Die Variable x

Vom "Silicon Valley" der Antike zum Erfinder der analytischen Geometrie

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Werden wir darum gebeten, die Gleichung ax+b=0 zu lösen, überlegen wir kaum: sofort lösen wir für x, obwohl a bzw. b die gesuchte Unbekannte hätte sein können. Gewiss: Es hat sich in mathematischen Problemen eingebürgert, den Buchstaben x als die zu ermittelnde Größe einzusetzen. Aber wieso eigentlich? Woher stammt diese Konvention, die wir in der Schule automatisch von Generation zu Generation weitergeben? Um dies zu verstehen, müssen wir einen Ausflug in die Geschichte der Mathematik und zu einer sagenumwobenen Stadt unternehmen.

Unsere heutige Mathematik schöpft aus vielen Quellen: aus den astronomischen Beobachtungen der Babylonier, aus den geometrischen Kenntnissen der Ägypter, aber vor allem aus Untersuchungen der Griechen, die über die arabische Welt nach Europa zurück fanden. Die hellenistische Welt hinterließ nicht nur die philosophischen Abhandlungen eines Plato oder eines Aristoteles, sondern auch die mathematischen Resultate von Pythagoras oder Eratosthenes.

Während in der Antike auf dem europäischen Kontinent Athen die größte kulturelle Ausstrahlung besaß, spielte bei der Entfaltung der Mathematik und Astronomie eine andere Stadt am Mittelmeer eine ebenbürtige Rolle. Es war Alexandria, gelegen am Nildelta und von Alexander dem Großen selbst um das Jahr 331 v.u.Z. gegründet. Der Mazedonier hatte damals Ägypten erobert und die persischen Herrscher vertrieben. Er beförderte die Dynastie der Ptolemäer an die Macht, d.h. griechische Könige, die fortan bis zum Tod von Kleopatra über das Pharaonenreich regiert haben. Es war außerdem in Alexandria, vielleicht weniger als hundert Jahren nach der Gründung der Stadt, wo Euklid die 13 Bücher der "Elemente" verfasste, das erste Werk in dem die axiomatische Methode gründlich eingesetzt wurde.

Alexandria war so eine Art "Silicon Valley" der Antike. Die Stadt konnte eines der sieben Weltwunder aufweisen: Etwa 150 Meter in die Luft ragte der Pharos von Alexandria hoch. Über Jahrhunderte standen nur die Pyramiden von Gizeh noch höher. In der berühmten Bibliothek von Alexandria wurden alle wichtige Bücher (eigentlich Manuskriptrollen) des Altertums aufbewahrt und, wenn ein Schiff am Hafen anlegte, wurden alle mitgebrachten Handschriften sofort in der Bibliothek kopiert. Nebenan forschten Gelehrte im sogenannten Museion, welches die "erste Universität der Welt" genannt worden ist.

In der Bibliothek wurde z.B. das Alte Testament ins Griechische übersetzt und es wurden die ersten philologischen Studien unternommen. Alexandria war zu jener Zeit die größte und dynamischste Stadt der Antike, bis Rom ihr den Rang ablief. Es war in diesem Zusammenhang, dass Mathematik und Naturwissenschaften blühten. Theaterbühne der Weltgeschichte war Alexandria ebenfalls: Hier fand das dramatische Dreieck zwischen Cleopatra, Julius Cäsar und Marcus Antonius seinen Anfang und sein Ende, bevor Ägypten und der gesamte Mittlere Osten zu römischen Provinzen wurden. Ein so großes Drama ließ später Shakespeare nicht unbehandelt.

Geometrisierung der Mathematik

Euklids "Elemente" sind für die Geschichte der Mathematik so bedeutend, weil sie einen klaren systematischen Weg für die Lösung von etlichen numerischen Problemen aufzeigen, nämlich die axiomatische Geometrisierung. Statt numerische Probleme durch Gleichungen zu lösen, kann man eine äquivalente geometrische Aufgabe stellen. Die unbekannte Größe kann mit der Länge einer Strecke gleichgesetzt werden. Ihr Quadrat entspricht der Fläche eines Quadrats mit jener Strecke als Kante. Das Volumen eines Würfels mit derselben Kantenlänge entspricht der dritten Potenz der Unbekannten, usw.

Liest man die "Elemente", vor allem in modernen Ausgaben, die alles farbig darstellen, ist man von der "Modernität" der Prüfmethoden überrascht.1 Man kann nur darüber staunen, dass uns zwar mehr als 22 Jahrhunderte von Euklid trennen, dass wir aber heute viele geometrische Aufgaben genauso lösen, wie in den "Elementen" dargestellt.

