Die Verdichtung der Landschaft

Parkroyal on Pickering Hotel von WOHA in Singapur. Bild: Erwin Soo / CC-BY-2.0

Zwei Architekten aus Singapur hauchen Gartenstädten neue Dimensionen ein

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"Die Städte sollen ihr eigenes Land umarmen", forderte der Landschaftsarchitekt Leberecht Migge am Ende des Ersten Weltkriegs, als es schon zu spät war. Er verfocht die Kreislaufwirtschaft, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts aufgebaut worden war. Im "Radialsystem" wurden die Abwässer auf Rieselfelder vor der Stadt gepumpt, und im Austausch kamen Stickstoff-liebende Gemüsesorten zu den Städtern zurück. Ende des 20. Jahrhundert hatten die Städte das Umland zerfressen und versiegelt. Nichts kam mehr außer arbeitslosen Menschen. Ihnen war auf dem Land die Lebensgrundlage entzogen worden. Der Prozess der Verstädterung ist heftiger denn je im Gange, ob in wohlhabenden oder in Schwellenländern. Zwei Architekten aus Singapur drehen den Spieß um. Sie holen die Landschaft in die Stadt.

Vertical Stacked City (Modell), für Shenzhen, China. Bild: Patrick Bingham-Hall / WOHA

Nur 2% der Erdoberfläche sind urbanisiert. Aber diese 2% verbrauchen 80% der Energie. Auch die asiatischen Städte explodieren bis zur Dysfunktionalität. Sie entziehen sich selbst ihre Versorgungsgrundlage. In Mumbai lebt von 25 Mio Einwohnern die Hälfte in Slums. Will heißen: Auf einen km2 kommen 300.000 Menschen. Die Dichte verschärft die Platznot. Das wilde Wachstum in die Fläche setzt die Planer schachmatt. Die Massen, die in die Städte strömen, segregieren sich in neuen Milieus, die voneinander abgekapselt sind bis zu gegenseitiger Gewalt.

Die Landflucht hat in Südostasien einen historischen Ausgangspunkt. Verlassen wurden die "Kampongs", kleine Dorfgemeinschaften mit aufgeständerten Häusern in Holzkonstruktion. Große Dachüberstände und Bäume spendeten Schatten, und die Bauweise war luftig. Diesen Archetypus griffen Richard Hassell und Wong Mun Somm auf, als sie 1994 ihr Büro WOHA gründeten und mit Urlaubsdomizilen anfingen. Und sie bauten das Modell aus, als sie ab der Jahrtausendwende in den Kernstädten in die Höhe gingen.

Links: Kunstschule (für 13-18jährige) in Singapur Die Gebäudeteile sind als "Windmaschine" zur Kanalisierung der natürlichen Luftströme kalibriert. Bild: Patrick Bingham-Hall; Rechts: "The Met" in Bangkok / Thailand. Bild: Jeremy Winterson / CC-BY-2.0

Sie nehmen die Idee der Kampongs als Bausteine für Hochhäuser, indem sie die neuen alten Dorfgemeinschaften übereinander stapeln und die Bauten aufreißen, um sie neu zu falten. Die Landschaft wird ins Haus geholt, und das Haus wird zu einer organischen Stadt, noch einmal gegliedert zu Nachbarschaften. Eine Forderung, die der deutsche Landschaftsarchitekt Walter Rossow bereits 1959 aufgestellt hatte, wird hier - mit einer kleinen Abwandlung - lebendig: Landschaft wird zum Gesetz der Stadtentwicklung. Die Belüftung der von WOHA entworfenen Häuser und Wohnungen kommt ohne Maschinen aus. Dagegen wirkt das Konzept einer Smart City, welche die Lebensfunktionen in der isolierten Wohnung zu Schaltkreisverlängerungen von elektronischen Taschenspielertricks macht, schon vorsintflutlich.

