Die Variable x
Seite 3: Der philosophische Rockstar Decartes und die analytische Geometrie als Lösung des wissenschaftlichen Knotens
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- Diophantos: "Vater der Algebra"
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Es bedurfte eines philosophischen und mathematischen Rockstars um die algebraische Notation endlich zu verfestigen. Zu jener Zeit gab es verschiedene mathematische Kulturkreise, vor allem in Italien, Deutschland, Frankreich und England. Nur über den Einfluss von berühmten Mathematikern konnte sich eine gemeinsame Notation durchsetzen und in ganz Europa verbreiten. Es ist wieder ein Franzose, René Descartes, der uns von den Vokalen zu anderen Konsonanten und letztendlich zur Variablen x führen wird, sehr zum Verdruss der Engländer die in Thomas Harriot (1560-1621) den echten Nachfolger von Viète sehen. Harriot’s Werk "Artis Analyticae Praxis" erschien posthum, aber noch bevor Descartes seine Notation veröffentlicht hatte. Harriot verwendete auch Buchstaben als Vertreter für Zahlen, und Multiplikation wurde durch Aufeinanderreihen der Buchstaben dargestellt, aber da er keine Potenzen verwendete, schrieb er statt ad3 c3 umständliche Ausdrücke wie "adddccc".
Es ist immer wieder merkwürdig festzustellen, dass in der damaligen Zeit später berühmte Mathematiker am Anfang gar keine spezielle Ausbildung besaßen. François Viète war viele Jahre als Jurist und Politiker tätig, bis er sich in die Mathematik vertiefte. Pierre de Fermat war ebenfalls ein Jurist und hat nie etwas Mathematisches veröffentlicht, obwohl er uns das Fermatsche Prinzip (für die Optik), die Fermatsche Primzahlen und die Fermat-Vermutung (heute Satz) hinterlassen hat.
Descartes war nicht mal ein echter Advokat: Er stammte aus einer kleinadligen Familie und durchquerte Europa als Soldat, bis er 1619 Tycho Brahe kennenlernte und sich entschloss eine universelle Methode für die Erforschung der Wahrheit zu entwickeln. Ab 1620 beschäftigte er sich dann mit Philosophie und Mathematik und korrespondierte mit anderen Gelehrten Europas. Sein "Discours de la Methode" erschien 1637 und seine bahnbrechende "Geometrie" war nur ein Anhang des Hauptwerkes.
Descartes "Geometrie" liest sich endlich wie ein modernes algebraisches Buch. Einerseits verwendet er viel mehr moderne Symbole als Viète, andererseits führt er eine Notation mit Potenzen ein. So ist es nicht mehr notwendig über "A kubus" zu reden, man kann einfach A3 schreiben. Der Bezug aller Potenzen zur Unbekannten, z.B. in einem Polynom, wird damit unmittelbar anschaulich. Descartes hat aber die Benutzung der lateinischen Buchstaben "umgedreht". Für die Konstanten entschied er, die ersten Buchstaben des Alphabets zu verwenden, für die Variablen die letzten, also z.B. x, y und z. Auf diesem Umweg sind wir letztendlich zur "Variablen x" gelangt.
Descartes "Geometrie" ist auch deswegen bemerkenswert, weil er den wissenschaftlichen Knoten, die theoretische Spannung zwischen der Geometrisierung und Algebraisierung der Mathematik aufgehoben hat. Mit der Einführung der Analytischen Geometrie lassen sich geometrische Probleme in Gleichungen überführen und umgekehrt. Wir können dann den besten Ansatz für die Lösung verwenden. Mit der "Geometrie" haben Descartes und Vorläufer endlich das Erbe Alexandrias, die Werke von Euklid und Diophantos, vereint.
Nichts ist schlimmer im Leben, als wenn die Kirche mit dem Scheiterhaufen droht, aber nichts ist besser für den Ruhm in der Nachwelt. So war es bei Galileo der Fall und vielleicht teilweise auch bei Descartes. Dreizehn Jahre nach seinem Tod setzte der Vatikan seine Schriften auf dem "Index Librorum Prohibitorium", da er durch seinen Rationalismus Gott "keinen Platz gelassen" hatte.
Der Rest ist Wirkungsgeschichte. Die analytische Geometrie als Synthese von Geometrie und Algebra hat die weitere mathematische Forschung beschwingt und die Erfindung der Differential- und Integralrechnung war nicht mehr in weiter Ferne. Die Einführung der kartesischen Koordinaten, mit Achsen für x und y, hat die privilegierte Bedeutung von beiden lateinischen Buchstaben als Inbegriff des Unbekannten nur verstärkt. In einer statistischen Studie von 2009 der in Ingenieurtexten meist verwendeten mathematischen Identifikatoren bzw. Symbolen, nehmen x und y die ersten beiden Plätzen ein. Nur das Gleichheitssymbol und die (beiden) Klammern erscheinen häufiger als die Variable x.3
Nichts ist in der Mathematik nur reine Willkür, dahinter steckt meistens eine vertrackte Entwicklungsgeschichte. Unsere Reise zur Variablen x hat uns deswegen zu Alexandria und seine ereignisreiche Vergangenheit, zu Euklid und Diophantos, zu den italienischen "cossistas" und letztendlich zu französischen Advokaten und Philosophen geführt, die die Welt verändert haben.
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