Die Geometrisierung der Mathematik hat, trotz aller Erfolge, jedoch zu Sackgassen geführt. Manche Mathematiker z.B. erlaubten nicht, das Quadrat einer Zahl mit der Zahl zu addieren, da man eine Länge nicht mit einer Fläche vermischen "sollte" (falls man an Maßeinheiten denkt). Vor allem die negativen Zahlen bereiteten Kopfzerbrechen. Obwohl sie als Lösung von Gleichungen auftreten können, z.B. in x+4=2, reichte manchmal die Vorstellungskraft nicht aus, um solche Zahlen mit Segmenten bzw. mathematischen Objekten zu identifizieren. Übrigens sollte man nicht glauben, dass negative Zahlen nur in der Antike schwer zu handhaben waren. Bis nach der Renaissance wurden noch Arbeitsfibeln speziell über die Arbeit mit negativen Zahlen verkauft.

Diophantos: "Vater der Algebra"

Die Alternative zur Geometrisierung ist die sogenannte Algebraisierung: Man schreibt numerische Aufgaben direkt als symbolische Gleichungen - diese werden Schritt für Schritt reduziert, bis der Wert der unbekannten Größe vorliegt, so wie wir es heute in der Schule tun.

Algebra ist jedoch etwas, das etliche Jahrhunderte für seine Reifung benötigte. Im Grunde wurde die Algebraisierung der Mathematik erst im 19. Jahrhundert abgeschlossen. So lange dauerte es, bis der notwendige Symbolismus und vor allem die richtigen Begriffe vorlagen.

Ein Mathematiker im 12. Jahrhundert konnte sich beispielsweise auf kein allgemein anerkanntes Symbol für die Addition, die Multiplikation und nicht einmal für das Gleichheitszeichen stützen. Numerische Probleme wurden diskursiv aufgestellt und diskursiv gelöst. Liest man solche Bücher heute, ist man zunächst einmal verblüfft, kaum Symbole zu finden, nur Sätze und Sätze, in denen über die Unbekannte, bzw. dem Quadrat der Unbekannten usw. die Rede ist. Das ist, was man heute "rhetorische Algebra" nennt.

Abb. 1: Diophantos "Arithmetica" in der 1296 geschriebenen Handschrift. Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vaticanus graecus 191, ff. 388v. Bild: Public Domain

Es war allerdings auch in Alexandria, wo der erste Schritt zur symbolischen Algebra unternommen wurde. Diophantos war ein Gelehrter, der von vielen als "Vater der Algebra" bezeichnet worden ist. Das Wort "Algebra", mit seinen arabischen Wurzeln, gab es natürlich noch nicht. Von Euklid wissen wir wenig, von Diophantos jedoch weniger. In manchen Ecken ist vermutet worden, Euklid war eher eine Einheit von verbündeten Mathematikern, die gemeinsam unter einem Pseudonym publiziert haben, d.h. so etwas wie die Bourbaki-Gruppe im Frankreich des 20. Jahrhunderts. Zu umfangreich, gewaltig und endgültig wirkt das euklidische Werk um die Kreation eines Einzelnen zu sein.

Über Diophantos von Alexandria gibt es ebenfalls kaum bezeugte Überlieferungen. Es wird vermutet, er hat im 3. Jahrhundert unserer Zeit gelebt. Die ersten existierenden Berichte über ihn wurden allerdings Jahrhunderte nach seinem Tod verfasst. Unumstritten ist jedoch, dass er die nach den Elementen berühmteste mathematische Abhandlung verfasst hat, die "Arithmetik". Heute können wir die sechs erhaltenen Bücher (von ursprünglich 13) lesen, in Übersetzung und mit moderner Notation.2

Die "Arithmetik" von Diophantos war bahnbrechend allein durch die Schwierigkeit der gestellten numerischen Aufgaben. Im Werk werden nicht nur quadratische bzw. kubische Gleichungen mit zwei oder mehr Unbekannten gelöst, sondern völlig allgemeine Fragen aufgeworfen, wie z.B. die Möglichkeit, eine Summe von Quadraten auf eine andere Summe von Quadraten zu reduzieren.

Das Zweite, das ins Auge springt, ist die Tatsache, dass Diophantos bereits eine symbolische Notation für mathematische Ausdrücke verwendet. Das ist nicht mehr rein rhetorische Algebra, es ist eine hybride Zwischenform, die auf Englisch "syncopated algebra", also etwa "annotierte Algebra", genannt wird. Während aber das geometrische Wissen der Antike in den Folgejahren nicht vergessen wurde, geriet die Arbeit von Diophantos in die Versenkung, bis zuerst die Araber im 10. Jahrhundert und dann die Europäer im 15. Jahrhundert die "Arithmetik" würdigten.

