Die Vermessung des Himmels
Lifelogging - Teil 5
Ich fliege seit rund 30 Jahren und das am liebsten ohne Motor. Soweit mein persönlicher Hintergrund zu einem weiteren Aspekt von Lifelogging. Die Vermessung des Himmels ist eine ganz andere Perspektive auf die Folgen der digitalen Selbstvermessung. Auch wenn das Beispiel zunächst exotisch erscheint, macht es grundlegende Prinzipien und langfristige Folgen der digitalen Selbstvermessung deutlich.
Vor rund zehn Jahren konnte ich erstmals folgende Erlebnisse machen: Mit einem Flugschüler war ich auf einem Streckenflug unterwegs. Plötzlich fiel die gesamte Elektronik an Bord aus und wir waren für die Navigation auf "Holzmedien", d.h. unsere Papierkarten angewiesen. Genau das aber überforderte den Flugschüler, der bislang nur das digitale "Flugnavi" genutzt hatte, vollkommen.
Einen gut sichtbaren Stausee konnte er nicht nicht mit dem Kartenbild in Übereinstimmung bringen. Es gelang ihm nicht, festzustellen, wo wir uns befanden. Dieser Effekt ist auch aus anderen Anwendungsfeldern bekannt: Durch die intensive Nutzung von Technologien gehen ehemals vorhandene Kompetenzen verloren.
Der Online-Streckenflug-Contest
Bei der Vermessung des Himmels sind die Folgen aber noch gravierender. Mittels Flugweg-Trackern lässt sich die Bewegung im dreidimensionalen Raum nicht nur für navigatorische Aufgaben erfassen, sondern auch zum Leistungsvergleich nutzen. Rainer Rose initiierte mit dem OLC (Online Contest) in bester Absicht den "den weltweit führenden dezentralen online-Streckenflugwettbewerb für Drachen-, Gleitschirm- und Segelfliegen".
Mittlerweile nehmen weltweit zehntausende Flieger an diesem Dauer-Wettbewerb teil, der in Regional-, Vereins- und Individualkategorien beliebig viele Auswertungsmöglichkeiten bietet. Und so funktioniert es: Während des Fluges werden die Daten erfasst und nach der Landung auf die OLC-Plattform geladen. Ein Algorithmus errechnet auf der Basis des OLC-Regelwerkes für unterschiedliche Streckenführungstypen (Dreiecksflüge, Jo-Jo-Flüge etc.) und unter Einbezug von Flugzeugdaten (Indizes zur Auf- und Abwertung für leistungsschwächere/-stärkere Flugzeuge) eine Punktezahl, die "am Ende des Tages" die erflogene Leistung des Piloten "objektiv" repräsentieren soll.
Diese Punktezahl kann automatisch und mühelos verglichen werden. Die Piloten sehnen sich geradezu nach den dabei entstehenden wunderbaren Listen, anhand derer sie feststellen können, wie "gut" oder wie viel "besser" sie waren. Die Erfassungsgenauigkeit ist enorm. Jeder Flug wird vollkommen transparent, inklusive der Darstellung etwaiger Luftraumverletzungen. Facebook ist richtig lahm dagegen.
Zur Veranschaulichung soll ein beliebiger (und in OLC-Kategorien nicht besonders glorreicher) Flug dienen, den ich selbst noch aufzeichnete. Der gesamte Flug ist zunächst in der Kartenprojektion und als "Querschnitt", d.h. als Höhenbarogramm darstellbar (Abb. 1).
Die Flugdateninformation zeigt Einzelabschnitte, durchschnittliche Steigwerte, sowie die Kreisfluganteile im Verhältnis zu den geradeaus geflogenen Strecken (Abb 2).
Mit zusätzlichen Programmen lässt sich eine noch viel höhere Datenauflösung erzielen, dann lässt sich z.B. auch zwischen Rechts- und Linkskurven unterscheiden. Das alles kann recht lehrreich sein, um den eigenen Flugstil zu analysieren, zeigt aber auch gleich ein Folgeproblem. Denn wer aus den Zahlen lernen will, muss sich sehr genau mit ihnen befassen. Und das kostet Zeit.
Für viele Flieger ist diese Praxis jedoch inzwischen Alltag. Mittlerweile gibt es die erste "Generation" Segelflieger, die es gar nicht mehr anders kennt. Nach der sog. "Shifting Baselines"-Theorie lässt sich die Veränderung des Referenzrahmens der Segelflieger erklären. An einem ganz normalen Wochenende lässt sich ebendies praktisch beobachten: Wer fliegt, fliegt immer häufiger, um OLC-Punkte für sich oder seinen Verein zu sammeln.
Daten werden normativ
Und wieder zeigt sich, dass Daten eben niemals nur deskriptiv sind, sondern normativ werden. Sie erzeugen Erwartungen. Als ich mir nach einem Umzug einen neuen Verein suchte, lehnte man mich an einem Flugplatz ab, weil ich mich weigerte, regelmäßig am OLC-Wettbewerb teilzunehmen. Ein Vereinsmitglied, das abends nach der Landung seine Daten für die "Bundesliga" nicht abliefert, wurde als komplett wertlos betrachtet. Inzwischen gibt es so viele unterschiedliche Bewertungsmöglichkeiten, dass Piloten immer öfter bei strategischen Entscheidungen während des Fliegens überfordert werden.
Jede Entscheidung wirkt sich ja auf die spätere Berechnung der Punkte und damit des Listenplatzes aus. Echtzeitberechnungen im Cockpit schaffen Abhilfe. Sie machen es möglich, schon während des Fliegens genau zu überlegen, in welcher der möglichen Kategorien man am meisten punkten kann. Dies zeigt den Punkt, an dem sich Zwecke und Mittel ins Gegenteil verkehren.
Das Mittel - die OLC-Punkteerfassung und das spätere Ranking - wird zum eigentlichen Zweck und Ziel des Fluges. Damit treten andere, z.B. sinnliche, Aspekte immer weiter in den Hintergrund. Man fliegt nicht mehr, weil es schön ist, sondern um Punkte zu erzielen, um zu gewinnen. Zudem ändern sich die Sicherheitskultur und das Risikoverhalten derer, die mehr oder weniger hauptberuflich mit dem fliegenden Punktesammeln beschäftigt sind. Sicher wäre manche Entscheidung ohne das Schielen auf die zu erreichende Ziffer anders ausgefallen.
Neben die Entsinnlichung treten handfeste Gefährdungen durch punktesammelnde Luftrowdys auf. Wer seinen Flug noch in der Nachkommastelle optimieren will, weicht keinen Meter aus, wenn es nicht sein muss. "Schneller, höher, weiter" - die altbekannte Devise wird mittels Himmelslogging in eine völlig neue Dimension überführt.
Das "unternehmerische Selbst" (Ulrich Bröckling) ist auch im Himmel ruhelos damit beschäftigt, sich selbst zu managen, zu perfektionieren und von anderen abzuheben. Nicht umsonst schossen zeitgleich mit der Etablierung der Flugweglogger auch Publikationen und Seminare zum (Selbst-)Coaching von Freizeitpiloten aus dem Boden. Das Treiben am Himmel ist ein weiteres Beispiel für die Neoliberalisierung eines Ausschnitts der Lebenswelt. Mit der vielbesungenen "Freiheit" hat dieser Sport nur noch annähernd etwas zu tun.
Teil 6: Mythos Sicherheit zu Hause
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