Die Verdichtung der Landschaft (9 Bilder)

"The Grove" in Guangzhou / China. Die Sky Gardens sind hier in weit auskragende Balkons eingebettet. Bild: Patrick Bingham-Hall

Das zweidimensionale Grid, das Grundraster, auf welchem Hochhausstädte wie New York errichtet sind, hat die Konsequenz, gleichförmige Stockwerke scheinbar endlos übereinander zu packen. Ein Zusammenhang ist allenfalls technisch, etwa durch Fahrstühle, hergestellt. In den Hochhäusern von WOHA werden hingegen die inkorporierten Landschaften zum Medium von Gemeinschaft verdichtet. In dicht aneinander gerückte Wohntürme oder Riegel sind Zwischendecks eingezogen, Grundebenen der Vergemeinschaftung (Multiple Ground Levels), die sich in mehreren Intervallen in der Höhe wiederholen und die Türme verbinden können. Die Kampongs entstehen im Hochhaus-Urbanismus aufs Neue, in der dritten Dimension.

In einem der Beispiele sind es 80 Wohneinheiten, die zu vertikalen Dorfgemeinschaften auf Basis solcher multiplen Grundebenen zusammengefasst sind. Sie heißen nun Sky Villages. Die Vernetzung oder Infrastruktur dieser Himmelsdörfer wird horizontal durch ein abgestuftes und in vielen Projekten variiertes System aus Sky Gardens, Sky Parks und Sky Streets hergestellt. Es ist eine grüne Infrastruktur, welche den öffentlichen Raum dieser Häuser bildet. Die Nachhaltigkeit der Architektur bietet den Anreiz zur Bildung des Gemeinschaftslebens.

Mikro Makro, ein Prinzip mit Variationen

In Anlehnung an die Kampongs entwirft WOHA "atmende Häuser". Die Wände sind auf Höhe der öffentlichen Räume perforiert, oder Höfe werden ausgebildet in der Anordnung mehrerer Hochhäuser zueinander. Die Luftzirkulation wird von Anfang an gezielt berechnet. Die inneren Landschaften sind nach außen hin offen, und sofern die Bauten von Parks umgeben sind, gehen diese fließend ins Gebäude über. Die Sky Gardens bilden sowohl Innen- als auch Außenräume. Die Landschaft wird zum Raumkontinuum. Von den Swimming Pools aus eröffnen sich - beim Schwimmen - reizvolle Perspektiven auf das Weichbild der Stadt.

"Skyville @ Dawson" in Singapur, 2016 fertiggestellt. Bilder: Patrick Bingham-Hall

Durch die dreidimensional gewordenen Kampongs sind die gemeinschaftlichen Funktionen in das Hochhaus oder den Häuser-Komplex integriert. Hassell und Wong Mun Somm legen es darauf an, die wichtigsten Lebensfunktionen bis hin zu Urban Farming (auf den Sky Gardens), aber auch Erholung und Konsum in und an einem Hochhaus-Komplex unterzubringen. Das Hochhaus wird zur Stadt in der Stadt. Sie nennen es Makro-Architektur, die in den Mikro-Urbanismus der (künftigen) Selbstversorger-Stadt übergeht. Mikro und Makro, grünes Hochhaus und Stadt, schließen zueinander auf.

Was sich wie ein logisches Spielchen mit Maßstäblichkeiten anhört, weist doch einen Ausweg aus der fundamentalen Malaise des Städtebaus: Erstickende Megastädte abzureißen und neu aufzubauen ist nicht möglich, wohl aber grüne "Skyville"-Architekturen. Sie werden zu Prototypen der Erneuerung der Stadt.

"The Met" in Bangkok verfügt auf 69 Geschossen über 370 Eigentumswohnungen. Sechs frei stehende Bauteile werden auf jeder fünften Etage durch "Sky Terraces" verkoppelt. Sie sind gemeinschaftlich nutzbar. Drei Multiple Ground Levels sind die Basis von Sky Villages. Auf den Balkons wachsen üppig blühende Frangipani-Bäume. Die versetzte Anordnung der Bauteile erleichtert die vertikale Belüftung des Komplexes, während die Apartments, da nach allen Seiten frei, quergelüftet werden. Das ausgefeilte System der natürlichen Belüftung durch "Breezeways" ist geradezu ein Markenzeichen von WOHA und steigert die Energie-Effizienz.