In der Notation von Diophantos wurden die griechischen Buchstaben als Zahlen verwendet (Alpha war 1, Beta 2, usw.) und die Symbole ∆ϒ und Ky waren Vertreter für Quadrat bzw. Kubus der Unbekannten. Den Ausdruck Kϒ β∆ϒ γΜα könnte man heute beispielsweise als 2x3+3x2+1 interpretieren. Die Koeffizienten für die Variablen werden nach dem Quadrat bzw. den Kubus-Symbolen geschrieben. Der Buchstabe M kündigt eine Konstante an.

Da Diophantos kein Symbol für Gleichheit hatte und da nicht alles über symbolische Regeln entwickelt wurde, ist die "Arithmetik" ein Hybrid, ein Buch, das zum großen Teil reiner Text ist und in dem nur ab und zu symbolische Ausdrücke verwendet werden. Deswegen nennt man dies eben "annotierte Algebra". Wichtig in diesem Zusammenhang ist jedoch, dass Diophantos einen ausgezeichneten Buchstaben für die Unbekannte ("alogos aritmos") selbst verwendet hat, den Buchstaben Sigma, in der Variante, der am Ende von Wörtern verwendet wurde (sogenanntes Terminal-Sigma). Also noch nicht unser "x" aber so etwas wie ein "s".

Jahrhunderte sind nach Diophantos vergangen und es gab immer wieder die Notwendigkeit über die Unbekannte zu reden. Italienische Mathematiker haben einfach über "das Ding", d.h. "la cosa", gesprochen und Algebra wurde deswegen "arte cossista" genannt, die "Kunst der Dinge". Mathematiker, die Gleichungen lösen konnten, waren bis tief ins 16. Jahrhundert hinein "cossistas".

Es wurde langsam dringend, für die Unbekannte in Gleichungen eine Standardnotation zu verwenden. Es gab viele Zwischenstationen: Fibonacci z.B. hatte bereits Buchstaben verwendet um Zahlen zu repräsentieren, Michael Stifel hatte "q" als Abkürzung für Quantita verwendet, und bei einer Übersetzung von 1575 der "Arithmetik" von Diophantos wurde "N" statt Sigma verwendet. Viel methodischer war allerdings der zweite "Vater der Algebra", der im 16. Jahrhundert in Erscheinung trat.

Der französische Mathematiker François Viète hat mit seinem Werk von 1591 "Isagoge in artem analyticam" die Schraube der mathematischen Notation nochmal weiter gedreht. Er hat einerseits mathematische Symbole adoptiert, die bereits in Umlauf waren, und außerdem echte Gleichungen aufgestellt (Diophantos hatte, erinnern wir uns, kein Gleichheitssymbol). Und jetzt kommt‘s: Für die Werte von Konstanten hat Viète die lateinischen Konsonanten verwendet, während Variablen mit Vokalen repräsentiert wurden. Da Viète aber kein Potenzsymbol besaß, schrieb er "A cubum" oder "A quadratum", wenn er A3 bzw. A2 meinte.

Mit dieser Innovation, meinte Viète, könne er statt nur mit Zahlen (logistica numerosa) nun mit Symbolen operieren (logistica speciosa), was ja die Grundlage der Algebra ist. Liest man allerdings die "Isagoge" wird man das Werk nicht wirklich als sehr modern empfinden. Die Argumentation ist meistens rhetorisch und die Symbole erscheinen nur da, wo sie ab und zu benötigt werden, ohne lange symbolische Ketten von algebraischen Transformationen aufzustellen. Aber der Anfang war gemacht.

Der philosophische Rockstar Decartes und die analytische Geometrie als Lösung des wissenschaftlichen Knotens

Es bedurfte eines philosophischen und mathematischen Rockstars um die algebraische Notation endlich zu verfestigen. Zu jener Zeit gab es verschiedene mathematische Kulturkreise, vor allem in Italien, Deutschland, Frankreich und England. Nur über den Einfluss von berühmten Mathematikern konnte sich eine gemeinsame Notation durchsetzen und in ganz Europa verbreiten. Es ist wieder ein Franzose, René Descartes, der uns von den Vokalen zu anderen Konsonanten und letztendlich zur Variablen x führen wird, sehr zum Verdruss der Engländer die in Thomas Harriot (1560-1621) den echten Nachfolger von Viète sehen. Harriot’s Werk "Artis Analyticae Praxis" erschien posthum, aber noch bevor Descartes seine Notation veröffentlicht hatte. Harriot verwendete auch Buchstaben als Vertreter für Zahlen, und Multiplikation wurde durch Aufeinanderreihen der Buchstaben dargestellt, aber da er keine Potenzen verwendete, schrieb er statt ad3 c3 umständliche Ausdrücke wie "adddccc".

