Die Ukraine - das vergessene Opfer der Corona-Krise

Sitzung am Freitag im ukrainischen Parlament. Bild: Pressedienst der Werchowna Rada

Atemschutzmasken sollen aus China kommen. Hunderttausende ukrainische Arbeitsmigranten wurden entlassen und mussten in die Heimat. Ukrainischer Corona-Hotspot liegt im Westen des Landes

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In der Westukraine müssen die Angehörigen der Menschen, die am Corona-Virus sterben, selbst sehen, wie sie ihre Verstorbenen unter die Erde bekommen. Alle haben Angst, den Toten näher zu kommen, berichtete dem ukrainischen Internet-Portal Strana.ua eine Mitarbeiterin der Gebietsverwaltung von Ternopil. Eigentlich müsste man die Gräber mit Chlor bestreuen. Und am besten wäre, wenn Soldaten die Toten verbrennen. Doch niemand kümmere sich darum.

Olga Tutowa, eine Einwohnerin des im Ternopil-Gebiet gelegenen Rayons Monastirski, berichtet Strana. ua, von der Übergabe ihres Vaters durch das örtliche Krankenhaus.

"Man hat ihn uns in einem schwarzen Paket übergeben. Papa war schwer, man konnte ihn nicht allein hochheben. Mein Ehemann zog das Paket über die Erde. Dabei riss es auf. Der Leichnam fiel heraus. Das war schrecklich. Niemand half ihn, in das Grab zu legen. Niemand wollte das Grab ausheben."

Olgas Mann, der Bürgermeister der Kleinstadt Monastirska und dessen Stellvertreter legten den Leichnam gemeinsam in das Grab. Drei Tage nach der Beerdigung stellte sich heraus, dass Olga und zwei Enkel sich infiziert hatten. Alle drei befinden sich im Infektionskrankenhaus des Gebiets Ternopil. Auch der Bürgermeister von Monastirska hat sich infiziert.

Eine Kleinstadt mit 30 infizierten Ärzten und Krankenschwestern

Die großen deutschen Medien haben von überall aus der Welt über die Corona-Krise berichtet. Welche Auswirkungen die Corona-Krise auf die Ukraine hat, darüber erfährt man aus deutschen Medien fast nichts.

Da ist zum Beispiel der Monastirski-Rayon. Wäre das nicht ein Thema für die ARD? Das ukrainische Internet-Portal Strana.ua nennt den Rayon das "Wuhan der Ukraine". In dem Gebiet mit seinen 26.000 Einwohnern sind 133 Menschen infiziert, darunter allein 30 Mitarbeiter des örtlichen Krankenhauses. In den Krankenhäusern der Ukraine fehlt es an allem, an Masken, Schutzanzügen, Atemschutzgeräten und Tests.

Die Menschen in der Stadt Monastirska meinten, das Virus sei von den "Sarobitschani", den Arbeitsmigranten, eingeschleppt worden. "Fast niemand ist in Quarantäne gegangen", erklärte der Leiter des Rayon-Parlaments, Wladimir Daniljuk, gegenüber dem Internet-Portal.

Die Dunkelziffer der Infizierten dürfte um ein Vielfaches höher sein. In der Ukraine gibt es für Leute mit geringem Einkommen nur wenig Test-Möglichkeiten und viele haben auch Angst, ihre Infizierung anzuzeigen, weil sie negative Reaktionen der Nachbarn fürchten. Als im Februar aus China evakierte Ukrainer mit Bussen in ein Quarantäne-Sanatorium in das zentralukrainische Poltawa-Gebiet gebracht wurden, gab es Proteste von Anwohnern, welche die Busse mit Steinen bewarfen. Die Polizei musste einschreiten (Fotos).

NATO-Erste-Hilfe-Täschchen

Dass sich so viele Ärzte infiziert haben, hat auch damit zu tun, dass es in der Ukraine keine spezielle Struktur mehr gibt, die sich mit Epidemien befasst und Schutzmaterial vorrätig hält. Der Epidemiologische Dienst der Ukraine wurde 2017 von der damaligen Gesundheitsministerin Uljana Suprun geschlossen. Wegen der von ihr angeordneten radikalen Kürzungen im Gesundheitsbereich wurde sie in der Ukraine auch "Doktor des Todes" genannt.

Nach dem Machtantritt von Präsident Selenski musste Suprun ihr Ministeramt aufgeben. Der vormalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte der US-Amerikanerin 2015 die ukrainische Staatsbürgerschaft verliehen und unterstützte 2016 ihre Ernennung zur Gesundheitsministerin.

Die 57 Jahre alte Suprun wurde in einer ukrainischen Familie in Detroit geboren. Ihr Vater, George Jurkiw, war Aktionär der US-Rüstungsfirma "North American Controls" und war an der Entwicklung das Panzers M1 Abrams beteiligt. Uljana Suprun hat eine Ausbildung als Ärztin.

