Die Vermessung der Geschlechterwelt
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Mit dem Kinsey-Report kam vor 70 Jahren die Sexualität in der Gesellschaft an - Teil 1
"Bei den meisten Menschen werden die Zehen in der erotischen Erregung entweder eingerollt oder gestreckt. In vielen Fällen trennen sie sich voneinander, wobei die großen Zehen nach oben oder unten, die anderen Zehen in entgegengesetzter Richtung gespreizt werden."1
Heute wären komplizierte Spiegel-Installationen oder Selfie-Arrangements vonnöten, um sich beim Geschlechtsakt zu beobachten. Damals, so legt es einem die Vorstellung nahe, saß der Forscher zu Füßen des Versuchspärchens mit dem Skizzenblock und dem Zentimetermaß in der Hand. Damals, das war vor 70 Jahren, als der erste Band des Kinsey-Reports erschien: Das sexuelle Verhalten des Mannes. Die Frauen folgten fünf Jahre später.
Auch der Zweite Weltkrieg schloss mit einer Revolution ab. Waren die hoffnungsvollen proletarischen Erhebungen am Ende des ersten Krieges, die die Produktionsmittel in die Hände des "Neuen Menschen" der Tat legen sollten, nach wenigen Jahren gescheitert oder pervertiert, so stand bei der von Kinseys Report 1948 eingeleiteten sexuellen Revolution das Scheitern am Anfang. Die Menschen der westlichen Welt bekamen ihren Körper nicht in den Griff und den ihrer Partner auch nicht. Als Nachfolger von Kinsey ihr Tätigkeitsfeld um Sexualtherapien erweiterten, protokollierten sie beispielhaft das Geständnis eines Pärchens: "Wir wissen gar nicht, wie man es richtig macht." "Es" bei ausgeschaltetem Licht und nur teilweiser Entledigung der Bekleidung zu machen, war nicht unüblich.
Ebenso drückte sich die Wissenschaft vor dem Thema. Dabei geht es nicht einfach um Nichtwissen, sondern um das Abrutschen des Wissens unter die Ebene der Zivilisation und der Rationalität. Aus diesem Untergrund taucht die Sexualität um so monströser wieder auf. Der Vertreter der Rockefeller-Stiftung, die das Mammutprojekt förderte, schreibt eingangs: "Solange die Geschlechtlichkeit mit der heute üblichen Mischung aus Unwissenheit und Raffinesse, Unterdrückung und Aufreizung, Geheimhaltung und Zurschaustellung behandelt wird, wird sie stets mit einer Unanständigkeit in Verbindung gebracht werden, die intellektuelle Ehrlichkeit wie menschliche Würde ausschließen."
1937 waren Studenten der Indiana University an ihren Zoologie-Professor Alfred C. Kinsey herangetreten mit dem Wunsch, mehr über das humane Sexualverhalten zu erfahren. Die Fakultät richtete dann unter seiner Leitung Kurse ein, die so etwas wie Ehevorbereitung auf biologischer Grundlage sein sollten. Kinsey stellte fest, dass die Kenntnis physiologischer, anatomischer und sozialpsychologischer Aspekte der Sexualität ungefähr der Tiefe des Wissens über die Blutzirkulation um das Jahr 1600 entsprach. Kinsey selbst hatte, um einen anderen Vergleich zu wählen, entscheidenden Anteil daran, dass das Zeugungsverhalten der Gallwespen gründlicher erforscht war als das des Menschen. Denn Gallwespen und ihre Taxonomie wurden von Jugend an zu seiner Leidenschaft.
Von seinem Vater, einem strenggläubigen Methodisten, wurde er jedoch zu einem Ingenieursstudium bestimmt. Kinsey machte sich los, indem er nach Biologie wechselte. Schon als Kind streunte er, geboren 1894, am liebsten in der Natur herum. So kam er zu den Gallwespen, die er ziehen lassen musste, als er durch die akademischen Umstände in die Humanbiologie und deren sexuelle Terra incognita hineinrutschte.
Das Material für seine Kurse musste er selbst erarbeiten. Er bezog zunächst die Studenten ein, nahm deren Fallgeschichten auf, erweiterte die Fragen zu einem Interviewmuster und ging damit "ins Feld" außerhalb der Uni, zum Beispiel zu den Insassen des San-Quentin-Gefängnisses, aber immer auf Repräsentativität bedacht. Am Ende waren 5.300 Interviews mit Männern und 804 Seiten Buch zusammengekommen. Weibliche Befragte hinzugezählt, wurden es knapp 12.000 ausgewertete Interviews. Nach Kinseys Tod 1956 wurden am Institut für Sexualforschung die Fallstudien fortgeführt.