einer Enthüllung des ukrainischen Generalstaatsanwalts sowie seines aufsehenerregenden Vorwurfs an die US-Botschafterin: Sie habe ihm eine Liste mit Namen von Individuen gegeben, die nicht angerührt werden sollten (Soll nach Russiagate nun Ukrainegate folgen?).

Poroschenko will sich entweder lieb Kind bei Trump machen, denn die US-Diplomatin, deren Abberufung ohnedies bevorsteht, lässt an ihrer Verachtung der amerikanischen Administration keine Zweifel aufkommen. Oder die Botschaft des noch amtierenden ukrainischen Präsidenten lautet: Ich bin bereit und in der Lage mit Dreck zurückzuwerfen. Ich könnte die USA durchaus ernsthaft in Verlegenheit stürzen. Oder sind Poroschenko einfach die Nerven durchgegangen?

Alle drei Prätendenten sind ihrer Wahlkampflinie vom Jahreswechsel treu geblieben. Poroschenko stellt sich als Verfechter der Ukrainisierung und notwendiger Garant der Unabhängigkeit des Landes von Russland dar.

Am 17. März sagte er auf einer Wahlkampfveranstaltung: "Es ist Ziel dieser Wahlen, unsere wirkliche Unabhängigkeit von Russland zu wahren." Hierzu sei nur ein kleiner Schritt erforderlich, seine Wiederwahl. Die Ukraine "ist der EU- und NATO-Mitgliedschaft so nahe wie nie". Am Ende seiner zweiten Amtszeit werde sie kurz bevorstehen. Die Krim und der Donbas sollten politisch und diplomatisch wiedergewonnen werden, nicht gewaltsam. Aber "der Weg zum Frieden liegt in einer weiteren Stärkung der Armee". Hierfür versprach er, mit Beginn seiner neuen Amtszeit ein Programm für Militärraketen aufzulegen.

Timoschenkos Zielgruppe sind v.a. die Armen. Der Durchschnittslohn ist rund 20% niedriger als 2013. Ihr Wahlkampf wendet sich gegen die Politik des IWF, der u.a. eine deutliche Erhöhung der sehr niedrigen Energiepreise gefordert hatte. Die Entgelte für Gas wurden in den letzten Jahren um 800% erhöht. Und sie verspricht, gegen die Oligarchen vorzugehen.

Selenskyi wendet sich als einziger der Spitzenkandidaten gegen die Ukrainisierung. Er kündigt eine verschärfte Anti-Korruptionsgesetzgebung an, hält sich inhaltlich aber stärker zurück als die Konkurrenz. Sein Wahlkampf war eher unpolitisch, bestand meist aus Konzerten oder Comedy Shows. Negativ ausgedrückt: So können verschiedene Wählergruppen das in ihn hinein interpretieren, was sie sehen wollen. Positiv gesagt: Er heizt die in der Ukraine ohnedies wallenden Gefühle nicht noch weiter auf. Strebt er "versöhnen, statt spalten" an. Oder ist er das Trojanische Pferd Kolomoyskyis, ob aus Naivität oder Berechnung?

Die letzten Umfragen

Alle sehen Selenskyi weiterhin an führender Position. Ob jedoch Poroschenko an zweiter Stelle liegt oder sich mit Timoschenko ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefert ist umstritten.

Es gibt ernsthafte Zweifel, ob Selenskyi am 31. März einen so hohen Prozentsatz der Wähler gewinnt, wie die Umfragen voraussagen: Die Neigung, seine Stimme bei Wahlen tatsächlich abzugeben, ist bei den Anhängern der beiden Hauptkonkurrenten deutlich höher. Selenskyis Anhängerschaft konzentriert sich im Osten und Süden des Landes, wo Millionen Menschen den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 2014 ferngeblieben sind. Werden sie dieses Mal den Eindruck haben, einen wählbaren Kandidaten auf den Wahlschein zu finden?

Selenskyi verfügt zudem weder über Timoschenkos Parteibasis, noch über Poroschenkos administrative Ressourcen. Seine Wahlkampfbüros befinden sich lediglich in den großen Städten, er ist in der Weite des Landes praktisch nicht präsent. Seine Mitarbeiter sind politisch unerfahren. Außerdem gehören seine Anhänger überproportional jüngeren Jahrgängen an. Und bei denen liegt die Wahlbeteiligung auch in der Ukraine deutlich unter derjenigen Älterer. Werden die Jungen dieses Mal ihr Kreuzchen machen?

Zu guter Letzt: Selesnkyis neue Partei "Diener des Volkes" ist nur in einem Drittel der regionalen Wahlkommissionen präsent.

Indizien für Verfälschung des Wählerwillens

Die zentrale Wahlkommission besteht in ihrer großen Mehrheit aus Gefolgsleuten Poroschenkos. Vertreter des "russlandfreundlichen" "Oppositionsblocks" gehören ihr gar nicht an, obwohl dieser rund ein Achtel der Wähler repräsentiert.

Der mächtige Innenminister sowie die starke Partei Timoschenkos werden Verfälschungen des Wählerwillens entgegentreten, zumindest Unregelmäßigkeiten zugunsten Poroschenkos. Andererseits: Timoschenkos Partei konnte nicht einmal verhindern, dass "Juri" zur Wahl zugelassen wurde, um "Julija" Stimmen wegzunehmen.

Das stärkste Indiz für anstehende Manipulationen ist: Die Zentrale Wahlkommission hat erklärt, die Zahl der Wahlberechtigten liege lediglich um 80.000 niedriger als 2010. Wie das? Die Bevölkerungszahl ist doch stark gefallen. Das legt den Verdacht nahe: Verstorbene oder Fortgezogene nutzen, um in deren Namen Wahlscheine mit dem Kreuz an der richtigen Stelle einzuwerfen? Da scheinen die "Toten Seelen" zu grüßen. Nikolai Gogol kam aus der Ukraine.

Ukrainer, die im Ausland leben, können weltweit in den Botschaften und Konsulaten ihre Stimme abgeben. Außer in Russland. So fallen schon mal bis zu drei Millionen Stimmen weg.

Die Kiewer Zentrale Wahlkommission lehnte auch die Forderung der OSZE-Wahlbeobachtungsmission ab, bei den Wahlen 24 Bürger Russlands als internationale Wahlbeobachter zuzulassen. Immerhin Österreich hat dies offiziell kritisiert. Zuvor hatte die Ukraine einem österreichischen Reporter des ORF die Einreise verweigert. Er hatte die Politik Kiews kritisiert.

Poroschenko dürfte auf eine sehr niedrige Wahlbeteiligung hoffen. Zum einen erleichtert dies Manipulationen. Zum anderen erhöht es seinen Prozentsatz bei der Abstimmung, denn seine Anhänger könnten stärker motiviert zur Wahl zu gehen als die anderer Kandidaten: Das Vaterland ist in Gefahr! Poroschenko muss sich Sorgen um das Wetter machen: Bei Schneeregen blieben vielleicht Viele daheim, der Wetterbericht sagt für den Wahlsonntag aber Sonnenschein und Temperaturen bis zu 15 Grad vorher.

Brenzlig wird es, falls Poroschenko bei dem von der Zentralen Wahlkommission abgesegneten Wahlergebnis knapp vor Timoschenko liegen sollte. In diesem Fall wird sie ihre Anhänger zu Demonstrationen aufrufen, insbesondere wenn sie auf den dritten Platz verwiesen wird, weil "Juri" ihr zu viele Stimmen weggenommen hat.

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