Es ist immer wieder merkwürdig festzustellen, dass in der damaligen Zeit später berühmte Mathematiker am Anfang gar keine spezielle Ausbildung besaßen. François Viète war viele Jahre als Jurist und Politiker tätig, bis er sich in die Mathematik vertiefte. Pierre de Fermat war ebenfalls ein Jurist und hat nie etwas Mathematisches veröffentlicht, obwohl er uns das Fermatsche Prinzip (für die Optik), die Fermatsche Primzahlen und die Fermat-Vermutung (heute Satz) hinterlassen hat.

Descartes war nicht mal ein echter Advokat: Er stammte aus einer kleinadligen Familie und durchquerte Europa als Soldat, bis er 1619 Tycho Brahe kennenlernte und sich entschloss eine universelle Methode für die Erforschung der Wahrheit zu entwickeln. Ab 1620 beschäftigte er sich dann mit Philosophie und Mathematik und korrespondierte mit anderen Gelehrten Europas. Sein "Discours de la Methode" erschien 1637 und seine bahnbrechende "Geometrie" war nur ein Anhang des Hauptwerkes.

Abb. 2: Erste Seite der "Geometrie"

Descartes "Geometrie" liest sich endlich wie ein modernes algebraisches Buch. Einerseits verwendet er viel mehr moderne Symbole als Viète, andererseits führt er eine Notation mit Potenzen ein. So ist es nicht mehr notwendig über "A kubus" zu reden, man kann einfach A3 schreiben. Der Bezug aller Potenzen zur Unbekannten, z.B. in einem Polynom, wird damit unmittelbar anschaulich. Descartes hat aber die Benutzung der lateinischen Buchstaben "umgedreht". Für die Konstanten entschied er, die ersten Buchstaben des Alphabets zu verwenden, für die Variablen die letzten, also z.B. x, y und z. Auf diesem Umweg sind wir letztendlich zur "Variablen x" gelangt.

Descartes "Geometrie" ist auch deswegen bemerkenswert, weil er den wissenschaftlichen Knoten, die theoretische Spannung zwischen der Geometrisierung und Algebraisierung der Mathematik aufgehoben hat. Mit der Einführung der Analytischen Geometrie lassen sich geometrische Probleme in Gleichungen überführen und umgekehrt. Wir können dann den besten Ansatz für die Lösung verwenden. Mit der "Geometrie" haben Descartes und Vorläufer endlich das Erbe Alexandrias, die Werke von Euklid und Diophantos, vereint.

Nichts ist schlimmer im Leben, als wenn die Kirche mit dem Scheiterhaufen droht, aber nichts ist besser für den Ruhm in der Nachwelt. So war es bei Galileo der Fall und vielleicht teilweise auch bei Descartes. Dreizehn Jahre nach seinem Tod setzte der Vatikan seine Schriften auf dem "Index Librorum Prohibitorium", da er durch seinen Rationalismus Gott "keinen Platz gelassen" hatte.

Der Rest ist Wirkungsgeschichte. Die analytische Geometrie als Synthese von Geometrie und Algebra hat die weitere mathematische Forschung beschwingt und die Erfindung der Differential- und Integralrechnung war nicht mehr in weiter Ferne. Die Einführung der kartesischen Koordinaten, mit Achsen für x und y, hat die privilegierte Bedeutung von beiden lateinischen Buchstaben als Inbegriff des Unbekannten nur verstärkt. In einer statistischen Studie von 2009 der in Ingenieurtexten meist verwendeten mathematischen Identifikatoren bzw. Symbolen, nehmen x und y die ersten beiden Plätzen ein. Nur das Gleichheitssymbol und die (beiden) Klammern erscheinen häufiger als die Variable x.3

Nichts ist in der Mathematik nur reine Willkür, dahinter steckt meistens eine vertrackte Entwicklungsgeschichte. Unsere Reise zur Variablen x hat uns deswegen zu Alexandria und seine ereignisreiche Vergangenheit, zu Euklid und Diophantos, zu den italienischen "cossistas" und letztendlich zu französischen Advokaten und Philosophen geführt, die die Welt verändert haben.

Abb. 3: Frequenz von mathematischen Symbolen in ausgewählten englischen Ingenieurtexten (je eine Million Identifikatoren bzw. Zeichen). Das Gleichheitssymbol entspricht z.B. 5,8% aller mathematischen Operatoren. Die Variable x wird als Identifikator 4,97% der Zeit verwendet (Watt 2009).

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