Sie siedelte im Herbst 2013 mit ihrem Mann in die Ukraine über und nahm an der Maidan-Bewegung teil. Später gründete sie die NGO "Patriotische Verteidigung" und sorgte dafür, dass alle ukrainischen Soldaten mit NATO-Erste-Hilfe-Täschchen ausgerüstet wurden.

Hotspots: Westukraine und Kiew

In der Ukraine gab es am 9. April 2020 1892 Corona-Infizierte. 57 Ukrainer sind an dem Virus gestorben. Die ukrainischen Gebiete mit einer überdurchschnittlichen Zahlen von Infizierten sind Kiew (300 Fälle) und die Westukraine, genauer gesagt die Bezirke Ternopil (169 Fälle), Tschernowzy (302 Fälle) und Iwano-Frankivsk (218 Fälle). Die Ein- und Ausreise aus den drei westukrainischen Bezirken wurde gestoppt. An den Straßen wurden Kontrollposten der Sicherheitskräfte eingerichtet.

Ein Großteil der Abgeordneten sitzt im Parlament mit hochwertigen Atemschutzmasken und Spezialbrillen. Von solcher Ausrüstung können die Ärzte in den kaputtgesparten ukrainischen Krankenhäusern nur träumen.

Besonders viele ukrainische Arbeitsmigranten stammen aus der Westukraine. Sie haben bisher in Polen, Italien, Deutschland und anderen Ländern auf dem Bau, als Kuriere oder bei der Post als Sortierer gearbeitet.

Petro Poroschenko hatte den Ukrainern 2014 versprochen, mit der EU-Assoziation könnten sie nun nach Wien "zum Kaffeetrinken" fahren. Doch die meisten Ukrainer fuhren in die EU, um sich dort als Tagelöhner auf Erdbeer- oder Spargelfeldern Geld zu verdienen. Denn in der Ukraine gibt es seit der 2014 einsetzenden Deindustrialisierung immer weniger Arbeitsplätze.

Im März begann die Rückkehr der ukrainischen Arbeitsmigranten aus der EU. Gründe für die Rückkehr waren Entlassungen und die drohende Schließung der ukrainischen Grenze. Allein zwischen dem 13. März und dem 1. April sind nach Angaben des ukrainischen Grenzschutzes 650.000 Ukrainer in ihre Heimat zurückgekehrt. Soviel steht fest: Mit der visafreien Einreise für Ukrainer in die EU wird es eine Pause geben. Was den Menschen in der Westukraine zur Sicherung ihrer Ernährung bleibt, sind ihre Gärten.

Die West-Ukraine ist landwirtschaftlich geprägt. Hier ist es sehr schwer, Arbeit zu finden. Viele Kinder und alte Leute lebten bisher von dem Geld, das die Eltern in der EU verdient haben. Die Region gilt als arm. Die Menschen klagen über stark steigende Preise.

Migranten überwiesen jährlich elf Milliarden Euro in die Ukraine

Am 3. März 2020 wurde der erste Fall einer Corona-Infizierung in der Ukraine festgestellt. Eine Woche später wurde in der Ukraine eine Quarantäne bis zum 3. April verhängt. Schulen wurden geschlossen und Versammlungen verboten. Mehrere Fluglinien zwischen der Ukraine und dem Ausland wurden eingestellt. Mitte März wurde die Grenze für Ausländer und Ende März für die Bürger aller Staaten geschlossen.

An der polnisch-ukrainischen Grenze bildeten sich Ende März kilometerlange Schlangen von ukrainischen Arbeitsmigranten, die in ihre Heimat zurückkehren wollten.

Jährlich elf Milliarden Euro schickten die ukrainischen Arbeitsmigranten im Jahr nach Hause. Das war für die verarmten Familien oft die einzige Möglichkeit zu überleben.

Atemmasken aus China

Die Ukraine ist das Land Europas mit dem radikalsten Antikommunismus. Doch das hinderte Präsident Wolodymir Selenski nicht, Masken und anderes medizinisches Material in China zu bestellen. Vor kurzem erklärte der Präsident, man erwarte sieben Flugzeuge aus China und Südkorea mit Schutzkleidung, Corona-Tests, Brillen und Atemschutzmasken. Finanziert wird der Ankauf der medizinischen Ausrüstung in China von der EU.

Nachdem in der Ukraine von nationalistischen Stoßtrupps alle Denkmäler geschleift und alle Gedenktafeln abgerissen wurden, die auch nur irgendwie an die Sowjetunion und deren der Gründer, Soldaten und Wissenschaftler erinnern, fragt man sich, wie glaubwürdig die ukrainische Führung ist, wenn sie ihre Bürger nun zwingt, kommunistische Atemmasken zu tragen.

Die Ukrainer werden - wie auch die Russen - am 19. April Ostern feiern. Es ist der wichtigste orthodoxe Feiertag im Jahr. Doch in die Kirchen dürfen am Oster-Feiertag wegen der Quarantäne nicht mehr als zehn Personen. Das werden vor allem Priester und technisches Personal sein, die den Live-Stream aus den Kirchen organisieren.

Es ist das erste Mal seit 30 Jahren, dass die Ukrainer zum Osterfest nicht in ihre Kirchen dürfen.

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