"Oasia Downtown" in Singapur, 2016 fertiggestellt. Bild: Patrick Bingham-Hall

Das "Skyville at Dawson" in Singapur umfasst 960 Wohneinheiten in zwölf "Breezeway Towers" à 47 Geschossen. Jeweils sechs der Türme sind in stumpfen Winkeln zueinander angeordnet, die übrigen spiegelbildlich dazu. Sie sind durch "Sky Bridges" miteinander verbunden, innerlich und äußerlich. Auf Multiple Ground Levels sind je vier Sky Villages übereinander gestapelt, öffentliche Terrassen und Gärten - kurz: Dorfanger - inbegriffen. Dort ist die Belüftung horizontal. Der Dachgarten ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Durch die begrünten Verbindungen ist auch die Kommunikation zwischen den Blöcken gegeben. Das stärkt den "Sense of connectivity". Im Sockelgeschoss befindet sich u.a. der "gemeinschaftliche Wohnraum".

Die Blaupause solcher "Gartenstadthäuser" ist die gleiche bei vielfältiger Variation. Der Akzent der Begrünung liegt bei "Skyville at Dawson" im Unterschied zu "The Met" auf Gemeinschaftsflächen, denn der Komplex wurde im geförderten Wohnungsbau errichtet. Der soziale Wohnungsbau, der in Deutschland gerade wieder erfunden wird, hat im Stadtstaat Singapur ungebrochene Tradition. Die Apartments haben flexible Grundrisse, woran sich die einheimischen Bewohner erst noch gewöhnen müssen.

Das "Oasia Downtown Hotel" schließlich lenkt die aufsteigenden Winde in den Kern des schlanken Solitärs, in offene Atrien. Das Innere ist ein nach außen geöffneter Raum. Die Atrien folgen wieder dem Prinzip von Multiple Ground Levels mit gegen- und übereinander versetzten Sky Gardens. Sie sind von Weinranken überzogen, die sich an der Fassade fortzusetzen scheinen.

Das Oasia Downtown ist als perforierter pelziger Turm beschrieben worden. Der luftige Bau wirkt wie eine in die Vertikale gestellte Pergola. Die Landschaft hat die Oberhand gewonnen. Das Gebäude wird zu einer Geländeform. Hassell und Wong Mun Somm nennen es "topografische Architektur". Bei anderen Bauwerken erreichen sie dies durch mannigfache Auskragungen, die dazu der Regulierung des Mikroklimas dienen. Beim Anblick eines weiteren von WOHA für Singapur entworfenen Hotels, des "Parkroyal on Pickering", drängte sich einem Rezensenten die Frage auf: "Ist es ein üppiger Garten, aus dem eher zufällig Gebäude wachsen?"1

Das Oasia Downtown, das bei gemischter Nutzung in diesem Jahr eröffnet worden ist, weist eine sensationelle "Green Plot Ratio" von 1110% auf. Diese Rate hat WOHA zu seinem wichtigstem Qualitätsmerkmal gemacht. Sie bezeichnet das Verhältnis der begrünten Partien der Geschosse zur Größe des Baugrundstücks. Die Green Plot Ratio wird in Analogie zur Geschossflächenzahl gebraucht. Die WOHA-Bauten übertreffen an Grünfläche meist die umliegenden Parks.

Follies im Verdichtungsgestrüpp

Da sich die mit Sky Gardens erschlossenen Freiräume über mehrere Etagen erstrecken können, liegt für WOHA die Inszenierung ganzer Fels-, Pflanzen und Wasserlandschaften nahe. Welcher Art, welcher Natur sollen diese Landschaften sein? Am häufigsten und sicher auch treffendsten werden die pflanzlichen Arrangements, die sich an die baulichen Elemente anschmiegen, als "Garten-Follies" bezeichnet. Das sind exzentrische Narreteien, kulissenhafte Scheinarchitekturen wie künstliche Ruinen und Grotten, die zur Romantisierung englischer Landschaftsparks beigetragen hatten. Die kontinentaleuropäische Moderne machte mit jenen Romantizismen Schluss. Die Landschaftsarchitektur entwickelte im 20. Jahrhundert neue nüchterne Gartenformen auf der Grundlage strenger Systematisierungen wie französisch = barock und englisch = landschaftlich.

"Parkroyal on Pickering" Hotel in Singapur. Bild: Erwin Soo / CC-BY-2.0

"Follies" dürften noch heute bei der Landschaftsarchitektur-Zunft in Europa ein latentes Unbehagen auslösen, und vielleicht steckt hierin ein unausgesprochener Vorwurf an WOHA. Ihre Garten-Follies lassen sich keiner Stilrichtung zuordnen, sind höchst artifiziell, obwohl doch die Rückkehr zur Natur, zu einer einfachen, selbstgenügsamen Lebensweise postuliert wird. Hier lauert Illusionismus. Gerät trotz aller positiven Kennziffern und Messwerte diese Ökologie zu einer architektonischen Geste, zur Attitüde?

Auf der anderen Seite beziehen sich Hassell und Wong Mun Soom bewusst auf die europäische Moderne, indem sie die Gartenstadt-Idee neu beleben. Im heutigen Europa ist diese Idee zum bloßen Marketing-Gag für Neubaublocks und -viertel verkommen, in denen gerade die Grünanlagen zum Bestandteil von Gated communities werden, zu Bannmeilen gleichsam. In den Gartenstädten der Wende zum 20. Jahrhundert war das Grün hingegen die Klammer der privaten, halböffentlichen und öffentlichen Bereiche. Es hatte den wesentlichen Anteil an der Vergemeinschaftung der Menschen in Licht, Luft und Sonne.

Sind die "tropischen Gemeinschaften", die WOHA entwirft, auf Europa übertragbar? Sie können zumindest in unsere Breitengrade "übersetzt" werden. Bescheidene Ansätze gibt es. Das bekannteste Beispiel eines bioklimatischen Hochhauses ist der "Bosco Verticale" in Mailand. Dem Architekten, Stefano Boeri, schwebt ähnlich wie WOHA vor, dieses Modell sukzessive auf die ganze Stadt auszudehnen, die zu einem lichten Wald würde.

"Permeable Lattice City". Aus dem grünen durchlässigen Haus wird in diesem Vorschlag eine Stadt für 100.000 Einwohner. Bild/Rendering: WOHA

Als Hassell und Wong Mun Somm letzten Monat ihre Projekte2 in Berlin vorstellten, fragte sie der moderierende Architekt Matthias Sauerbruch konkret nach der Akzeptanz der gemeinschaftlichen Grünflächen und Räume. Wer verweilt wo wie lange? Er verwies auf europäische Fälle, wo es mit der Sozialisierung von Nachbarschaften nicht geklappt hatte, so bei den "Robin Hood Gardens" im London der 70er Jahre.

Es wird auf die Art der Anreize ankommen, und diese sollten die Mentalität der jeweiligen Bevölkerungsgruppen berücksichtigen, aus denen sich die Nutzer rekrutieren. Die psychologische Frage, welche sozialen Prädispositionen die Klientel mitbringt, geht demnach auch die Architekten an, die "Commons", Gemeindeland, in ihre Objekte einbauen.

Der mittelfristige Erfolg einer sozialen Emanzipation in den WOHA-Hochhäusern bleibt abzuwarten. Vorauseilende Bedenken aus europäischer Sicht wären jedoch Wasser auf die Mühlen der hiesigen Hochhaus-Entwickler, die das Schlagwort von der "Verdichtung" zur Drohkulisse aufbauen. Bei ihnen stehen die Rendite-Erwartungen pro Grundfläche im Vordergrund. Wie solche Häuser mit der Stadt interagieren, ist ihnen gleich.

Die beiden Singapurer Architekten möchten mit ihren grünen und durchlässigen Hochhäusern eine neue soziale Form schaffen unter Auswertung historischer Elemente. Diese ökologische Architektur gibt einen Impuls zur Befreiung der Megastädte aus der Zwangsläufigkeit von Explosion und sozialem Kollaps. Hassell und Wong Mun Somm stellen sich der Vernichtung von Freiraum und der zunehmenden Abschottung. Sie stellen sich sich dem Kampfbegriff der Verdichtung, indem sie ihn umdrehen. Die Verdichtung der Landschaft in der Vertikalität macht das Haus porös. In den Poren bildet sich Gemeinschaft. Diese Verdichtung ist eine Vergemeinschaftung.